Berlinale, Tag 7 und Ende.

Ich hatte den brühwarmen Insiderbericht von der angesagtesten Geheimparty versprochen, dann kam was dazwischen, aber jetzt reiche ich ihn nach, und damit endet denn auch mein diesjähriger Berlinale-Blog. Die Berlinale dauert zwar zehn Tage, aber nach dem siebten ist die Luft raus, zumindest bei mir, der Rest ist Schweigen, nächstes Jahr geht es weiter oder auch nicht.

Also: Veranstaltet wird die Party aller Partys von einem Schauspieler. Nennen wir ihn XY. Wer sich mit XY gut stellt, der erfährt im Lauf des Tages eine geheime Handynummer, die muß man anrufen, und da wird dann durchgesagt, wo die Party ist.

Ich kenne XY so mittelgut. Ich habe ihm geschrieben und gefragt, wann die Party ist. Er verriet mir den Termin. Danach kam nichts mehr. Vielleicht stehe ich nicht so gut mit XY. Keine Ahnung. Aber in mir ist der feierwütige 16jährige erwacht, der ich mit 16 nicht war, also organisiere ich mir über anderweitige Freunde die Info und erfahre: Direkt am Potsdamer Platz, ab 21:30 Uhr. Man soll sich spektakulär kleiden. Kein Problem, kriege ich hin: Ringelshirt, Anzug, irgendeine Krawatte, absurder Hut. Ich wohne nicht weit, also lasse ich die Jacke weg, schwinge mich einfach so aufs Rad und fahre gegen 22 Uhr rüber. Als ich ankomme, war ja klar: Schlange. Ziemlich lange Schlange. Sowas vermeide ich eigentlich. Wenn es nicht unbedingt sein muß, dann stelle ich mich nicht in Schlangen. Aber egal. Ich will auf die Party, also stelle ich mich nicht so an, sondern stelle mich hinten an.

Die Schlange ist aber nur im hinteren Teil schlangenförmig. Vorne ist sie ausgebeult wie eine Schlange, die gerade einen Elefanten verschlucken will, und zwar, weil sehr viele Leute erstmal vorn gucken, ob man vielleicht gleich reinkommt, wenn man jemanden kennt, der jemanden kennt. Kern der Menschentraube ist eine unscheinbare Tür, hinter der sich eine Aufzugtür befindet, und diese wird von drei oder vier Türstehern bewacht.

Ich stehe jetzt aber 30 Meter entfernt am hinteren Ende der Schlange. Die nächsten Ankömmlinge sind zwei mitteljunge Herren in teilweise femininen Klamotten. Man kommt ins Gespräch. Sie sind nett. Dann kommt ein Bekannter dazu und hat einen Bekannten dabei. Die sind auch nett.

Die Schlange bewegt sich ein bißchen. Leute in übelst verschärften Edelkleidern spazieren an uns vorbei, um das vordere Ende der Schlange zu besichtigen. Ich habe keinen Überblick, ob sie zurückkommen oder vorn reingelassen werden. Und dann passiert es: XY tritt höchstselbst leibhaftig auf die Bühne! Er hat ein Handy in der Hand. Er telefoniert. Er würdigt mich eines Seitenblickes. Ich fühle mich privilegiert. Er schaut wieder weg. Ich fühle mich nicht gesehen. Er lotst ein paar Leute, darunter prominente Gesichter, in die andere Richtung, um das Gebäude herum. Anscheinend gibt es da noch einen anderen Eingang.

Mittlerweile ist eine halbe Stunde vergangen. Einer von den mitteljungen Herren sponsort eine selbstgedrehte Zigarette. Rauchen verbindet. Ich unterhalte mich mit dem Bekannten des Bekannten. Er war auch auf der Filmhochschule, macht jetzt aber “immersiven” Film. Also: 360°-Rundum-Kino. Kann man beispielsweise in Planetarien zeigen. Oder in der Kuppel des Gebäudes, vor dem wir stehen, das wurde nämlich mal als Imax-Kino errichtet und hatte zwei verschiedene Leinwände, eine sehr große und eine extrem riesengroße, und eine dieser Leinwände konnte man mit einem spektakulären Mechanismus vor die andere fahren. Dann stellte sich aber heraus, dass nebenan im Sony Center ein zweites Imax-Kino eröffnet wurde, zwei Imax-Kinos waren offenbar zuviel für den Standort, also wurde dieses hier geschlossen und zum Spielort für die “Blue Man Group”. Dort stehen wiederum viele Musiker, die ich persönlich kenne und schätze, in Lohn und Brot. Blue Man Group also positiv konnotiert. Das andere Imax-Kino ist hingegen mittlerweile auch geschlossen und tot. Schon ein einziges Imax-Kino war anscheinend zuviel für den Standort, aber für diesen Standort ist ja offensichtlich alles zuviel. Man kann am Potsdamer Platz irgendwas machen, egal, nach einem Jahr steht es leer und scheitert kläglich vor sich hin. Sogar die vernichtenden Urteile über den Potsdamer Platz als gescheiterte Urbanitätsvision eines inhuman bescheuerten Kapitalismus, die zu jeder Berlinale wieder rausgeholt werden, scheitern irgendwie kläglich vor sich hin. Nur die Schlange, in der ich stehe, ist eisern stabil, die bewegt sich so wenig wie die Cum-Ex-Ermittlungen gegen unseren Bundeskanzler. Ich schwadroniere mit dem Bekannten des Bekannten darüber, dass 3D anders als Ton und Farbe nie fester Bestandteil des Kinos wurde, sondern immer nur als kurzlebiger Hype kam und wieder ging. XY ist zwischenzeitlich ein paar Mal vorbeigekommen, aber mir gelang keine weitere Kontaktaufnahme.

Zwischendurch denke ich kurz und mit leisem Bedauern an die andere angesagte Berlinale-Party, auf der ich dieses Jahr leider nicht war, nämlich die von den Lass-Brüdern im SO36. Keine Gästeliste, keine Geheimniskrämerei, man steht zwar auch Schlange, aber vor einer normalen Tür, nicht vor einem unregelmäßig verkehrenden Fahrstuhl, und dann zahlt man Eintritt und ist drin. Jaja, so kann man das auch machen, jaja, aber jetzt stehe ich hier, ich kann nicht anders.

Gerüchte werden von vorn durchgereicht: In den Aufzug passen nur fünf Leute, und er ist anscheinend sehr langsam. Dann läuft XY ein viertes oder siebtes Mal vorbei und geleitet Promis zum anderen Eingang. Diesmal hat er Tilda Swinton, Hanns Zischler, Lavinia Wilson, Wilson Gonzalez Ochsenknecht, Iris Berben, Hildegard Knef und Johannes Heesters im Schlepptau. Diese Liste ist bewußt falsch und irreführend. Ich winke, er ignoriert mich. Ich könnte aus der Schlange ausscheren und mich einfach an diese Truppe dranhängen, XY würde mich höchstwahrscheinlich nicht wegschubsen, aber mein Schlangesteh-Ethos verbietet das, ich verharre solidarisch in der Schicksalsgemeinschaft der Frierenden und trage weiterhin keine Jacke über meinem Dress-to-impress-Anzug. Die Uhr zeigt 70 Minuten seit Beginn der Steherei. Ich schnorre noch eine Zigarette und bleibe standhaft, während vor und hinter mir allmählich die Flucht ergriffen wird.

Nach neunzig Minuten ist die Schlange zusammengeschrumpft. Vor uns wurden jetzt so ziemlich alle reingelassen, hinter uns ist schon seit einiger Zeit niemand mehr dazugekommen oder alle wieder abgehauen, es sind vielleicht 50 Leute übrig, und allmählich macht sich Unmut bemerkbar. Die Türsteher regieren wie souveräne Feldherren, alle paar Minuten kommt der legendär langsame Aufzug, dann schleusen sie nach einem undurchschaubaren System irgendwelche Leute durch und weisen den Rest ab. Ich einige mich mit dem Bekannten des Bekannten, dass der Begriff “Selektion” hier total falsche Assoziationen weckt, aber “selection” (auf Englisch) kann man dazu schon sagen. “Selection ist ja nebenbei auch das, was Filmfestivals machen, nämliche aus tausenden Bewerbern zwanzig reinlassen und den Rest nicht. Dann erscheint an der Seitenlinie ein Mann mit einem gewissen Bauchumfang und geht nach vorn. Es ist die lebende Legende des Berliner Nachtlebens, der Türsteher Frank Künster, bekannt aus der ehemaligen “King Size Bar”, in der ich nie war, was ich übrigens mit Lars Eidinger gemeinsam habe. Keine Ahnung, warum Lars Eidinger in diesem Blog so oft auftaucht, ich kenne ihn kaum, aber das hat er zwei Abende zuvor zufällig erzählt.

Frankie Künster wechselt ein paar Worte mit den Kollegen, aber den Aufzug oder den Selektionsprozess beschleunigen kann er auch nicht, also kippt die Stimmung ins immer Sauerere. Ich friere jetzt doch ganz schön und stelle mit dem Bekannten des Bekannten Betrachtungen darüber an, dass das Nachtleben ja eigentlich merkwürdig paradox ist, weil es eine Art Feier-Exzess-Gegenwelt zur Alltagswelt verspricht, wo man dem gnadenlosen Leistungs- und Konkurrenzdruck der modernen Erwerbswelt entflieht und sich in egalitärer Entgrenzung ergeht, aber dass die Schlangestehfolter mit nachfolgendem Auswahlprozess durch kafkesk arrogante Party-Beamte dieser Utopie eigentlich höhnisch ins Gesicht lacht. Das Nachtleben ist also mitnichten eine konträre Gegenwelt zu unserer Leistungsdruckgesellschaft, sondern vielmehr deren äußerste Steigerung, deswegen habe ich mich auch nie in Clubschlangen gestellt, und mein bisher einziger Besuch im Berghain war Sonntag morgens ohne Schlange. Die Soziologie kennt das “Rockerparadox”, das ist so ähnlich: Motorradrocker feiern zumindest rhetorisch die absolute Freiheit von allen gesellschaftlichen Zwängen, unterwerfen sich in ihrer Rockergesellschaft noch viel rigideren Zwängen.

Eine neue Information wird nach hinten durchgereicht: Der Aufzug ist jetzt leider kaputt. Was das bedeutet, ist unklar. Ist aber auch schon egal. Wir bleiben hier stehen, wir gehen nicht mehr weg, drei Tage wach. Und dann sagt einer der Herren direkt vor mir den denkwürdigsten Satz des Abends, als nämlich sein Begleiter vorschlägt, man könne doch auch allmählich mal das Handtuch werfen, und er in einem Tonfall, den man mit Fug und Recht “stinksauer” nennen kann, erwidert: 



Nee. Wir sponsorn die Scheiße.

Ich frage nach und vergewissere mich: Ihr macht was?
Jawohl, der Mann gehört zu einem nicht näher bezeichneten “Wir”, von dem der Wein stammt, der heute dort oben ausgeschenkt wird.

Wow.
Mehr fällt mir dazu nicht ein. Aber es fällt mir zweimal ein. Also nochmal:
Wow.

Der Bekannte und sein Bekannter beschließen, dass es jetzt reicht, und verschwinden. Daraufhin fühle ich mich auch nicht mehr so richtig an die Schlangesteh-Solidaritätsgemeinschaft gebunden, und als XY ein weiteres Mal vorbeikommt und Leute in die andere Richtung lotst, laufe ich einfach hinterher. Der Weg geht wie vermutet um das Gebäude herum, und siehe da: Dort gibt es einen total stinknormalen Eingang, hinter dem drei total stinknormale Aufzüge auf Publikum warten. Zulässiges Gesamtgewicht: 1500kg oder 18 Personen. Ich steige ein, fahre nach oben und kann es nicht glauben, kann mein Glück nicht fassen, schnappe über vor Begeisterung, anderthalb Stunden Herumstehen, Frieren, Fluchen, Rauchen und Betrachtungen über Welt und Gegenwelt haben sich am Ende gelohnt: Ich bin auf der Party.

War dann durchaus nett. Mit ein paar Leuten geredet, zwei oder drei Bier getrunken, nach zwei Stunden wieder gegangen.

Berlinale, Tag 6

Ich mach den Kram hier schon ziemlich lang, ich bin steinalt, ich hab alles gesehen. Seit ich mich erinnern kann, sitze ich in Festivalkinosälen und gucke Nachwuchsfilme. Da gibt es alle paar Jahre so eine Welle, da tritt jedesmal eine neue Generation an und rebelliert mit flashiger Optik und knalligem Soundtrack gegen die in Routine versackten alten Säcke. Zwanzig Jahre später sind die Rebellen von damals selber auf dem Weg zum alten Sack und drehen Soko Solingen, aber das ist der Lauf der Welt, who am I to judge. Als ich Ende 20 war, da hieß das angesagte Ding “Mini-DV-Wackelhandkamera”, in meinem unmittelbaren Umfeld entstanden No-Budget-Mini-DV-Wackelfilme, die dann explosive Hypes auslösten und Preise im oberen zweistelligen Bereich gewannen. Ich hatte damals nicht so Lust auf Mini-DV-Wackelhandkamera, also machte ich stattdessen einen Film aus zehnminütigen festen Einstellungen. Der Hype hielt sich in Grenzen. Aber vielleicht mache ich dafür mit 50 einen fiebrig-flashigen Film voller Jump Cuts über 19jährige, die sich im Nightlife das Hirn wegballern, und dann 30 Jahre später, mit 80, lege ich noch einen drauf und mache eine Orgie aus Halbsekundenschnitten über polytoxikomane 10jährige, ausschließlich mit Stroboskopblitzen beleuchtet, 82 gnadenlose Minuten lang. Aber ich schweife ab, ich wollte eigentlich was ganz anderes sagen, nämlich: In all diesen Jahren sind die Nachwüchse gekommen und gegangen, aber eins hat sich nie geändert, und zwar die Asynchronität der Bühnenauftritte. Typischerweise steht ein*e Filmemachende*r auf der Bühne und sagt: In der Rolle der Lina Luhmann bitte einen riesengroßen Applaus für die wunderbare Luna Lehmann! Daraufhin steht die wunderbare Luna Lehmann irgendwo im Saal auf und begibt sich gemessenen Schrittes zur Bühne, doch als sie dort ankommt, hat die Person auf der Bühne bereits fünf weitere wunderbare Menschen aufgerufen, also begegnen sich da auch die wunderbare Lena Lohmann, die wunderbare Julina Jacobs, die wunderbare Lilja Schulzinger und die wunderbare Agathe Bauer, außerdem die wunderbare Debütredakteurin und der wunderbare Music Supervisor, und man hat keine Chance, herauszufinden, wer wer ist, denn hinzu kommt, dass all diese wunderbaren Menschen beim Erklimmen der Bühne dem Publikum überwiegend das Hinterteil zuwenden. Am Ende stehen sie dann in einer langen Reihe auf der Bühne und schweigen vor sich hin, während die moderierende Person die regieführende fragt, wie die Arbeit mit der wunderbaren Kamerafrau war.

Man verstehe mich nicht falsch: Ich wüßte wirklich gern, wer wer ist. Man hört und sieht ja immer wieder tolle Sachen, und natürlich will ich dann wissen, wer die dazugehörigen Menschen sind, aber so habe ich wenig Chancen, es herauszufinden. Wenn der wunderbare Lars Eidinger auf die Bühne käme, dann würde ich den selbstverständlich auch von hinten erkennen, aber vielleicht verbirgt sich da irgendwo der wunderbare Lars Eidinger von morgen, und das muß man ja erstmal herausfinden.

Was mir außerdem noch einfällt: Man kann ja in Mitte oder Neukölln ohne Englischkenntnisse noch nicht mal mehr eine Tasse Kakao bestellen, aber kann mal bitte jemand den Berlinale-Conferenciers verraten, dass der englische Ausdruck für “Filmteam” nicht “film team” lautet, sondern “cast and crew”? Gern auch “the wonderful cast and crew”, wenn man der Meinung ist, dass die in der Mehrzahl wunderbar sind.

Wunderbar ist übrigens auch der Film, den ich gestern noch gesehen habe. Im Katalog steht: Sprengt die Grenzen der Vorstellungskraft, er ist gleichzeitig sehr realistisch im Stil und völlig surreal in seinem Konzept, und er zeigt, dass sogar die menschliche Mimik verzichtbar ist, will man Mitgefühl, Lachen oder Tränen hervorrufen. Es ist wie immer bei Berlinale-Katalogtexten: Ich habe überhaupt keine Ahnung, was mich da erwartet. “Sasquatch Sunset”, so heißt der Film, entpuppt sich dann als eine Art Mittelding aus 70er-Jahre-Actiontheater und bekifftem Teenagerwitz. Menschen in haarigen Affenkostümen laufen durch den Wald, popeln in der Nase, machen allerhand Blödsinn und begegnen schließlich den Spuren der Zivilisation. Es ist ein bißchen so, als wäre in “2001” der Monolith nie aufgetaucht und die Anfangssequenz einfach 90 Minuten weitergangen, nur mit mehr Spaß. Die Landschaftsaufnahmen sind majestätisch, die Musik ist gut, die SFX-Maske und die Kostüme sind erstaunlich professionell, und bei aller Quatschigkeit hat der Film einen gewissen ernsten Kern. Am Ende erfährt man dann, was man schon wußte, aber wieder vergessen hatte: In einem der Kostüme steckt Jesse Eisenberg, vor zehn Jahren noch als Facebook-Gründer in “The Social Network”, jetzt als Affenmensch unter Mammutbäumen, ist das ein Auf- oder Abstieg, ich bin mir nicht sicher. Unprofessionell erscheinen mir vor allem die Lautäußerungen der titelgebenden Viecher, die bestehen nur aus einem einzigen Laut, der so klingt wie ein ausgesprochenes Gendersternchen, also der berühmte “Glottisschlag” vor “-innen”. Die Sasquatche laufen also 88 Minuten lang durch den Film und sagen immer nur “*, *, *”, und ich freue mich, dass solche Kinoerlebnisse auf der Berlinale noch möglich sind. Ich freue mich allerdings auch, dass wir eine Flasche Rotwein in den Saal geschmuggelt haben.

Einen Tag später dann zwei Folgen “Zeit Verbrechen”. Der Erfolgspodcast wurde verfilmt, und zwar für den Streaminganbieter Paramount+, der dann aber im Zuge eines “Strategiewechsels” beschlossen hat, das fertige Werk doch nicht zu veröffentlichen. Die ganze Branche schüttelt die Köpfe, man kann ja über ARD und ZDF viel sagen, aber so etwas haben sie sich bisher meines Wissens noch nicht geleistet. Was genau mit den Filmen passieren soll, ist unklar, vielleicht werden sie nach dieser Berlinale nie wieder zu sehen sein, also einmalige Gelegenheit, nix wie hin. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, Kritiken zu schreiben, vor allem über deutsche Filmem, denn wenn man selber welche macht, sollte man nicht über andere schreiben, daher will ich hier nicht viele Worte verlieren, aber eins muß ich loswerden, das hat nämlich nur bedingt mit dem spezifischen Film zu tun, sondern ist ein generelles Phänomen, und zwar: Die Darstellung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Vielleicht bin das nur ich, aber ich fand schon mit 16 das Brüllaffen-Testosteron-Gehabe meiner Altersgenossen schwer erträglich, und ich habe wenig Lust, mir das in Breitwand und Surround wieder anzutun, nachdem ich die Schulhöfe, auf denen es stattfand, einige Jahrzehnte hinter mir gelassen habe. Ich möchte bitte keine weitere Minute in Gesellschaft dieser bekloppten Vollhonks verbringen, das ist so ungefähr die emotionale Spontanreaktion bei einer gewissen Sorte Film. Dann fällt mir ein, wie ich vor einigen Tagen am Rand des Regie-Panel-Tages zwei Frauen von einem Verein begegnete, der Jugendliche aus der Unterschicht zum Film vermittelt (ich verwende bewußt kein beschönigendes Wort für “Unterschicht”, denn diese Verschleierung der Herrschaftsverhältnisse dient ja auch nur den Interessen der herrschenden Klasse), die hatten einige ihrer Schützlinge mitgebracht, da standen vier oder fünf junge Männer mit schwarzen Haaren, die mir ein wenig verlegen und sehr höflich und respektvoll die Hand reichten und in die Augen schauten. Warum, denke ich mir da auf einmal, gibt es für euch in Filmen eigentlich IMMER nur diese Krawalldeppenrollen? Warum zwingt die Gesellschaft euch, dieses Bild von euch selbst zu produzieren und immer weiter zu perpetuieren? Was ist das Interesse der oberen Mittelschicht, die ja überwiegend die Filmfestivals mit Inhalt befüllt, kuratiert und besucht, sich immer wieder dieses Schreckensbild von euch zu machen? Und können wir das vielleicht mal irgendwie anders aufziehen, Folks and Kupferstechers?

Und jetzt die antiklimaktische Pointe: Die Frau von diesem Verein hat mir eine Visitenkarte gegeben, aber die finde ich jetzt nirgends mehr. Falls sie dies liest, möge sie mir bitte schreiben, wir drehen im Frühjahr einen “Tatort” und vielleicht geht da was, denn das Thema liegt mir wirklich am Herzen.* Einen Abend später treffe ich dann meine türkische Lieblingstante Sema Poyraz. Wir haben vor 17 Jahren miteinander gedreht, in der damaligen Serie war sie zwar keine türkische, sondern eine indische Tante, aber seitdem bezeichnet sie sich selbst immer so. Sema hat in den frühen 70ern an der DFFB studiert, ist dann an die Schauspielerei geraten, sie ist die gute Seele von jedem Raum, den sie betritt, wir haben uns einige Zeit nicht gesehen, und dieses Wiedersehen inspiriert in mir eine Filmidee: Ich möchte das Leben von Angela Merkel verfilmen. Als öffentlich-rechtlichen Dreiteiler. Titel: “Merkel – die Mutter der Macht” oder sowas. Und in der Hauptrolle: Sema Poyraz. Das wäre mir ein innerer Reichsparteitag.

Den anderen Zeit-Verbrechen-Film fand ich übrigens gut. Es scheint mir außerdem die nächste Generation des flashigen Filmemachens zu sein, die da auf die Bühne klettert, dem Publikum den Hintern zuwendet und sich dann in die Reihe einreiht. Nach Wackel-DV (00er Jahre) und Impro (10er Jahre) ist es jetzt eine gewisse hochglänzend-quietschbunte ADHS-Gleichzeitigkeit des gesamten Weltgeschehens, die der stilprägende Flaggschiff-Film dieser Richtung, “Everything Everywhere All At Once”, bereits im Titel trägt. Aber ich bin ja wie gesagt kein Filmkritiker, ich bin Klatschkolumnist, also raus aus dem Kino und dorthin, wo die Magic auf der Berlinale vor allem passiert: Parties. Genauer gesagt: DIE Party. Die einzig wahre Party. Die sogenannte “Off-Berlinale”. Die ist legendär und geheimnisumwölkt. Daher an dieser Stelle: Cliffhanger. Davon erzähle ich morgen. Oder vielleicht ist die Party sogar so fett, dass ich erst übermorgen wieder in der Lage bin, mehr als zwei Sätze aufzuschreiben. Stay tuned. Love.

 

*

Ich mach den Kram hier schon ziemlich lang, ich bin steinalt, ich hab alles gesehen. Seit ich mich erinnern kann, sitze ich in Festivalkinosälen und gucke Nachwuchsfilme. Da gibt es alle paar Jahre so eine Welle, da tritt jedesmal eine neue Generation an und rebelliert mit flashiger Optik und knalligem Soundtrack gegen die in Routine versackten alten Säcke. Zwanzig Jahre später sind die Rebellen von damals selber auf dem Weg zum alten Sack und drehen Soko Solingen, aber das ist der Lauf der Welt, who am I to judge. Als ich Ende 20 war, da hieß das angesagte Ding “Mini-DV-Wackelhandkamera”, in meinem unmittelbaren Umfeld entstanden No-Budget-Mini-DV-Wackelfilme, die dann explosive Hypes auslösten und Preise im oberen zweistelligen Bereich gewannen. Ich hatte damals nicht so Lust auf Mini-DV-Wackelhandkamera, also machte ich stattdessen einen Film aus zehnminütigen festen Einstellungen. Der Hype hielt sich in Grenzen. Aber vielleicht mache ich dafür mit 50 einen fiebrig-flashigen Film voller Jump Cuts über 19jährige, die sich im Nightlife das Hirn wegballern, und dann 30 Jahre später, mit 80, lege ich noch einen drauf und mache eine Orgie aus Halbsekundenschnitten über polytoxikomane 10jährige, ausschließlich mit Stroboskopblitzen beleuchtet, 82 gnadenlose Minuten lang. Aber ich schweife ab, ich wollte eigentlich was ganz anderes sagen, nämlich: In all diesen Jahren sind die Nachwüchse gekommen und gegangen, aber eins hat sich nie geändert, und zwar die Asynchronität der Bühnenauftritte. Typischerweise steht ein*e Filmemachende*r auf der Bühne und sagt: In der Rolle der Lina Luhmann bitte einen riesengroßen Applaus für die wunderbare Luna Lehmann! Daraufhin steht die wunderbare Luna Lehmann irgendwo im Saal auf und begibt sich gemessenen Schrittes zur Bühne, doch als sie dort ankommt, hat die Person auf der Bühne bereits fünf weitere wunderbare Menschen aufgerufen, also begegnen sich da auch die wunderbare Lena Lohmann, die wunderbare Julina Jacobs, die wunderbare Lilja Schulzinger und die wunderbare Agathe Bauer, außerdem die wunderbare Debütredakteurin und der wunderbare Music Supervisor, und man hat keine Chance, herauszufinden, wer wer ist, denn hinzu kommt, dass all diese wunderbaren Menschen beim Erklimmen der Bühne dem Publikum überwiegend das Hinterteil zuwenden. Am Ende stehen sie dann in einer langen Reihe auf der Bühne und schweigen vor sich hin, während die moderierende Person die regieführende fragt, wie die Arbeit mit der wunderbaren Kamerafrau war.

Man verstehe mich nicht falsch: Ich wüßte wirklich gern, wer wer ist. Man hört und sieht ja immer wieder tolle Sachen, und natürlich will ich dann wissen, wer die dazugehörigen Menschen sind, aber so habe ich wenig Chancen, es herauszufinden. Wenn der wunderbare Lars Eidinger auf die Bühne käme, dann würde ich den selbstverständlich auch von hinten erkennen, aber vielleicht verbirgt sich da irgendwo der wunderbare Lars Eidinger von morgen, und das muß man ja erstmal herausfinden.

Was mir außerdem noch einfällt: Man kann ja in Mitte oder Neukölln ohne Englischkenntnisse noch nicht mal mehr eine Tasse Kakao bestellen, aber kann mal bitte jemand den Berlinale-Conferenciers verraten, dass der englische Ausdruck für “Filmteam” nicht “film team” lautet, sondern “cast and crew”? Gern auch “the wonderful cast and crew”, wenn man der Meinung ist, dass die in der Mehrzahl wunderbar sind.

Wunderbar ist übrigens auch der Film, den ich gestern noch gesehen habe. Im Katalog steht: Sprengt die Grenzen der Vorstellungskraft, er ist gleichzeitig sehr realistisch im Stil und völlig surreal in seinem Konzept, und er zeigt, dass sogar die menschliche Mimik verzichtbar ist, will man Mitgefühl, Lachen oder Tränen hervorrufen. Es ist wie immer bei Berlinale-Katalogtexten: Ich habe überhaupt keine Ahnung, was mich da erwartet. “Sasquatch Sunset”, so heißt der Film, entpuppt sich dann als eine Art Mittelding aus 70er-Jahre-Actiontheater und bekifftem Teenagerwitz. Menschen in haarigen Affenkostümen laufen durch den Wald, popeln in der Nase, machen allerhand Blödsinn und begegnen schließlich den Spuren der Zivilisation. Es ist ein bißchen so, als wäre in “2001” der Monolith nie aufgetaucht und die Anfangssequenz einfach 90 Minuten weitergangen, nur mit mehr Spaß. Die Landschaftsaufnahmen sind majestätisch, die Musik ist gut, die SFX-Maske und die Kostüme sind erstaunlich professionell, und bei aller Quatschigkeit hat der Film einen gewissen ernsten Kern. Am Ende erfährt man dann, was man schon wußte, aber wieder vergessen hatte: In einem der Kostüme steckt Jesse Eisenberg, vor zehn Jahren noch als Facebook-Gründer in “The Social Network”, jetzt als Affenmensch unter Mammutbäumen, ist das ein Auf- oder Abstieg, ich bin mir nicht sicher. Unprofessionell erscheinen mir vor allem die Lautäußerungen der titelgebenden Viecher, die bestehen nur aus einem einzigen Laut, der so klingt wie ein ausgesprochenes Gendersternchen, also der berühmte “Glottisschlag” vor “-innen”. Die Sasquatche laufen also 88 Minuten lang durch den Film und sagen immer nur “*, *, *”, und ich freue mich, dass solche Kinoerlebnisse auf der Berlinale noch möglich sind. Ich freue mich allerdings auch, dass wir eine Flasche Rotwein in den Saal geschmuggelt haben.

Einen Tag später dann zwei Folgen “Zeit Verbrechen”. Der Erfolgspodcast wurde verfilmt, und zwar für den Streaminganbieter Paramount+, der dann aber im Zuge eines “Strategiewechsels” beschlossen hat, das fertige Werk doch nicht zu veröffentlichen. Die ganze Branche schüttelt die Köpfe, man kann ja über ARD und ZDF viel sagen, aber so etwas haben sie sich bisher meines Wissens noch nicht geleistet. Was genau mit den Filmen passieren soll, ist unklar, vielleicht werden sie nach dieser Berlinale nie wieder zu sehen sein, also einmalige Gelegenheit, nix wie hin. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, Kritiken zu schreiben, vor allem über deutsche Filmem, denn wenn man selber welche macht, sollte man nicht über andere schreiben, daher will ich hier nicht viele Worte verlieren, aber eins muß ich loswerden, das hat nämlich nur bedingt mit dem spezifischen Film zu tun, sondern ist ein generelles Phänomen, und zwar: Die Darstellung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Vielleicht bin das nur ich, aber ich fand schon mit 16 das Brüllaffen-Testosteron-Gehabe meiner Altersgenossen schwer erträglich, und ich habe wenig Lust, mir das in Breitwand und Surround wieder anzutun, nachdem ich die Schulhöfe, auf denen es stattfand, einige Jahrzehnte hinter mir gelassen habe. Ich möchte bitte keine weitere Minute in Gesellschaft dieser bekloppten Vollhonks verbringen, das ist so ungefähr die emotionale Spontanreaktion bei einer gewissen Sorte Film. Dann fällt mir ein, wie ich vor einigen Tagen am Rand des Regie-Panel-Tages zwei Frauen von einem Verein begegnete, der Jugendliche aus der Unterschicht zum Film vermittelt (ich verwende bewußt kein beschönigendes Wort für “Unterschicht”, denn diese Verschleierung der Herrschaftsverhältnisse dient ja auch nur den Interessen der herrschenden Klasse), die hatten einige ihrer Schützlinge mitgebracht, da standen vier oder fünf junge Männer mit schwarzen Haaren, die mir ein wenig verlegen und sehr höflich und respektvoll die Hand reichten und in die Augen schauten. Warum, denke ich mir da auf einmal, gibt es für euch in Filmen eigentlich IMMER nur diese Krawalldeppenrollen? Warum zwingt die Gesellschaft euch, dieses Bild von euch selbst zu produzieren und immer weiter zu perpetuieren? Was ist das Interesse der oberen Mittelschicht, die ja überwiegend die Filmfestivals mit Inhalt befüllt, kuratiert und besucht, sich immer wieder dieses Schreckensbild von euch zu machen? Und können wir das vielleicht mal irgendwie anders aufziehen, Folks and Kupferstechers?

Und jetzt die antiklimaktische Pointe: Die Frau von diesem Verein hat mir eine Visitenkarte gegeben, aber die finde ich jetzt nirgends mehr. Falls sie dies liest, möge sie mir bitte schreiben*, wir drehen im Frühjahr einen “Tatort” und vielleicht geht da was, denn das Thema liegt mir wirklich am Herzen. Einen Abend später treffe ich dann meine türkische Lieblingstante Sema Poyraz. Wir haben vor 17 Jahren miteinander gedreht, in der damaligen Serie war sie zwar keine türkische, sondern eine indische Tante, aber seitdem bezeichnet sie sich selbst immer so. Sema hat in den frühen 70ern an der DFFB studiert, ist dann an die Schauspielerei geraten, sie ist die gute Seele von jedem Raum, den sie betritt, wir haben uns einige Zeit nicht gesehen, und dieses Wiedersehen inspiriert in mir eine Filmidee: Ich möchte das Leben von Angela Merkel verfilmen. Als öffentlich-rechtlichen Dreiteiler. Titel: “Merkel – die Mutter der Macht” oder sowas. Und in der Hauptrolle: Sema Poyraz. Das wäre mir ein innerer Reichsparteitag.

Den anderen Zeit-Verbrechen-Film fand ich übrigens gut. Es scheint mir außerdem die nächste Generation des flashigen Filmemachens zu sein, die da auf die Bühne klettert, dem Publikum den Hintern zuwendet und sich dann in die Reihe einreiht. Nach Wackel-DV (00er Jahre) und Impro (10er Jahre) ist es jetzt eine gewisse hochglänzend-quietschbunte ADHS-Gleichzeitigkeit des gesamten Weltgeschehens, die der stilprägende Flaggschiff-Film dieser Richtung, “Everything Everywhere All At Once”, bereits im Titel trägt. Aber ich bin ja wie gesagt kein Filmkritiker, ich bin Klatschkolumnist, also raus aus dem Kino und dorthin, wo die Magic auf der Berlinale vor allem passiert: Parties. Genauer gesagt: DIE Party. Die einzig wahre Party. Die sogenannte “Off-Berlinale”. Die ist legendär und geheimnisumwölkt. Daher an dieser Stelle: Cliffhanger. Davon erzähle ich morgen. Oder vielleicht ist die Party sogar so fett, dass ich erst übermorgen wieder in der Lage bin, mehr als zwei Sätze aufzuschreiben. Stay tuned. Love.

 

*(Nachtrag: Es hat funktioniert! Hier wäre der erwähnte Verein.)

Berlinale, Tag 5

Ich wiederhole mich. Vor fünf Jahren habe ich nämlich auch schon mal festgestellt, dass die Leute ihren Festivalausweis nicht mehr um den Hals tragen. Das hatte ich total vergessen und habe es jetzt wiedergefunden. Wenn ich mich irgendwann beim Filmemachen wiederhole und Sachen mache, die ich schon vor fünf oder 15 Jahren gemacht habe, dann soll mir bitte irgendwer bescheid sagen. Andererseits ist man in der Kunst, wenn man was werden will, ja eigentlich gut beraten, die Variationsbreite gering zu halten und sich möglichst umfassend zu wiederholen. Wes Andersons Filme sind wiedererkennbarer als die von, sagen wir mal, Steven Soderbergh. Letztere sind mir trotzdem lieber. Wes-Anderson-Filme kann man mir, wie man so schön sagt, auf den Bauch binden. I don’t get it. Keine Ahnung, was das soll, wenn alle sich benehmen wie Schaufensterpuppen abwechselnd auf Speed und auf Valium. Es gibt da im derzeitigen amerikanischen Independentkino diese Masche, dass die Größenordnung der Reaktionen nicht stimmt. Die Akteure reagieren auf existentielle Ereignisse (Freundin ausgespannt, Mutter gestorben oder was auch immer), als hätte man ihnen schlimm auf den Fuß getreten. Auf Kinkerlitzchen hingegen folgt tödliches Beleidigtsein oder merkwürdig plumpe Gewalttaten. Das habe ich bestimmt auch schon mal irgendwo geschrieben und wiederhole es hiermit.

Lars Eidinger legt schon wieder auf. Diesmal bei der Party, die auf das Podiumsgespräch von gestern folgt. Davor hat eine Filmemacherin sich auf die Bühne getraut und ihn gefragt, ob er in ihrem Film mitspielen würde, und zwar als er selbst. Darauf erwiderte Lars Eidinger, Lars Eidinger sei die Rolle, die ihm am häufigsten angeboten würde, aber die wolle er nicht spielen. Ich verstehe das, würde aber gern mal einen Film machen, in dem Lars Eidinger einen Filmemacher spielt, der unbedingt Lars Eidinger besetzen will. Der Lars Eidinger im Film wird wiederum von Robert Gwisdek oder Matthias Brandt oder Otto Waalkes gespielt und entzieht sich allen Anwerbeversuchen. Das fände ich lustig. Außerdem müßten dann noch abwechselnd Campino, Dieter Bohlen und Oliver Kahn auftreten, die aber alle vom selben Schauspieler gespielt würden, bis dann irgendwann jemand im Film mit der Verschwörungstheorie ankommt, diese drei seien in Wahrheit ein und derselbe Mensch, was sich dann am Ende auch als zutreffend erweist. Und dann beschließt der von Lars Eidinger gespielte Filmemacher, Lars Eidinger einfach mit einem anderen Schauspieler zu besetzen, also nicht mit dem von Otto Waalkes gespielten echten Lars Eidinger, sondern beispielsweise mit Dieter Bohlen oder Heidi Klum.

Das Festival ist jetzt auf der Zielgeraden. Alles Wesentliche passiert an den ersten fünf Tagen. Danach ist die Branche weg oder im Koma oder wieder im Büro. Wer jetzt im Wettbewerb Premiere hat, steht schon damit in der zweiten Reihe, es sei denn, es läuft so wie bei “Boyhood” 2014, der am letzten Tag Premiere hatte, damit die Macher gleich zur Preisverleihung bleiben konnten. Unvergessen bleibt mir die Premiere meines allerersten Films “Neun Szenen” in der “Perspektive Deutsches Kino” im Jahr 2006, die war nämlich am aller-allerletzten Tag, am letzten Sonntag abend, als wirklich schon überall die roten Teppiche eingerollt und der Müll weggebracht wurde. Der Saal war begeistert, aber ansonsten hat niemand es mitgekriegt. Mit etwas mehr Selbstbewußtsein hätten wir damals gesagt: Nö, da warten wir lieber auf etwas besseres. Da hätte man sich aber aufspalten müssen in ein ehrgeiziges Über-Ich, das den Film bestmöglich positionieren will, und eine devote Assistentengestalt, die das dann im Auftrag weiterkommuniziert. Aber das wird einem auf keiner Filmhochschule beigebracht, da muß man selber drauf kommen. Mein nächster Film lief dann immerhin zur Eröffnung der “Perspektive”, und den danach wollte die Sektionsleiterin auch wieder haben, ich hingegen wollte lieber endlich mal im sonstigen Teil des Festivals unterkommen, aber daraus wurde nichts, da kam eine Absage von irgendeiner Assistentenperson, damit war für mich die Rolle der “Perspektive” als Tor zur Berlinale irgendwie entzaubert, und ich nahm mir vor, als nächstes einen Film zu machen, den der Wettbewerb nicht ablehnen konnte.

Vor einigen Tagen schon traf ich in einer Warteschlange auf eine Produzentin, so alt wie ich und auch mal an der HFF in Potsdam gewesen, die erzählte, dass man, wenn man für Netflix produzieren will, mindestens fünf Angestellte haben muß. Die wollen einen Head of Finance und Head of Creation und Head of whatever als Ansprechpartner. Ich sage darauf, dass ich auch schon mit dem Gedanken gespielt habe, mich in Mails als meine eigene Assistentin auszugeben. David Graeber beschreibt in dem Buch “Bullshit Jobs” eine ganze Kategorie von Tätigkeiten, deren Funktion darin besteht, Untergebene zu sein und dadurch dem Chef mehr Bedeutung zu verleihen, denn wer mehr Leute unter sich hat, ist schon dadurch weiter oben. Aber das kann man ja auch einfach simulieren, indem man sich eine Mailadresse namens office@website macht und dann schreibt: Liebe ARD, liebe Players, meine Name ist Stefanie Bornemann, ich bin die Assistentin von Herrn Brüggemann und wollte hiermit nachfragen, ob Sie für meinen Chef noch eine Einladung hätten. Die Produzentin, die ihren Laden auch als Ein-Frau-Unternehmen betreibt, ist Feuer und Flamme, und wir beschließen, dass wir das ab sofort, wenn es um Telefongespräche geht, füreinander gegenseitig machen werden: Sie ruft als meine Assistentin an und ich als ihr Adlatus.

Meine Berlinale-Maxime dieses Jahr ist klar: Vier Jahre nicht hiergewesen, zwischendurch ist Deutschland einmal kurz wahnsinnig geworden, alle wollten meinen Kopf und den von Volker Bruch, also spaziere ich jetzt einfach mal über die ganzen Empfänge und demonstriere den verehrten Kollegen mein eigenes Vorhandensein. Irgendwann reicht es aber, auch das will ich ja nicht allzu sehr wiederholen, also gehe ich jetzt doch mal ins Kino und gucke drei Filme. Das ist wiederum gelogen, einen dieser drei Filme habe ich schon am Freitag abend gesehen, aber jetzt fasse ich sie hier zusammen, weil mir das besser in den Kram passt, so geht Dramaturgie.

Im Panorama läuft der französische Science-Fiction-oder-so-Film “Pendant ce temps sur terre”. Eine junge Frau, die in einem Seniorenheim arbeitet und deren Bruder als Astronaut irgendwie verschollen ist, nimmt Kontakt zu einer außerirdischen Macht auf, die sich als leuchtender Schleimfaden in ihrem Ohr einnistet und ihr Befehle gibt. Es ist eine Art Variante auf “Invasion of the Body Snatchers”, die außerirdische Macht will noch weitere Menschen haben, zwischendurch gibt es eine etwas vom Drehbuch forciert wirkende Vergewaltigungsszene, die per Kettensäge beendet wird, und ein merkwürdig antiklimaktisches Ende, das ich erst nicht verstanden und dann wieder vergessen habe. “Funktionieren” tut das alles für mein Empfinden nicht, der Arbeitsplatz im Altenheim wirkt überaus real und das ganze Science-Fiction-Ding daneben krampfhaft ausgedacht und genauso behauptet wie die Statue des Astronauten, die auf einer Kreisverkehrsmittelinsel so offensichtlich preiswert vom Szenenbild hingestellt wurde, dass es fast weh tut. Was der Film aber kann, ist etwas, von dem alle deutschen Filme sich viele Scheiben abschneiden könnten, und zwar: Er feiert seine Hauptfigur (die Darstellerin trägt den für eine französische Schauspielerin ungewöhnlichen Namen Megan Northam), ihre Schönheit und Eleganz und Bewegung im dreidimensionalen Raum, wie es wirklich nur die Franzosen können. Werft mir ruhig das stumpfe Abfeiern von Nationenklischees vor, es ist einfach so, sorry, ich kann nichts dafür, und dass ich mich gern wiederhole, haben wir ja schon eingangs geklärt.

Später dann ein weiterer französischer Film, wieder mit “Zeit” im Titel: “Hors du temps” von Olivier Assayas. Zwei Brüder sitzen im Corona-Lockdown im Landhaus ihrer Kindheit, der eine ist voll von der Viruspanik erfaßt, er faßt die Amazon-Pakete nur mit Handschuhen an und guckt immer die neuesten Händewaschvideos, dem anderen geht diese Hysterie zunmehmend auf den Keks. Dazwischen gibt es autobiografische Off-Erzählungen zum Spielort des Films, der anscheinend auch das reale Kindheitshaus von Olivier Assayas ist. Der Film ist ziemlich lustig und ziemlich typisch französisch. Die Brüder und ihre Frauen sitzen im Landhaus und reden. Ab und zu brät einer sich einen Crêpe, und man macht Psychotherapie per Zoom-Konferenz. Der Viruspaniker ist Filmregisseur und im Grunde eine Witzfigur. Interessant ist die Publikumsreaktion: Es wird gelacht. Man kann die ganze Corona-Folklore nicht mehr so richtig ernst nehmen, das tut auch der Film nicht, und das funktioniert im Saal ziemlich gut. Vor zwei Jahren wäre hier vermutlich noch eisiges Schweigen gewesen, denn es ging ja schließlich um Menschenleben, jeder nicht desfinizierte Eierkarton konnte im Zweifelsfall einen Menschen töten, verdammt nochmal, und wer darüber Witze machte, der hatte ja wohl den Schuß nicht gehört, aber ich will mich ja nicht dauernd wiederholen, auch das wiederhole ich hiermit zum wiederholten Mal.

Interessant ist übrigens auch der Katalogtext des Films. Man muß die Berlinale dafür bewundern, dass sie es schafft, diese kurzweilige und kluge Komödie so zu beschreiben, als wäre es ein bleischwer antidramaturgisches Brett. Ich zitiere:

“Der Filmregisseur Etienne und sein Bruder Paul, ein Musikjournalist, verbringen zusammen mit ihren neuen Partnerinnen Morgane und Carole den Lockdown im Haus ihrer Eltern. Jedes Zimmer, jeder Gegenstand erinnert sie an ihre Kindheit und an abwesende Personen – ihre Eltern, Nachbar*innen … Wie viel trennt die Brüder voneinander und von ihren gemeinsamen Wurzeln? Während die Welt um sie herum immer beunruhigender wird, schleicht sich das Gefühl der Unwirklichkeit und eine verstörende Fremdheit in ihren Alltag ein.”

Chapeau, mesdames et messieurs. “Ein Gefühl der Unwirklichkeit und eine verstörende Fremdheit” – um ein Haar hätte ich mir den Film nicht angeschaut, denn mit sowas habe ich schon hundert quälende Berlinale-Stunden abgesessen. Zum Glück habe ich es doch getan.

Abends kam dann noch einer, aber den behandeln wir morgen, muß jetzt mal pennen.

Berlinale, Tag 4

Heute ist Welttag der Künstlichen Intelligenz. Das habe ich mir zwar gerade ausgedacht, aber das macht die sogenannte Künstliche Intelligenz ja auch die ganze Zeit. Man stellt eine Frage, dann fabuliert der Algorithmus sich irgendwas zusammen, und am Ende steht da, ich wäre der Regisseur von “Babylon Berlin”, und auf Nachfrage wird kleinlaut zugegeben, das sei falsch, ich sei der Regisseur von “Notruf Hafenkante” und “Das Lachen der lustigen Landfrauen” oder so.

Bevor ich jetzt weiter auf dem KI-Gaul herumreite, ein scharfer Themenwechsel, weil mir gerade noch was anderes einfällt: Schon vorgestern sprach ich auf einem Agenturempfang mit einem Schauspieler, der gebürtiger Hamburger und als solcher ein großer Lokalpatriot war und der sich beklagte, dass es gar keinen wirklich Hamburger Tatort gebe. Der, den es gebe, spiele nämlich immer eher im Umland. Mir fehlt da der Überblick, aber wenn das so sein sollte, dann wäre das natürliche ein schmerzliche Lücke in der Tatortlandschaft. Hamburch, Diggä, hat eine Identitäit, deren Auss-trahlung schon haat an Penetranz grenzt, näch! Ich sach nur: Schanze, Doum, Bunkä, Landungsbrücken, Reeperbahn, Fischbrötchen, Hafen, Flora, Alster, Altona, etcetera! Der besagte Schauspieler (übrigens nicht nur Hanseat, sondern nebenbei auch Afghane) war ein ausgesprochen sympathischer junger Zeitgenosse, der als Hamburger Tatort-Kommissar ganz bestimmt eine hervorragende Figur machen würde. (Ich bin mir nicht sicher, ob ich seinen Namen verraten soll, ich fand ihn wirklich super und möchte das eigentlich lautstark verkünden, aber vielleicht würde ihm genau das schaden, man kann die Dialektik der Branche schlecht einschätzen, also wer es wirklich wissen will, möge mir eine Mail schreiben). An seiner Seite bräuchte man dann noch eine biodeutsche starke Frau und fertig ist das Tatort-Team. Vielleicht bräuchten die beiden dann auch “Brüche” und “Abgründe”, sie ritzt sich und er war heroinabhängig, vielleicht aber auch nicht. Für mein Gefühl ist die Zeit der Kommissare mit Brüchen und Abgründen auch schon wieder vorbei, die machen nämlich höchstens zwei oder drei Filme lang Spaß, dann nervt es, und man darf jetzt wieder normaler sein. Falls also beim NDR (genauer gesagt bei den Redakteuren Christian Granderath und Sabine Holtgreve) Interesse an der Entwicklung eines lokalpatriotisch lebensprallen Hamburch-Tatorts vorhanden sein sollte, erkläre ich mich hiermit freudig bereit. Wer dies liest und zufällig gerade im NDR unnerwechs ist, möge den beiden Bescheid sagen und dazu liebe Grüße, wir haben zwar schon öfter etwas miteinander versucht, hat leider nie geklappt, aber diesmal könnte es ein rauschender Hafengeburtstag werden, Leude, ich fühl das.

Dass bei der Berlinale allgemein viel abgesperrt ist, liegt irgendwie in der Natur der Sache, aber “gefühlt” wird es immer mehr. Vor dem Berlinale-Palast am Potsdamer Platz ist mittlerweile ein ungeheuer langes Stück Straße von Geländern umgeben, und wenn man einfach mal schnell von links nach rechts will, also beispielsweise von McDonalds zum Hyatt, dann wird man zu einem enormen Umweg gezwungen. Das ist, wie wenn man vom Großen Stern zum Zoo-Palast will, das wäre geradeaus total schnell zu machen, aber man muß halt einen Riesenumweg um den Zoo herum machen, oder wenn man zu Ostzeiten von Ost-Berlin nach Potsdam wollte, da mußte man einen Riesenumweg um Westberlin herum machen, es dauerte Stunden, Leipzig war im Grunde näher an Ost-Berlin als Potsdam. Nichts gegen West-Berlin und seinen Zoo, aber auch abseits der Berlinale ist immer mehr abgesperrt, in Lokalen beispielsweise heißt es immer öfter “please wait to be seated” und “wir zeigen Ihnen Ihren Platz”, und ich sehe das in gewisser Weise als Abbild der Gesellschaft, denn da wird einem auch der Platz gezeigt, den man gefälligst einzunehmen hat. Vielleicht bin ich da in der Minderheit, aber ich bevorzuge eine Gesellschaft, in der man sich seinen Platz selber suchen darf, und außerdem führt das zu, Verzeihung, beschissenem Feng-Shui, wenn wunderschöne mondän-glamouröse Freitreppen und Eingangshalle mit irgendwelchen aus dem Keller geholten Schrottmöbeln oder Holzpaletten abgesperrt werden, damit die Gäste sich gefälligst brav beim Concierge anstellen, der ihnen dann vor halbleerem Lokal hochnäsig verkündet, es sei leider alles voll und man müsse warten. Da ist dann gleich so miserable Energie, da gehe ich lieber wieder und setze mich irgendwo hin, wo ich will.

Vorgestern war ich schon beim Empfang vom Goethe Institut und traf da eine alte Freundin, die erzählt, dass sie drei Monate lang in der von ebendiesem Institut betriebenen Villa Kamogawa in Japan war. Bis vor kurzem konnte man sich da für ein Stipendium bewerben, jetzt nicht mehr, man muß jetzt vorgeschlagen werden. Wie und wodurch und von wem, bleibt mir zumindet bei einem kurzen Besuch auf der Goethe-Website unklar. Das scheint mir in die ähnliche Richtung zu gehen wie die eben erwähnten Restaurants: Wir zeigen Ihnen Ihren Platz. Wer von draußen oder aus der falschen Schicht oder aus der falschen Richtung kommt und keine Kontakte hat, der hat Pech, denn wir bleiben lieber unter uns.

Aber heute ist ja vor allem Welttag der deutschen Filmregisseur*innen, da gibt es Panels und Talks von mittags bis abends, und ich darf dabeisein, hurra. Natürlich redet man da vor allem von der Sau, die gerade nicht nur durchs Dorf getrieben wird, sondern das ganze Dorf über den Haufen rennt, nämlich der künstlichen Intelligenz, die in Zukunft nicht nur Drehbücher schreiben, sondern auch Regie führen, Musik komponieren und die Bilder nicht etwa drehen, sondern einfach generieren wird und sich das Endergebnis dann vermutlich auch anschauen und dazu ein Feierabendbier trinken wird. Mittags ist erstmal ein Vortrag von einem, der erzählt, wie man Chat GPT nutzen kann, um zu überprüfen, ob man kompatibel mit der angestrebten Zielgruppe bleibt, denn der Köder, so sagt er, müsse ja dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Als ich das höre, verlasse ich den Saal, gehe erstmal wieder nach Hause und schreibe den Blogeintrag von vorgestern (die Zeitebenen gehen in diesem Tagebuch ein wenig durcheinander, aber die Zeit, die man zum Schreiben braucht, ist nicht zu unterschätzen), und dann gehe ich zum Arte-Empfang, weil die mich netterweise eingeladen haben.

Dort stehen zwei Menschen, die ich schätze, und dazu ein dritter, gegen den ich auch nichts habe, der bei meinem Auftritt aber davongeht. Es ist der Berliner-Schule-Produzent, mit dem ich schon vor fünf Jahren ein denkwürdiges nächtliches Gespräch hatte. Vielleicht hat er einfach was anderes vor, vielleicht ist er mir immer noch böse, wer weiß. Selber schuld, ich hätte ja einfach den Mund halten und mit den Fischen heulen können. Wenn der jetzt in irgendeiner Jury oder Kommission oder Gremium sitzt und irgendwas von mir auf den Tisch kommt, dann senkt der bestimmt den Daumen, und aus vielen solchen Puzzleteilen werden Karrieren gemacht oder eben nicht. Man muß im Klüngel mitklüngeln, und damit mich hier keiner falsch versteht: Mache ich gern. Nix gegen Austausch und Gemeinschaft mit enthusiastischen Leuten, die gute Filme wollen.
Meine Meinung sage ich im Zweifelsfall trotzdem.
Warum tue ich mir das an?
Ganz einfach: Weil ich ein gehorsamer Staatsbürger bin. Und als solcher wurde mir mein Leben lang gesagt: Wenn man von etwas inhaltlich überzeugt ist, dann soll man es äußern, auch gegen Widerstände und wenn man sich damit unbeliebt macht. Meines Wissens wurde diese Maxime noch nicht kassiert und gilt weiterhin, aber wenn das eines Tages geschehen sollte und die neue Ansage lautet, dass man im Zweifelsfall den Mund halten und nur das sagen soll, was gesellschaftlich erwünscht ist, dann mache ich das natürlich und werde konform bis zum Exzess.

Bei Arte treffe ich eine Regiekollegin, die sagt: Na ja, wenn deine Tätigkeit durch KI ersetzt werden kann, dann hattest du ja schon vorher ein Problem. Ich pflichte bei und nehme mir vor, das auf dem Podium beim Regieverband genau so zu wiederholen. (Wenn die Kollegin Wert darauf legt, die Lorbeeren für diesen Satz einzustreichen, dann werde ich ihre Identität natürlich gern entschleiern, aber ich will ja niemanden ungefragt in meinen Blog zerren.)

Dann fahre ich zurück zum Regieverband, setze mich da mit einer lustigen Truppe, bestehend aus Anno Saul, Jobst Oetzmann, Radu Mihailenu und ein paar weiteren Leuten, deren Namen ich momentan nicht mehr recherchiert bekomme, auf ein Podium. Was KI und auch große Streaminganbieter angeht, brennt derzeit wirklich die Hütte, und ich bin natürlich absolut auf der Seite von Autorenrechten und europäischem Kulturbegriff samt unveräußerlichem Urheberrecht. Was man allerdings auch sagen muß: 90% of everything is crap. Wir können uns als Menschen noch so sehr überhöhen, der Großteil unserer Produktion ist trotzdem unorigineller Kram, der ungefähr so ist wie tausend Sachen, die es schon mal gegeben hat. Und das ist ja zufällig genau das Arbeitsprinzip der KI. Die macht auch Sachen, die so sind wie der Querschnitt aus Milliarden Sachen, die es schon mal gegeben hat. Ich bin skeptisch, ob KI jemals einen einzigen wirklich originellen Gedanken denken wird. Ist aber auch gar nicht so einfach. Deutlich einfacher, aber für KI auch kaum zu machen: Sich gemeinsam betrinken und schlechte Witze erzählen. Fußball gucken und herumbrüllen. Sex haben und sich davor oder danach fürchterlich mit der Freundin streiten. Oder auch: Sich die Gesamheit der derzeitigen Filmproduktion angucken, mit der eigenen Lebenserfahrung abgleichen und feststellen, dass da eine enorme Lücke klafft: Jeder und jede und wirklich alle, die ich kennen, schlagen sich auf die eine oder andere Art mit dem ganzen political-correctness-wokeness-Cancel-Culture-Komplex herum. Ich sehe aber weit und breit keine Filme über Leute, die sich damit herumschlagen. Wäre vielleicht schon “rechts”, wenn man das machen würde. Es wäre aber auch einfach eine ehrliche Erzählung aus dem Leben, das wir derzeit führen.

Wir sollten, finde ich, jedenfalls nicht nur auf unserer eigenen Kreativität und Einmaligkeit herumreiten, sondern auch die typischen Bedenkenträger, die Angsthasen und Hemmschuhe überzeugen, zu denken wie radikale Künstler und das zu ermöglichen, was noch nie da war. Wer einfach immer weiter den Kram macht, der schon tausendmal da war, der wird von Maschinen ersetzt werden, denn das können die besser. So einfach ist das. Natürlich muß der Köder dem Fisch schmecken und nicht dem Angler, aber fürs Filmemachen gilt das nur, wenn man sein Publikum wie einen Fisch betrachtet, den man fangen und totschlagen und essen will. Ich hingegen sehe Kunst nicht als Fisch, sondern Kommunikation und Austausch unter Menschen, ohne Angel und Köder und übrigens auch ohne Zielgruppe. Wenn KI mich mit sowas versorgen kann: Super. Her damit. Dann kann ich endlich, faul wie ich bin, die Füße hochlegen und keine Filme mehr machen, sondern nur noch Berlinale-Blog schreiben.

Berlinale, Tag 3

Das Wort “genial” wird heutzutage inflationär verwendet, aber der geniale österreichische Comiczeichner Mahler hat einen genialen Cartoon gezeichnet, in dem ein “typisch österreichischer Film” dargestellt ist. Ein Männchen sagt zum anderen: “Blas mir einen”, und das andere Männchen antwortet: “I will sterben”. Man kann eigentlich nur hinzufügen, dass nicht nur ein typisch österreichischer, sondern auch ein typisch deutscher Berlinale-Beitrag und überhaupt ein typischer Berlinalefilm so aussieht.

Dazu später mehr, jetzt erstmal in die Akademie der Künste zur Verleihung des Preises der deutschen Filmkritik. Vor acht Jahren habe ich den selber gewonnen, und zwar für das Drehbuch zu “Heil”. Ich sehe die Kritiker generell sehr kritisch, aber wenn sie mir Preise geben, dann mag ich sie natürlich gern, obgleich ich dieses ganze Ding mit den Preisen auch kritisch sehe, aber man kann sich ja keine eigene Welt erfinden, sondern muß die nehmen, die man hat, und da gibt es halt Preise, und die will man gewinnen. Den Preis für Schnitt (oder Montage oder Editing) kriegt Andreas Wodraschke für seine Arbeit an “Sonne und Beton”. Die Moderatorin fragt ihn, ob sie im Schneideraum die Musik öfter mal laut aufgedreht hätten, Wodraschke erwidert, nein, das hätten sie nicht getan, und an dieser Stelle möchte ich aufspringen und protestierend ausrufen: Von wegen! Ihr habt es ganz schön krachen lassen! Ich saß nebenan, denn der Schneideraum, in dem dieser Film geschnitten wurde, ist nämlich Teil meiner kleinen Bürogemeinschaft (zur Gründungszeit sagte man noch nicht Coworking Space), die ich vor vielen Jahren mit ein paar Freunden (damals sagte man noch nicht Freund*innen) ins Leben rief, als die Filmhochschule vorbei war und ich keine Lust hatte, fortan immer zuhause oder in Cafés zu sitzen. Da wurde also “Sonne und Beton” geschnitten, und da kamen ein halbes oder Dreivierteljahr lang fette Beats durch die Wand. Es hat mich nur nicht besonders gestört, und wenn doch, habe ich halt an die Tür geklopft, ach was, gehämmert, und um Lautstärkereduktion gebeten. Ich mag meine Coworking-Bude nämlich samt der darin coworkenden Leute sehr gern, denn alles was da stattfindet, gibt einem das angenehme Gefühl, Teil einer sinnstiftenden Gemeinschaft zu sein mit dem, was man da so vor sich hinwurstelt. Dasselbe Gefühl oder dieselbe Illusion bekommt man übrigens auch auf der Berlinale. Allein die Energie dieser vielen Leute, die zusammenkommen, sich die Nächte um die Ohren schlagen und nichts als Film im Kopf haben, macht irgendwas mit mir. Die Idee zu “Kreuzweg” entstand auf einer Berlinale, und zwar, wenn man es ganz genau wissen will, auf dem Fahrrad auf der Potsdamer Straße, vor dem Sony Center, Fahrtrichtung Philharmonie. Der Unterschied zwischen der Berlinale und meiner kleinen Coworking-Community ist vor allem, dass es in letzterer auch vorkommen kann, dass wochenlang keiner auftaucht und man komplett allein da sitzt. Wir hatten sogar schon Mitmieter, die eingezogen sind, ihren Schnittplatz aufgebaut haben und dann jahrelang nicht mehr gesehen wurden. Auf alle Fälle herzlichen Glückwunsch an Andreas Wodraschke, und wenn’s nach mir geht, kann er jederzeit gern wiederkommen, auch wenn der nächste Film auf einer Baustelle oder in einem Stahlwerk spielt.

Abends gehe ich dann endlich mal in einen Wettbewerbsfilm. Heute hat der Film Premiere, der das zum Titel hat, was der geniale Comiczeichner Mahler eingangs schon erwähnt hat und was man in Berlinale-Filmen sowieso oft tun möchte: Sterben. Ich habe mir ja vorgenommen, mal positiver zu werden, und hier kommt die Gelegenheit, der Film ist nämlich wirklich und wahrhaftig und tatsächlich gut. Er hat kluge, doppelbödige, dem Leben abgelauschte Dialoge. Er ist dadurch lustig, ohne dabei den Ernst zu verlieren. Er bietet ein gar herrliches Wiedersehen mit Robert Gwisdek, mit dem ich vor langer Zeit gleich bei zwei Filmen die Ehre hatte, bevor er sich aus der Branche verabschiedete, um lieber Rapper zu werden. Matthias Glasner hat da anscheinend mehr oder weniger sein eigenes Leben verfilmt (die Rolle von Hans-Uwe Bauer heißt wahrhaftig “mein Vater”), und das finde ich ja ohnehin gut, wenn Leute das machen, denn das wird immer interessant und oft zwingend. Ich fand den Terence-Malick-Film “The Tree of Life” beispielsweise etwas merkwürdig, aber die Sequenzen in den 50er Jahren mit Brad Pitt als autoritärem Vater waren grandios, die waren nämlich garantiert verfilmtes eigenes Leben. “Sterben” ist ähnlich zwingend, die drei Stunden sind gefühlte zwei-zwanzig, die Musik von Lorenz Dangel ist ungewöhnlich und toll, nur die Figur von Lilith Stangenberg zieht es für mein Gefühl etwas herunter, denn diese junge Frau auf dem glamourös-krassen Selbstzerstörungstrip habe ich irgendwoanders schon ein- oder zweimal gesehen, aber egal, danach wird er wieder gut, der Film pustet irgendwas im Kopf frei, und das gefällt mir sehr. Außerdem sagt Robert Gwisdek in seiner Rolle als Komponist etwas sehr Tolles, grundlegend Wichtiges über Kunst und Kitsch, nämlich: “Es gibt einerseits Kitsch für die breite Masse, andererseits Kitsch für die Schlauberger, und ich kann mich gar nicht entscheiden, was ich schlimmer finde.“ Allein da möchte ich schon aufspringen und ausrufen: Endlich sagt’s mal einer! So isses! Und ein Großteil dieser Blas-mir-einen-ich-will-sterben-Berlinalefilme ist genau das: Kitsch für die Besserwisser und Schlaumeier!
Da nehme ich “Sterben” aber ausdrücklich raus, der ist klug und groß und wird bestimmt irgendwas gewinnen.

Der Body Count ist für einen Film mit diesem Titel eher moderat. Wir haben am Ende drei Tote.
Dann: Standing Ovations.
Danach: Party. Lars Eidinger legt auf.
Am Anfang der Party auflegen, bevor Lars Eidinger auflegt, ist vermutlich der undankbarste Job des Festivals. Als Eidinger dann auflegt, halten alle ihre Handys in die Höhe und dokumentieren, wie Lars Eidinger auflegt.
Habe ich dann natürlich auch gemacht. Das Foto ist aber unscharf und verwischt. So soll es sein.

Berlinale, Tag 2

Heute gehe ich zum Empfang der bayerischen Filmförderung, und da fällt mir auf, dass fast niemand mehr seinen Festivalausweis an einem Band um den Hals trägt. Früher hat das jeder gemacht. Als ich vor vielen Jahren die glitzernde Welt der Filmfestivals zum ersten Mal betrat, da tat ich, was die Kinder nun mal tun: Ich imitierte die Erwachsenen und hängte mir meinen Festivalausweis um den Hals. Dann war das halt so, man lief so herum, bis eines Tages bei irgendeinem Festivalgespräch irgendein alter weißer Mann neben mir stand und sinngemäß sagte: Ich bin doch nicht bekloppt und hänge mir so ein Hundehalsband um. Eigentlich hat er recht, dachte ich mir, und seitdem steckt der Festivalausweis im Portemonnaie neben Personal- und Organspendeausweise und wird genau wie dieser hervorgeholt, wenn man ihn braucht. Das war vielleicht im Jahr 2015, und jetzt machen es anscheinend alle so.

Natürlich signalisiert der Ausweis, egal ob sichtbar oder unsichtbar getragen, die Zugehörigkeit zu einer auserwählten Gruppe. In Cannes wird das besonders weit getrieben, da kommt man ohne Ausweis überhaupt nicht aufs Festivalgelände, und dann gibt es noch eine verwirrende Vielzahl an hierarchischen Ausweis-Abstufungen, die durch bunte Streifen und Sternchen kenntlich gemacht werden. Irgendwie bin ich nie das Gefühl losgeworden, dass dieses Getue um auserwählte Zirkel eigentlich gegen den Geist des Kinos ist, das ja ursprüngliche eine sehr demokratische Kunst war – der Eintritt ist im Vergleich zu Theater und Oper billig, es werden keine großen Schranken aus Bildung und Distinktion errichtet, es ist ein Jahrmarktvergnügen, wo jeder, der zehn Pfennige erübrigen kann, rein darf. Auf der Produktionsseite hingegen ist Film äußerst undemokratisch, exklusiv und restriktiv, einen Film überhaupt machen zu können ist schon ein unerhörter Erfolg, auch in unseren komplett geförderten europäischen Produktionslandschaften, denn dieses viele Geld zieht eben auch eine große Menge an Leuten an, die es haben wollen, und so kloppen sich immer zuviele Leute um zuwenig Geld, und am Ende sind da zuviele Filme für zu wenige Zuschauer. “You have to fight to get into the bloody war”, soll mal ein Produzent ausgerufen haben. Das war allerdings in Hollywood, wo nicht so viel Staatsknete unterwegs ist, aber Filmemachen dafür noch teurer und mit noch mehr Hysterie umgeben.

Deutschland ist ja ungeheuer international und weltoffen geworden, aber es wird immer noch miserables Englisch gesprochen, das fällt einem auf, wenn ausnahmsweise mal jemand eine Rede auf Englisch zu halten versucht. Und alle positionieren sich “gegen rechts”, das ist nach “Maske tragen und zuhause bleiben” und “Lasst euch impfen” und “Stand with Ukraine” das derzeitige Ding. Zwischendurch war noch irgendwas mit Israel, aber da war nicht so richtig klar, was man sein mußte, für oder gegen Gaza oder Israel. Ziemlich lustig finde ich es, wenn genau dieselben Leute, die auf jeden fahrenden Hurra-Hashtag-Zug aufspringen, dann behaupten, es seien die anderen, also die “Rechten”, die “einfache Antworten auf komplexe Fragen” bieten würden. Das ist wirklich die stets wiederkehrende Formel: Verführerisch einfache Antworten auf komplexe Fragen. Aber vielleicht bin nur ich es, der da eine gewisse Diskrepanz sieht.

Es ist bekanntlich meine erste Berlinale seit dem enthemmten Irrsinn, den ich mit ein paar Freunden vor drei Jahren mit ein paar lustigen Videos losgetreten habe, und was wirklich auffällt: Ständig kommen irgendwelche Wildfremden und bedanken sich, gratulieren, äußern Anerkennung. Und viele andere, nicht wildfremde sagen im Gespräch, dass sie die gesellschaftliche Stimmung auch grauenhaft fanden und aus dem Kopfschütteln bis heute nicht herausgekommen sind. Ansonsten ist Corona total weg. Maske und Abstand ist ein Witz von vorgestern. Die neue Normalität, von der sich im Frühjahr 2020 alle einig waren, dass sie AB JETZT FÜR IMMER gelten würde und eine Rückkehr zur alten Normalität GARANTERT NIEMALS passieren würde und dass das auch gut sei, weil unsere bisherige Lebensweise so AUF GAR KEINEN FALL hätte weitergehen können, also dass wir ab sofort quasi immer mit Maske und Abstand und Kontaktreduktion zuhause sitzen würden – diese “Neue Normalität” ist verschwunden und vergessen, und je eifriger jemand sie bejubelt hat, desto weniger will er daran erinnert werden.

Heute ist Vollversammlung der Deutschen Filmakademie. Auf dem Programm steht ein Gespräch mit Daniel Kehlmann, geführt von Ulrich Mattes, zum Thema “Wie politisch ist die Kunst”. Das finde ich eine interessante Wahl, da muss ich an die Zeit vor drei Jahren zurückdenken, als die Kunst mal kurz sehr politisch wurde und genau derselbe Ulrich Mattes vor laufender Kamera meinte, wir, also die Mitwirkenden der Aktion „Allesdichtmachen“, seien ja anscheinend “balla-balla.“

Ich frage mich, warum da nicht Ulrich Tukur sitzt oder Jan Josef Liefers oder Volker Bruch. Die hätten doch vielleicht substantiellere Beiträge zum Thema parat als jemand, dem im Zweifelsfall nichts besseres einfällt, als den eigenen Kollegen (und zwar wohlgemerkt als oberster Würdenträger der Branche) zu verkünden, sie wären balla-balla. Nichts wäre einfacher gewesen, als wohlgesetzte präsidiale Worte zu finden, irgendwas von Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit gerade in Zeiten der Kontroverse (wann denn sonst) hätte einem unschwer einfallen können, aber nein, balla-balla.

Die Filmakademie organisierte damals einen Online-Vortrag (natürlich keine Debatte, wie es die Engländer gemacht hätten) von einem Philosophieprofessor zum Thema “Dynamiken der Radikalisierung” oder so ähnlich. Wir, die Protagonisten der ganzen Aufregung, waren zunächst gar nicht vorgesehen, man wollte über uns reden, aber um Gottes Willen nicht mit uns. Auf Beschwerde hin durften wir uns dann doch dazugesellen, aber als wir uns dann äußern wollten, wurde uns unter dem Hinweis auf Redezeit der Ton abgedreht. Aber Ulrich Mattes kriegt jetzt so viel Redezeit, wie er will. Ich bin damals in Reaktion auf genau diesen Vorfall der Akademie beigetreten, quasi unter Protest, während andere unter Protest ausgetreten sind, aber ich dachte mir: Nee, jetzt rein in die Institutionen und da den Mund aufmachen.

An Ulrich Mattes hätte ich eine ganz simple Frage: Steht er weiterhin zu seiner Aussage von damals? Oder nicht mehr? Diese beiden Möglichkeiten sehe ich. Und wenn letzteres der Fall ist, dann wäre es vielleicht ein Anlass, das auch öffentlich zu sagen, die eigene Rolle zu reflektieren und die ganze Zeit überhaupt mal kritisch zu betrachten. Das wäre ja vielleicht sowieso die Rolle der Kunst. Aber da liege ich natürlich falsch, die Rolle der Kunst ist, das “current thing” zu supporten, also den Hashtag zu feiern, der gerade angesagt ist. Schon der Hashtag von vorgestern könnte einen in Schwierigkeiten bringen. Ich würde gerne mal rausfinden, was passiert, wenn ich mich mit einem Schild auf den roten Teppich stelle, auf dem steht “Impfen ist Liebe”. Leider fällt mir das erst jetzt ein, aber dann mache ich es halt nächstes Jahr.

Berlinale, Tag 1

Vor einigen Jahren erfand ich mich als Berlinale-Klatschkolumnistin neu. Vorausgegangen war ein Moment des Zweifels, ob es eigentlich irgendeinen Sinn hat, jedes Jahr auf die Berlinale zu gehen, sich dort ungeheuer viele Filme anzuschauen, die man zumeist schnell wieder vergessen hat, und Gespräche zu führen, für die das gleiche gilt. Also beschloß ich, darüber zu schreiben. Einige Jahre lang bereitete mir das große Freude, dann kam eine merkwürdige Massenhysterie, und ich tat das, was ich schon immer getan hatte: Ich sagte meine Meinung. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte, und je länger sie zurückliegt, desto lustiger finde ich sie. Jetzt gehe ich nach vier Jahren Pause mal wieder auf die Berlinale und hole hiermit auch meinen Berlinale-Blog aus der Versenkung.

Meine letzte Berlinale war 2020, da ist man der Pandemie gerade noch so von der Schippe gesprungen, es wurde schon Klopapier gehamstert und von Masken gemunkelt, und ich war sauer, man hatte nämlich meinen Film “Nö” abgelehnt. Diese Ablehnung war sozusagen die erste Amtshandlung des damals noch recht neuen Festivaldirektors Carlo Chatrian gewesen, sie war uns schon im Sommer 2019 durch irgendeinen untergeordneten Angestellten mitgeteilt worden, und dass ich das hier so verkünde, ist auch schon wieder ein Tabubruch, denn sowas macht man anscheinend irgendwie nicht, zumindest macht es sonst niemand.

Vorausgegangen waren lange Jahre unter Direktor Dieter Kosslick, der glühende Verehrer und ebensolche Feinde hatte. Ich hatte nichts gegen ihn, ich kannte ihn aber auch kaum. Andere Festivalleiter lernt man kennen und kennt sie dann, oft mag man sie auch, man kann mit ihnen eine lustige Zeit haben, sich über Filme und Gott und die Welt austauschen, sie versprühen Enthusiasmus, Offenheit und Neugier. Kann sein, dass Dieter Kosslick das auch versprüht hat, aber wenn, dann nicht in meine Richtung. Meine einzige Interaktion mit ihm blieb ein Handschlag auf dem roten Teppich bei der Premiere von “Kreuzweg” und vermutlich dann noch einer bei der Preisverleihung, aber daran kann ich mich nicht erinnern, da hatte ich Fieber und hätte ins Bett gehört, was sehr schade war. Danach hatte ich endgültig die Schnauze voll von der Berliner-Winter-Berlinale-Grippe, da wurde eine Sauna angeschafft und regelmäßig benutzt samt Eisbad hinterher und kalter Dusche morgens, seitdem ist Kranksein kein Thema mehr, aber das ist eine andere Geschichte, und deswegen hatte ich auch von Anfang an nicht so wahnsinnige Angst vor Corona, aber auch das ist eine andere Geschichte. Als sich Kosslicks Amtszeit jedenfalls dem Ende entgegenneigte, da mußte man sich unwillkürlich an einige schlimme Bauchlandungen erinnern, die die Berliner Kulturpolitik in Personalentscheidungen hingelegt hatte, beispielsweise beim DFFB-Direktor und bei der Volksbühne, wo in obskuren Hinterzimmerentscheidungen Böcke zu Gärtnern gemacht wurden, um gleich darauf spektakulär zu scheitern, also tat ich mich mit einem Regiekollegen zusammen, und wir starteten eine Petition, die sich nicht so sehr gegen Kosslick richtete, sondern vor allem die Politik auffordern wollte, ein anständiges Verfahren zu machen, und die am Ende an die 80 Unterschriften hatte. Das gab dann aber großes Geflatter und Geschrei, Kosslick fühlte sich anscheinend angegriffen und soll diverse Leute angerufen haben, das sind aber nur Gerüchte, mich hat er nicht angerufen, vielleicht haben wir einfach nicht so einen Draht. Die dreiköpfige Findungskommission fand dann in Gestalt von Mariette Rissenbeek sich selbst, außerdem erwählte sie Carlo Chatrian, und als der seinen Job antrat, dachte ich mir: Hey, vielleicht habe ich zu dem ja einen besseren Draht als zu Dieter Kosslick, eigentlich mag ich Festivalleute doch oft sehr gern, beispielsweise die aus München oder Karlovy Vary oder Jerusalem oder Palič in Serbien oder sonstwo, also schrieb ich ihm und regte einen gemeinsamen Kaffee an. Nach holpriger Terminfindung trafen wir uns dann morgens um neun in einem Kreuzberger Café, er hatte 40 Minuten, und leider hatten wir auch keinen so richtigen Draht. Ich meine mich zu erinnern, dass ich den einen oder anderen Scherz versucht habe, wie man das halt gemeinhin so macht, aber dieses Phänomen, das die Hirnforscher “Resonanz” nennen, wollte sich nicht einstellen. Ein paar Monate später wurde dann unser Film abgelehnt, was ich sehr bedauerlich fand, und damit begebe ich mich auf dünnes Eis, denn Anpreisung der eigenen Werke samt Eingeschnapptsein, wenn die irgendwo auf Ablehnung stoßen, ist natürlich ein schimmer Fauxpas, aber ich preise hier ja gar nichts an, ich versuche es mal umgekehrt: Ich habe auf der Berlinale schon derart viele unerfreuliche Filme gesehen, da wäre mein Werk im Jahr 2019 vermutlich nicht besonders negativ aufgefallen.

Jetzt ist Carlo Chatrian auch schon wieder Geschichte, offenbar hat er seinen Job anders interpretiert, als das von der Politik gewünscht war, und als ein offener Brief zu seiner Unterstützung herumging, habe ich den natürlich nicht unterzeichnet, ich dachte kurz darüber nach, aber irgendwie ging es nicht. Das Problem sind aber nicht einzelne Enscheidungen oder einzelne Leute, sondern das ganze System der Festivals, das man meiner Meinung nach gar nicht scharf genug kritisieren kann. Das englische Wort für “Einreichung” lautet Submission, es bedeutet außerdem auch “Unterwerfung”, und das ist kein Zufall. Man unterwirft sich einem Hofstaat aus Hofschranzen. Alle schauen nur noch auf Rangordnungen, Hackordnungen, Wettbewerbe, Nebenreihen, Preise, Jurys, Gremien, Shortlists, Longlists, A-Festivals, Förderentscheidungen, Stoffentwicklungs-Labs und so weiter und so weiter. Jedes Gespräch auf jedem Empfang irgendwo in Tallinn oder Toronto oder sonstwo klingt ungefähr gleich: Wir haben XYZ eingereicht, hoffen aber auch noch auf ABCDE, dann gibt es noch CCC und BBB, wir waren in Cannes so kurz davor, setzen aber sonst auf Telluride oder Sundance, wir haben hier diese lobende Erwähnung und da diesen Preis, der Gewinner aus Venedig ist “amazing” und “passionate” und “daring” und “boring”, ach nein, sorry, “boring” sagt natürlich niemand, obwohl es das zutreffendste wäre. Natürlich tut man so, als stünde man darüber, und niemals würde man einfach so verkünden, wo man abgelehnt wurde und wie doof man den ganzen Laden findet, aber in Wahrheit ist man von krampfhaftem Ehrgeiz durchdrungen und muß das leider auch sein, denn beim Film hängt leider die Produktion direkt am Erfolg. Als Schriftsteller oder Komponist kann ich völlig erfolglos sein und trotzdem genau die Werke produzieren, die ich produzieren will. Beim Film geht das leider nicht. Erfolg schafft überhaupt erst die Gelegenheit zum nächsten Werk, und der Erfolg bemißt sich darin, in diesem unerfreulichen Hofschranzensystem möglichst weit nach oben zu kommen, und das begünstigt eben Persönlichkeitsstrukturen, die genau darin gut sind. Jahrelang stand ich neben solchen Gesprächen, wollte mich vor Langeweile an meinem Festival-Badge-Bändchen irgendwo aufhängen und dachte: Ihr seid doch die Künstler, die Freigeister, die Hochseilartisten, ihr solltet euch über diesen ganzen Zirkus totlachen, aber ihr steht hier wie Höflinge und Kleingartenvereinsmeier, die sich darüber auslassen, wer am nächsten beim König sitzt und welcher Punkt in der Satzung wie geändert werden sollte! Ich möchte euch packen und schütteln! Doch dann fiel mir auf: Nein, ihr seid gar keine Künstler und Freigeister, ihr seid hier genau richtig. Die Künstler und Freigeister, die findet man durchaus auch, aber oft sind sie gar keine Regisseure, sondern Produzenten oder Kameraleute oder Festivalleiter, und damit schließt sich ein Kreis. Jedenfalls ist mir mittlerweile alles egal. Ich sage, was ich denke, und ich möchte bitte, dass möglichst offen und öffentlich diskutiert wird, wer was wo abgelehnt hat, und außerdem möchte ich, dass dieses ganze System abgeschafft und durch was besseres ersetzt wird. Man stelle sich vor, in Woodstock wären am Ende Preise für “Best Male Vocal Performance” oder sowas vergeben worden. How much not Rock’n’Roll can you be.

Über die diesjährige Berlinale habe ich jetzt bisher gar nichts geschrieben und bitte vielmals um Verzeihung. Zur Eröffnung war ich diesmal nicht eingeladen, was mir das Nachdenken erspart hat, ob ich hingehen soll, denn Eröffnungsfilme sind traditionell schlecht (und wenn sie doch mal gut sind, so wie “Hail Caesar”, dann mäkelt das Publikum). Den ganzen Papierstapel samt Festivaltasche, den man früher überreicht bekam, gibt es nicht mehr. Das finde ich eine erfreuliche Neuerung. Schon vor vielen Jahren habe ich nach kurzem Nachdenken zehn Jahrgänge kiloschwere Berlinale-Kataloge aus meinem Regal entfernt und entsorgt. In den Büroräumen, die ich mir mit Freunden teile, liegt auf dem Klo noch ein Berlinale-Katalog von ca. 2012, manchmal blättert man ihn durch, und es ist eine Lektion in Demut. Ein serbischer Filmproduzent, mit dem ich sehr gut befreundet bin, erzählte mir gestern abend, dass er sämtliche Festivalkataloge einem befreundeten Bauern gibt, der sie als Brennmaterial zur Herstellung von Rakija verwendet. Sie brennen wohl nicht gut, aber trotzdem schließt sich da ein weiterer Kreis, damit wären für heute genug Kreise geschlossen, ich verabschiede mich und gehe jetzt wieder in den Festivalzirkus. Macht ja doch auch irgendwie Spaß.

Pflegerebellion

Ich bin mit einer schwerstbehinderten Schwester aufgewachsen. Ich war Zivi in der „individuellen Schwerstbehindertenbetreuung“. Ich weiß, was Pflege ist. Und ich weiß, dass viele in der Pflege zur Zeit sehr wütend sind. Wütend auf eine Politik, die sie nicht erst seit Corona, sondern seit Jahren im Stich läßt. Die ihren grundlegend menschlichen Impuls des Helfens ausnützt, um sie unter katastrophalen Bedingungen bei schlechter Bezahlung zu verheizen. Die jetzt noch wütender sind, weil sie weiter verheizt, aber zugeich heroisiert und instrumentalisiert werden, um den immer längeren Lockdown zu rechtfertigen. Zum Glück hat die Politik vorausschauend gehandelt, und wir erinnern uns ja alle an den großen Aufruf im Sommer 2020, der da lautete:

Alle mal herhören! Da rollt was auf uns zu! Jeder, der mal in der Pflege gearbeitet hat oder in Ausbildung ist, möge sich melden! Wir legen 500€ auf jedes Gehalt drauf, bringen den Laden auf Vordermann und kommen um den zweiten Lockdown herum!

Äh, nein. Ist bekanntlich nicht passiert. Stattdessen wurde auf dem Berliner Messegelände eine Notklinik mit 500 Plätzen aus dem Boden gestampft, die bis heute leersteht. Und mir möge jetzt keiner damit kommen, das sei alles nur von hochqualifizierten Fachkräften zu erledigen. Das stimmt zum Teil, und zum anderen Teil stimmt es nicht, wie dieser sehr lesenswerte Text es klar erläutert. Und Geld sollte ja eigentlich keine Rolle spielen. Ärzte in Impfzentren verdienen um die 130€ pro Stunde. Also, ich würde mal sagen, die Politik hat keine Ausrede. Wirklich keine.

Ich weiß noch, wie ich im März 2020 zuhause saß und mir dachte: Okay, wenn jetzt wirklich die Killerviruspandemie heranrollt und in den Krankenhäusern das absolute Chaos ausbricht, dann melde ich mich freiwillig und schiebe Betten. Als Ex-Zivi bin ich ja sozusagen Reservist, und die Analogie des Pandemiegeschehens zum Krieg bekam man ohnehin überall serviert. So kam es nicht, es kam anders, ein Jahr später sitzen wir am hundertachtzigsten Tag des 28tägigen Wellenbrecher-Shutdowns zuhause und lassen uns immer noch erzählen, das liege an den überlasteten Pflegekräften, da könne man leider nix machen, deswegen müsste Restaurants, Kinos und Museen leider weiter geschlossen bleiben, während die Leute sich in die U-Bahn und ins Büro pferchen dürfen wie eh und je.

Ich halte dieses Thema für weithin konsensfähig. Ich kenne niemanden und ich kann mir auch niemanden vorstellen, der sagen würde: Die sollen mal alle nicht so rumjammern. Ich glaube, wir sind uns da alle einig. Und das ist ein guter Anfang. Denn in einer Zeit, in der sich alle fürchterlich uneinig sind, ist es doch gut, wenigstens in einem Punkt Einigkeit zu finden.

Vor zwei Tagen meldete sich eine alte Bekannte aus HFF-Zeiten, die seit einem Jahr tatsächlich in der Pflege arbeitet. Sie hat jetzt mit Freunden eine Aktion namens „Pflegerebellion“ gestartet. Ich mach’s kurz: Ich bin dabei. Und ich will, dass alle dabei sind. Von links bis rechts, von oben bis unten, vom Hardline-Corona-Kritiker bis zum Zero-Covid-Apostel. Der Pflegenotstand passiert direkt hier in der Mitte unserer Gesellschaft, er betrifft uns alle, und ich kenne eigentlich niemanden, der keinen ausreichenden Grund hätte, sich da nicht am 12.5. um 5 vor 12 mit einem Handtuch im solidarischen Protest vor die Parlamente zu legen. Ich werde zumindest dabeisein. Und bis dahin will ich, dass sich das herumspricht. Helft alle mit. Danke.

 

F.A.Q.

Zur Zeit senden Journalisten mir immer wieder Listen von Fragen, die sich oft ähneln. Daher fasse ich sie hier zusammen und beantworte sie nacheinander gebündelt. Wer sie abdrucken will, darf das unter Nennung der Quelle gern tun. In den nächsten Tagen werden vermutlich auch noch welche dazukommen. Stört Euch nicht am irritierenden Wechsel von Sie- und Du-Form, und werfen Sie mir den teilweise etwas inquisitorischen Duktus der Fragen nicht vor, denn ich habe sie nicht verfasst.

Jan Josef Liefers kritisiert in seinem Beitrag vor allem die Rolle der Medien. Sehen Sie das ähnlich? Fühlen Sie sich nicht informiert bzw. falsch informiert durch die Presse in der Pandemie? 

Ich lese viele englische und amerikanische Medien, und im Vergleich erscheint mir die deutsche Presse weniger facettenreich. Die Mehrzahl der Berichte unterstützt unsere Maßnahmen oder setzt sie einfach als gegeben voraus. Hinterfragung der Maßnahmen hat weniger Raum, und wenn, dann meist eher in der Ausgestaltung von Detailfragen. Berichte über die Schäden durch die Maßnahmen sehe ich selten, dann meist eher in regionalen Medien, und das steht in einem eklatanten Mißverhältnis zu anekdotischen Berichten aus dem Freundes- und Familienkreis, aus denen man hochrechnen kann, dass ein ganzes Land unter dem Lockdown ächzt. Diese Berichte sind außerdem stets sachlich-referierend, nie emotionalisierend. Nach hochemotionalen Berichten von der Corona-Station muß ich nicht lange suchen, aber den hochemotionalen Besuch bei fünf Familien, die Angehörige wegen immer wieder verschobener OPs verloren haben, den suche ich bis heute. Und am lautesten ist ein ständiger Strom an grellen Panikmeldungen, die mir stets aufs neue Angst vor der nächsten großen Infektionswelle machen, die dann doch immer etwas milder ausfällt, was dann stets durch Maßnahmen erklärt wird. Diese Berichterstattung scheint mir übrigens gegen Ziffer 14 des deutschen Pressekodex zu verstoßen: „Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte.“

Haben Sie die Teilnehmer der Aktion #allesdichtmachen über deren wahres Ziel getäuscht?

Nein. Ziel der Initiative „allesdichtmachen“ war, nach einem Jahr Lockdown inhaltliche Kritik mit filmischen Mitteln zu äußern. Das habe ich den Teilnehmer:innen, mit denen ich sprach, genau so kommuniziert, und das war auch der Ansatz, auf den alle sich problemlos einigen konnten, wobei der Grad der Kritik bei den Einzelnen jeweils unterschiedlich war. Und auch darüber wurde offen geredet. Die Texte wurden als Angebot kommuniziert, und alle waren auch eingeladen, selbst etwas zu schreiben.  Die fertige Seite wurde allen Beteiligten mehrere Tage vor der Veröffentlichung zugänglich gemacht und Einverständnis eingeholt (mit zwei Ausnahmen, was ein organisatorischer Fehler war, der mir leid tut, allerdings lief nur einer dieser Kontakte über mich). Wir antizipierten durchaus Gegenwind, aber keine derart krasse Reaktion, und zwar aus drei Gründen: 1. Kritik am Lockdown ist ja in den Medien durchaus vorhanden. 2. Das gewählte Mittel (Satire über das Leben mit Corona-Maßnahmen) hat es auch bereits in Comedy-Formaten im TV gegeben. 3. Die gewählte Form (Persiflage von PR-Spots) enthält Kritik an Regierungskommunikation, und auch das sollte eigentlich nicht so kontrovers sein. Die Kampagne „Besondere Helden“ wurde ja z.B. auch heftig kritisiert.

Kannst du sagen, wann das erste Treffen der Leute mit der Ursprungsidee stattgefunden hat? Und wann bist du dazu gestoßen?

Wir haben entschieden, möglichst wenig über die Initiatoren der Aktion preiszugeben, um jeden einzelnen zu schützen.


Woher kamen Geld und Equipment für den Dreh?

Die Aktion hat ein paar Euro für Kaffee gekostet und einige Freundschaftsdienste. Equipment war vorhanden und wurde von Freunden geliehen. Die derzeitigen Spekulationen über Hintermänner und Strippenzieher sind amüsant, lenken aber von unserem Anliegen ab. Wir hinterfragen mit unseren Mitteln die Sinnhaftigkeit und Verhältnismässigkeit der Maßnahmen. Nicht mehr und nicht weniger.  Dafür braucht man kein Geld, sondern Leidenschaft. 

Aber Experten sagen: Die Filme müssen ganz klar einiges gekostet haben.

Echte Experten wissen, dass man einen billig produzieren Film am Ton erkennt. Für schöne Bilder braucht man heutzutage eine gute Kamera (leiht man sich von Freunden), eine Software namens DaVinci (kostet nichts) und jemanden, der damit umgehen kann. Für guten Ton ist etwas mehr Aufwand notwendig. Aber wenn man den auch mit Bordmitteln produziert, dann empfiehlt sich die Entrauschungssoftware „Brusfri“ der schwedischen Firma Klevgrand (Kostenpunkt €59.99, falls nicht gerade mal wieder eine Sonderaktion läuft), und für schöne Filmmusikklänge empfiehlt sich das kostenlose Plugin „Labs“ des britischen Anbieters Spitfire Audio.

Ich habe gesehen, dass du Unterstützer von „1 bis 19“ bist. Bei deren „Stimmen unserer Mitglieder“ bin ich über dieses Statement hier gestolpert: »Ein Stück Stoff dient wieder dazu, die Menschen in Gut und Böse zu trennen. Vor allem in Deutschland sollten wir es besser wissen.« Was hältst du davon? Desavouiert das nicht das ganze Unterfangen für dich? Meines Erachtens ist das Holocaust-Verharmlosung.

Dieses Statement rückt andere in die Nähe des Nationalsozialismus und ist damit indiskutabel. Man sollte andere nicht in die rechte Ecke stellen. Ich habe den Verein darauf hingewiesen und sie haben das Zitat entfernt. Mir ist jedoch nicht klar, wieso hierdurch das Anliegen von 1bis19 desavouiert sein soll. Sorge um unsere Grundrechte hat mit NS-Positionen nicht so viel zu tun. Wir sollten über Inhalte reden, anstatt uns gegenseitig in irgendwelche Ecken zu stellen. Lesen Sie sich mal das Positionspapier durch, es ist hervorragend.

Auf Ihrem Twitter-Feed teilen Sie die Website der „Freien Linken“. Wie stehen Sie zu der Organisation? Sind Sie Mitglied oder Teilnehmer der Telegram-Gruppe?

Mein Herz schlägt für die gute alte linke Idee der Solidarität. Ich fragte mich seit einem Jahr, wo die linke Kritik an den Corona-Maßnahmen bleibt. Dann tauchte diese Gruppe auf. Der Chat ist ungeheuer aktiv, und zumindest mir erscheint er im Duktus und Inhalt wie eine linke Diskussionsgruppe, wobei ich natürlich nicht ausschließen kann, dass da auch Unholde oder  Undercover-Journalisten mitdiskutieren.

Wie beurteilen Sie sinngemäße Aussagen von Querdenken-Gründer Michael Ballweg, der keine Unterschiede zwischen rechts und links macht, solange man für die „gemeinsame Sache“ kämpft? 

Ich würde gern dafür kämpfen, dass die Kritik an den Corona-Maßnahmen wieder da ankommt, wo sie hingehört: In der Mitte der Gesellschaft. Dafür möchte ich mich gemeinsam mit Menschen einsetzen, die mir sympathisch sind. Menschen, die andere Menschen abwerten, ausgrenzen und dehumanisieren, sind mir nicht sympathisch, und mit denen kämpfe ich nicht gemeinsam.

Sympathisieren Sie mit den friedlichen Demonstrationen von Querdenken 711? Oder braucht es eine andere Alternative, um den Unmut über die Politik auf die Straße zu tragen? 

Ich sympathisiere mit jedem Menschen in diesem Land, der ein Leben in Frieden, Freiheit, Gleichheit und Solidarität führen will. Nach Medienberichten, in denen die Teilnehmer dieser Demos als seltsame Trolle dargestellt wurden, ging ich im Sommer 2020 mal hin, um mir das anzuschauen, und sah dort in auffälligem Kontrast zu den Berichten die Mitte der Gesellschaft versammelt: 90% Normalos und Normalinas, 5% Spinner:innen, 5% obskure Gestalten, bei denen man nicht so genau sagen kann, ob sie vom Bayerischen Geheimdienst waren oder vom Parkour-Verein Tempelhof oder vom Mars. Angesichts der medialen Berichterstattung und auch des robusten Auftretens der Polizei erscheinen mir Demos aber zur Zeit nicht besonders sinnvoll.

Stecken Sie hinter dem SoundCloud-Pseudonym „Noisy_Nancy“ und wenn ja, wieso haben Sie einzelne Songs wieder gelöscht? 

Das Profil ist meins. Im ersten Lockdown dachte ich mir: Jetzt sind die Clubs zu, jetzt mache ich elektronische Musik. Die Tracks, die dort entstehen, hantieren stets mit verfremdeten Stimmsamples. Der Song, den Sie meinen, ist ein Remix. Im Netz kursierte ein Video, in dem jemand mit einem Auto durch irgendeine Stadt fuhr, aus dem eine lautstarke Computerstimme völlig emotionslos einen obszönen Text gegen die Maßnahmen aufsagte. Ich dachte mir: Warum macht der das? Wieso muß er seine Stimme so verstärken? Und wieso ruft er das nicht selber, sondern nimmt eine Computerstimme, also die anonymste aller Stimmen? Vielleicht macht er es, weil er tatsächlich keine Stimme hat. Die, die unter den Maßnahmen leiden, werden von der Politik nicht gehört. Ich kenne Leute, die 800€ Hilfe kriegen und 900€ Miete zahlen. Menschen stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Und diese Not treibt dann jemanden zu so einer verzweifelten Ein-Mann-Demo, die fast einer absurden Kunstperformance gleicht: Er setzt sich ins Auto, fährt durch die Stadt und delegiert seinen Protest an eine anonyme Computerstimme. Aus diesem Impuls entstand der Remix. Kunst ist auch dazu da, diesen maximalen Tabubruch kurz explodieren zu lassen – um sich abzureagieren, oder um eine Debatte zu öffnen. Ein Punksong dauert zwei Minuten. Die Maßnahmen dauern jetzt ein Jahr, und das führt dann zu solchen Aktionen. Als unser Shitstorm losging, wollte ich den Song in diesem Kontext nicht unbedingt um die Ohren gehauen bekommen und habe ihn daher vorübergehend entfernt. Ich kann ihn aber durchaus vertreten und werde ihn irgendwann wieder einstellen, wenn wir alle etwas friedlicher auf diese Zeit zurückschauen können. Einstweilen hätte ich Lust, einen neuen Song zu produzieren, diesmal mit echten Stimmen. Ich glaube, was wir jetzt brauchen, ist eine Stimmung namens: Wir machen auf. Wir packen an. Wir kriegen das hin. Wir krempeln die Ärmel hoch. Die Leute sind nicht nur pandemiemüde, sondern auch pandemierfahren und außerdem tatendurstig. Man muß Ihnen jetzt endlich mal Eigenverantwortung zugestehen und sie „empowern“. Wenn mir also ein paar Leute solche kurzen Sprachaufnahmen schicken möchten, dann würde ich mit Freude einen Song daraus stricken. Mailadresse steht im Impressum.

Im Interview mit dem Fernsehsender Welt sagen Sie, man müsse endlich wieder alles aufmachen. Sind Sie also für eine sofortige Beendigung aller Maßnahmen inklusive Maskenpflicht etc.? 

Ich bin dafür, diese Option nicht von vornherein aus dem Diskurs auszuschließen. Verschiedene amerikanische Bundesstaaten haben es uns ja vorgemacht, auch schon vor der Impfung. Wir können hier nur sinnvoll diskutieren, wenn keine mögliche Position von vornherein verboten ist. Und ich bin auf alle Fälle dafür, den Leuten wieder mehr Entscheidungsfreiheit zu geben. Ich glaube, dass die Menschen gut verstehen, wie sie für sich und andere sorgen können, wenn man auf sie zugeht und sie aufklärt, anstatt mit Regeln und Zwängen zu arbeiten. Nach einem Jahr Pandemie sind die Leute bereit dafür. Wir schaffen das.

Stecken Sie mit einem gewissen Paul Brandenburg unter einer Decke?

Ich unterstütze die Arbeit der von Paul Brandenburg mitgegründeten Initiative 1bis19, weil ich die Aussagen ihres oben bereits erwähnten Positionspapiers für richtig halte. Darüber habe ich Paul Brandenburg kennengelernt und halte ihn für einen integren Mediziner und Staatsbürger. Volker Bruch erging es genauso: Er las das Positionspapier und war überzeugt. Wenn die Initiative 1bis19 durch dieses mediale Interesse jetzt mehr Bekanntheit erfährt, dann freut mich das, denn in der bisherigen Berichterstattung war Corona-Prostest ja immer eine Sache von Spinnern. Aber das stimmt eben nicht. Es ist ein Anliegen, das in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft gehört.
NACHTRAG, 2.5.2021 14h04:
Mon dieu, jetzt hat der Tagesspiegel aber nachgelegt. Ein solches Geraune mit unscharfen Begriffen wie „Nähe“ und Kontaktschuld erscheint mir hochproblematisch, und die Vermutung eines geheimen Netzwerks in der Filmbranche ist ja selbst eine Art Verschwörungstheorie. Anscheinend hat man beim Tagesspiegel Schwierigkeiten mit dem Gedanken, daß Kritik an den derzeitigen Maßnahmen eine Sache breiter Schichten sein könnte, und spinnt lieber Theorien, in denen ein finsterer Hintermann andere manipuliert. Also: Die Initiative 1bis19 war an der Produktion von „allesdichtmachen“ in keiner Weise beteiligt. Weder floß Geld noch wurde dienstgeleistet noch sonst irgendwas. Die Aktion wurde initiiert aus dem gemeinsamen Willen einer Gruppe von Schauspieler:innen, Kritik an den Corona-Maßnahmen zu äußern. Ich stieß dazu, und die Aktion nahm Gestalt an. Ansonsten stimme ich garantiert nicht mit allen Aussagen von Paul Brandenburg überein, er vermutlich auch nicht mit allem, was ich von mir gebe, aber da sollten wir uns wiederum alle einig sein, dass das Selbstverständlichkeiten sind. Herr Brandenburg wusste im Vorfeld von der Aktion, aber da war er nicht der einzige – sehr viele deutsche Schauspieler:innen und Filmschaffende wussten davon, meine Bandkollegen wußten davon, alle meine Freunde und viele Bekannte wussten davon. Wenn mehrere Leute in einem Netzwerk zahlreiche weitere Leute für eine gemeinsame Aktion anfragen, macht Geheimhaltung keinerlei Sinn.

Aber wir haben da was rausgefunden: Im Impressum auf Ihrer Website steht dasselbe Postfach wie bei diesem Paul Brandenburg..!

Dort stand bis vor einer Woche die Adresse des Arbeitsraums, den ich mir mit Freunden teile. Als der Shitstorm losging, wollte ich diese Freunde aber vor jeder noch so entlegenen Gefahr einer Belästigung schützen und bin daher vorübergehend Untermieter in Paul Brandenburgs Postfach geworden. Ich muß gestehen, dass ich ein gewisses Vergnügen daran empfand, Investigativjournalisten diese Freude zu bereiten. Hätte ich eine Verbindung zu 1bis19 verschleiern wollen, dann hätte ich schon eine andere Adresse gefunden. Es war nicht als Dauerlösung gedacht und ist auch schon wieder vorbei, denn jetzt steht im Impressum meiner Website die Anschrift meines Medienanwalts, der ein sehr friedfertiger Mensch ist, aber dennoch in der Lage, Verleumdung und üble Nachrede als solche zu benennen. Das mußte anscheinend sein. Wie auch immer: Ich habe nichts zu verbergen.

Im Einladungstext der Aktion ist von „Propaganda“ die Rede. Finden Sie das legitim, die Kommunikation der Bundesregierung als Propaganda zu bezeichnen? Die meinen es doch nur gut. Propaganda ist das, was die Bösen machen.

Ich möchte diese Frage strukturell betrachten und nicht moralisch. Und zwar, weil die Struktur die Moral offenlegt. In der Wikipedia steht: „Propaganda bezeichnet…die zielgerichteten Versuche, politische Meinungen oder öffentliche Sichtweisen zu formen, Erkenntnisse zu manipulieren und das Verhalten in eine vom Propagandisten oder Herrscher erwünschte Richtung zu steuern.“ Was sehen wir in der Kommunikation der Regierung, also z.B. bei „Besondere Helden“, „Wir bleiben zuhause“ oder „Meine Disziplin ist die beste Medizin“? Die Maßnahmen, also etwas äußerst Unangenehmens, das uns in der Essenz unseres Menschseins trifft und nebenbei viele Leute massiv finanziell und gesundheitlich schädigt, werden uns als nett, harmlos und irgendwie lustig verkauft. Es findet also eine Umwertung statt. Der Begriff „Propaganda“ hat in der Tat eine abwertende Konnotation, man sagt heute „PR“ dazu, aber man könnte fragen, ob diese Umbenennung nicht selbst schon wieder PR oder Propaganda ist. Es hängt am Ende davon ab, ob man ein feststehendes moralisches Bewertungssystem hat, also eine Doktrin, die die Welt zuerst in Gut und Böse einteilt und sie dann erst betrachtet – oder ob man ein  diskursives Weltverständnis pflegt, in dem man sich zunächst auf Werte und Normen einigt, dann die Phänomene analysiert, sie mit dem Wertesystem abgleicht und dann über ihren moralischen Wert entscheidet. Wenn wir uns darauf einigen, daß PR gut und Propaganda schlecht ist, dann müssen wir jetzt über den moralischen Wert einer Kommunikation befinden, die uns den Lockdown als netten Spaß verkauft. Und jetzt geht es um die Wurst. Wer doktrinär denkt, also „die Bundesregierung ist gut, und damit ist das, was sie tut, gut“, dann haben wir es hier mit PR zu tun. Denke ich jedoch diskursiv, dann betrachte ich die Struktur und sehe: Hier wird etwas Schädliches zu etwas Harmlosem umgewertet. Dieses Manöver ist unehrlich,  moralisch zumindest fragwürdig, und damit kann man es durchaus als Propaganda bezeichnen.

Hätten Sie vielleicht abschließend einen Tipp, wie wir Sie noch weitergehend diffamieren könnten? (Nein, diese Frage kam bisher nicht, aber sie steht ja  im Raum.)

Was Sie bestimmt ohnehin schon tun: Meinen gesamten Facebook-Feed inklusive sämtlicher Kommentare auf möglichst knallige Formulierungen durchsieben. Das ist alles ganz bewußt auf „öffentlich“ gestellt, weil es das ja sowieso ist. Ich zitiere nur seriöse Medien und versuche Beleidigungen zu vermeiden, auch wenn ich selbst beleidigt werde. Aber da läßt sich trotzdem bestimmt ein Zerrbild zusammenzitieren, ich rechne also mit Schlagzeilen wie „seit einem Jahr verbreitet er Querdenker-Narrative – ein Best Of“ oder so ähnlich. Sie könnten sich auch die Mühe machen, sämtliche Schauspielerinnen durchzutelefonieren, mit denen ich jemals gearbeitet habe, um herauszufinden, ob ich mich da jemals unkorrekt verhalten habe. Das wird nichts ergeben, aber sehr viel Arbeit kosten, ich empfehle es Ihnen also ausdrücklich. Andererseits würde ein solcher Themenwechsel Ihre Angriffe als Kampagne entlarven, bei der es überhaupt nicht um die Sache geht, und wäre somit für Sie eher kontraproduktiv. Sie könnten schließlich auch aus meinen Äußerungen auf sozialen Medien schließen, dass ich mich nicht immer streng an die jeweils gelten Kontaktbeschränkungen gehalten habe und vielleicht sogar andere zu Ähnlichem aufgefordert haben könnte. Ich halte es da mit Sascha Lobo: Ich mache meine eigenen Corona-Regeln. Und ich fände es schön, wenn wir da ehrlich miteinander wären, wir tun das nämlich alle. Was auch immer Sie tun, und selbst wenn es Ihnen am Ende gelingen sollte, mein Ansehen nachhaltig zu beschädigen (bisher beschädigen Sie ja eher das Ansehen Ihres Arbeitgebers) – die Videos unserer Aktion sind dennoch in der Welt, haben Wirkung erzielt und wirken weiter. Das Rad lässt sich nicht zurückdrehen.

Stimmt es, dass Sie die veraltete Schreibweise „daß“ verwenden?

Meistens schon, manchmal auch nicht. Ich gendere ja auch manchmal und manchmal nicht. Meistens verwende ich diese Schreibweise, und zwar weil ich sie schöner finde, weil ich sie klarer finde, und weil ich die Buchstabenkombination „ss“ nicht mag. Falls jetzt noch mehr Fragen zu Rechtschreibthemen kommen, würde ich dafür aber einen zweiten Thread aufmachen und mich hier wieder mehr ums Inhaltliche kümmern.

 

Was du sagst und was du tust

Noch ein kurzer Gedanke zu den Videos der Aktion #allesdichtmachen:

Natürlich kann man aus diesen Videos inhaltliche Botschaften herauslesen. Und zwar jeweils unterschiedliche. Niemand muß sich diese Standpunkte zueigen machen. Aber es sind legitime Standpunkte. Kritik an den Corona-Maßnahmen ist legitim. Kritik an der Absurdität einer Situation, in der jeder schon durch bloßes Atmen eine Gefahr für seine Mitmenschen darstellt, ist legitim. Kritik an Abstandsgeboten, die uns im Kern dessen treffen, was unsere Menschlichkeit ausmacht, ist legitim. Kritik an Ausgangssperren ist legitim. Kritik an Kontaktbeschränkungen, an die sich niemand konsequent halten kann, ist völlig legitim. Natürlich darf man diese Regeln in Frage stellen. Keines der Videos stellt Fragen, die man nicht völlig legitimerweise stellen darf.

Wir kennen es doch alle: Unter vier Augen gibt fast jeder zu, daß er die Regeln für sich etwas großzügiger handhabt und einiges auch gar nicht für sinnvoll hält. In der Öffentlichkeit sagt man dagegen: Natürlich halte ich mich an die Maßnahmen, trage Maske und so weiter. Natürlich steckt in diesem Auseinanderklaffen von Reden und Handeln eine ordentliche Portion Heuchelei. Und diese Heuchelei satirisch aufzuspießen, auch das ist völlig legitim.

Ich glaube, wir kämen als Gesellschaft weiter, wenn wir das, was wir im Privaten tun, auch öffentlich bekennen würden. Also z.B.: Ich halte mich nicht immer ganz konsequent an die Maßnahmen, weil das gar nicht möglich ist. Und ich mache mir auch manchmal Gedanken, ob sie allesamt so sinnvoll sind. Oder ob sie in unserem Leben etwas kaputtmachen, das sich so leicht nicht mehr reparieren läßt.

Oder wir bewegen uns in eine Gesellschaft, in der das öffentliche Bekenntnis streng getrennt ist von dem, was man im Privaten tut. Das wäre Doppelmoral. Wir kennen sie aus religiösen Gesellschaften. Wollen wir dorthin zurück? Ich glaube nicht.

Also lasst uns offen reden.

Können Sie dazu Stellung beziehen?

Gestern abend erreichte mich folgende Email. Ich dokumentiere sie hier, darunter mein Antwortschreiben.

Sehr geehrter Herr Brüggemann,

die Bildungsstätte Anne Frank kritisiert bei Twitter eine Ihrer Aussagen in Ihrem Clip zu #allesdichtmachen: https://twitter.com/BS_AnneFrank/status/1385536582795595778

Die Bildungsstätte schreibt: „Nach 75 friedlichen Jahren sind uns die Geschichten längst ausgegangen, wir brauchen neue (…) also (liebe Politiker) lasst es eskalieren!“ (Dietrich Brüggemann, Filmregisseur). Kleiner als NS-Vergleiche geht es nicht? (…) Wir haben mehr als genug geschmacklose KZ-Uniformen, Anne-Frank-Vergleiche und Judensterne auf Querdenken-Demos gesehen. Promis, die bei ihrer Kritik jetzt mit NS-Vergleichen operieren, bestärken eine Szene, die ohnehin kaum noch Zurückhaltung kennt.)“

Können Sie dazu Stellung beziehen?
Vielen Dank bereits im Voraus!

Mit freundlichen Grüßen
XXX
dpa

––––

Guten Tag!

Na klar. Verzeihen Sie mir, wenn ich dazu etwas ausholen muß. Man erklärt ja immer ungern den Witz, aber wenn es sein muß, voila.

Man muß schon um einige Ecken denken, um in einen Verweis auf 75 friedliche Jahre einen NS-Vergleich hineinzukonstruieren. Aber selbst das geht an der Sache vorbei.

Die Sache ist nämlich:
Wir haben es hier nicht mit einem Sachreferat zu tun, sondern mit einem eindeutig ironisch gehaltenen Video. Inhaltlich ist es eine Travestie. Dramaturgisch: Komödie. Die Figur, die da steht, ist also eine Kunstfigur und sagt Dinge, die ich als Privatmann möglicherweise genau umgekehrt sehe. Aber nicht zwingend. Einige Aussagen sind „straight“ und uncodiert, andere stehen auf dem Kopf, andere sind ins äußerste Extrem übertrieben. Um herauszufinden, was was ist, müßte man den Text decodieren und mit seinen eigenen Vorstellungen abgleichen. Das ist die Aufgabe des Zuschauers in der Komödie.

Man kann in diesem Video die Aussage finden, daß die darstellende Kunst ihre Stoffe oft dort sucht, wo es Menschen schlecht geht. Krisen sind Stoff für Bücher und Filme.

Man kann dort auch Kritik an diesem Sachverhalt herauslesen und sich fragen: Muß das so sein? Und: Stimmt das überhaupt?

Man kann sich dann daran erinnern, daß die NS-Zeit ja wirklich oft herhalten muß für Filme jedweder Qualität. Man könnte auch hieran Kritik herauslesen. Sollte die ARD vielleicht mal ihre Stoffe woanders finden? Vielleicht brauchen wir gar nicht so viele historische Schmonzetten?

Man kann sich fragen: Stimmt es, daß die Corona-Zeit eines Tages Stoff für Historienepen hergeben wird? Also: Könnten all diese Bilder von Polizeigewalt, die wir derzeit sehen, vielleicht eines Tages wirklich umcodiert werden von „gerechtfertigt“ zu „skandalös“?

Man kann nicht zuletzt auch die Aussage herauslesen, daß diese Zeit für viele Menschen aus vielen Gründen eine ungeheure Belastung ist, und je drakonischer die Regierung agiert, desto größer ist die Belastung.

Was man jedoch nicht herauslesen kann, ist die Aussage „das ist jetzt wie damals“. Der ironische Aufruf zur Eskalation enthält nämlich klar die Aussage: Das ist jetzt nicht wie damals. Ganz einfach.

Was auch immer man aus dem Text herausliest – Komödie lebt stets von der optimistischen Annahme, daß es zwischen Werk und Publikum einen Grundkonsens gibt. Dieser wird in der Komödie stets aufs Neue getestet und neu austariert. Wer diesen Grundkonsens aufgibt und dem anderen nur noch Böses unterstellt, der spielt seine eigene Komödie, und die heißt: Von einem der auszog, überall Nazis zu entlarven. Und die ist ähnlich traurig wie die Geschichte vom Mann, für den die Welt aus Nägeln besteht, weil er nur einen Hammer besitzt.

Beste Grüße
Dietrich Brüggemann






Wie es jetzt weitergeht

Wer mir vor einem Jahr erzählt hätte, daß im Februar 2021 in der Zeitung unter „Kriminalität“ stehen würde, daß die Polizei einen illegalen Kindergeburtstag aufgelöst hat, dem hätte ich einen an der Waffel bescheinigt. Ist jetzt aber Realität. Als Drehbuchautor kann ich da nur staunen – und mir ein Beispiel nehmen. Ab sofort geht einfach alles. Zum Beispiel die folgende Chronologie einer möglichen Zukunft. Die denke ich mir jetzt aus, und wer mir erzählen will, das sei unrealistisch, den schicke ich auf einen aufgelösten Kindergeburtstag.

16.3.2021
Die Inzidenzwerte sinken langsamer. Das RKI etabliert daher einen neuen Indikator, die sogenannte Sinkrate S, die anzeigt, wie schnell die Werte sinken. S=1 bedeutet, daß die Zahlen so schnell sinken wie im Durchschnitt der Vorwoche. Höhere Werte bedeuten schnellere Sinkgeschwindigkeit. Damit wäre zum ersten Mal ein Wert etabliert, bei dem nicht mehr möglichst niedrige, sondern möglichst hohe Zahlen erstrebenswert sind. Man verspricht sich davon mehr Akzeptanz. Außerdem ist „die Zahlen sind niedrig“ jetzt genauso eine schlechte Nachricht wie „die Zahlen sind hoch“.

18.3.2021
Eine Gruppe von Epidemiolog*innen, Virolog*innen, Mathematiker*innen und Statistiker*innen weist mit einer Modellrechnung nach, dass 167,3% sämtlicher Wissenschaftler*innen weltweit die No-Covid-Strategie unterstützen.

21.3.2021
Umfragen zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit der Deutschen den Maßnahmen der Regierung umfassendes Vertrauen entgegenbringt.

24.3.2021
Modellrechnungen ergeben, daß die fünfte Welle, die uns ab November treffen wird, um 38% schlimmer wird als bisher berechnet.

27.3.2021
Die Sinkrate S ist schon wieder gesunken. Das RKI schlägt einen neuen Wert vor, der die Sinkgeschwindigkeit der Sinkrate mißt: Die sogenannte Meta-Sinkrate, abgekürzt Meta-S. Spätestens jetzt weiß niemand mehr, wovon eigentlich die Rede ist. Der Gesichtsausdruck von Nachrichtensprechern beim Verkünden besorgniserregender Meta-S-Werte bleibt aber unverändert besorgt.

1.4.2021
Regierungssprecher Seibert verkündet ein Ende aller Maßnahmen ab dem 2. April.

2.4.2021
April, April.

6.4.2021
Weil der S-Wert chronisch zu niedrig und Meta-S weiterhin besorgniserregend hoch ist, spricht die Kanzlerin ein Machtwort, und Deutschland bleibt bis Anfang Juni 2021 im Lockdown. Umfragewerte zeigen, daß eine breite Mehrheit der Deutschen der Regierung weiterhin großes Vertrauen entgegenbringt.

9.4.2021
Die brasilianische Mutante hat sich mit der norwegischen Mutante gepaart und eine sogenannte Hybride hervorgebracht. Die brasilianisch-norwegische Hybride ist nochmal um 42% infektiöser als alle bisher bekannten Varianten, verursacht bei 98% der Infizierten keinerlei Symptome und bei den übrigen 2% leichte Übelkeit. ARD und ZDF schalten sich zusammen für eine dreistündige Sondersendung unter dem Titel „Die Horror-Hybride – müssen wir noch mehr Angst haben?“

11.4.2021
Die Horror-Hybride hat bisher niemanden getötet. Karl Lauterbach erläutert bei Maischberger, warum die gute Nachricht eigentlich eine schlechte ist.

14.4.2021
Ein Messebauer aus NRW, ein Reiseveranstalter aus Husum und ein Restaurantbetreiber aus Niederbayern, die ihre Betriebe und gesamtes Vermögen samt Haus und Hof und Ersparnissen verloren haben, ketten sich an den Zaun vorm Kanzleramt, übergießen sich mit Benzin und zünden sich an.

16.4.2021
Fotos von den brennenden Menschen vorm Kanzleramt verbreiten sich in sozialen Medien und Messengerdiensten.

17.4.2021
„Selbstverbrennung“ trendet auf Twitter. BILD veröffentlicht ein Foto von drei verkohlten Leichen. Umfragen zeigen, dass die Deutschen der Regierung weiterhin voll vertrauen.

18.4.2021
Die ARD Faktencheck zu den Selbstverbrennungsbildern: Der Messebauer hatte bereits vor der Pandemie einen Kredit aufgenommen hatte, war also verschuldet, der Restaurantbetreiber war schon vor der Pandemie beim Konsum von Alkohol beobachtet worden, war also Alkoholiker, und der Reiseveranstalter hatte schon vor der Pandemie eine Scheidung hinter sich, war also aus privaten Gründen verzweifelt. Resultat: „Selbstverbrennung aus Verzweiflung wegen Corona“ ist Fake News. Und über Suizide soll ja ohnehin möglichst nicht berichtet werden.

19.4.2021
BILD kassiert eine Rüge vom Presserat wegen sensationslüsterner Berichterstattung. Politiker aller Fraktionen zeigen sich besorgt über die unkontrollierte Verbreitung von Fake News in Messengerdiensten. Die Grünen fordern ein Gesetz, das Presseberichte über Suizide generell unter Strafe stellt. Daraus wird ein Hashtag, Menschen gehen auf die Straße, eine NGO gründet sich. Die Kanzlerin zeigt sich sehr emotional bewegt über diese Bewegung und verspricht, das Thema bevorzugt zu behandeln.

20.4.2021
Die Umfragewerte für die Regierung sind auf einem Allzeithoch. Der Meta-S-Wert allerdings auch.

23.4.2021
In Schwäbisch Hall verbrennt sich auch jemand.

25.4.2021
Die Anstalten der ARD ändern ihre Richtlinien. Bisher kamen Masken und Abstand in den deutschen Fernsehfilmen nicht vor. Das ändert sich. Was ab jetzt gedreht wird, spielt in der Corona-Welt. Dabei stellt sich jedoch heraus, daß das alles irgendwie monströs wirkt, sobald man eine Kamera draufhält. Also hält man die Schauspieler dazu an, sich besonders natürlich und fröhlich zu geben, und schreibt außerdem zahlreiche Sätze in die Dialoge, in denen die Akteur*innen sich gegenseitig bestätigen, wie wunderbar sie auf sich und andere achtgeben. Es funktioniert nicht so richtig, das filmische Endergebnis wirkt dadurch noch seltsamer, aber das stört nur ein paar übersensible Regisseur*innen. In den Chefetagen der Sender*innen wird das Problem nicht so wahrgenommen. Außerdem zeigt sich, daß man Dreharbeiten deutlich effizienter durchführen kann, wenn die Schauspieler*innen Masken tragen, man kann nämlich den Ton einfach weglassen, kommt fast immer mit einem einzigen Take hin und ist dreimal so schnell. Der gesamte Dialog wird dann hinterher an zwei Tagen im Studio aufgenommen. Auf diese Art reichen für einen „Tatort“ 14 Drehtage. Regisseur*innen und Schauspieler*innen protestieren zaghaft, aber dann distanzieren die Schauspieler*innen sich von dem Protest, weil ihnen irgendjemand begreiflich macht, daß durch diese neuen Regeln das Textlernen wegfällt.

29.4.2021
Irgendjemand gibt irgendwo ein Interview und macht auf die schwierige Situation der Künstler*innen aufmerksam.

2.5.2021
Die Regeln für die Öffnung des Einzelhandels werden veröffentlicht. Alle Mitarbeiter*innen müssen geimpft sein, Termine müssen mindestens zehn Tage vorher vergeben werden, und pro 100qm Ladenfläche ist nur ein Kunde zugelassen. Über letztere Regel verbreitet sich Hohn und Spott, da viele Läden kleiner als 100qm sind. Der Hashtag #Aufmachenaberkeinenreinlassen trendet. Unabhängige Faktenchecker*innen klären jedoch auf: Auch kleinere Läden dürfen sehr wohl einen Kunden reinlassen, sofern halt der*die Verkäufer*in so lange rausgeht, bis der*die Kund*in wieder weg ist. Die Behauptung, Läden unter 100qm dürften niemanden reinlassen, ist also Fake News.

13.5.2021
Die CDU-Bundestagsabgeordneten X. und Y., zuständig für die Einzelhandels-Mitarbeiter-Impfkampagne #ImpfenFürsÖffnen, geben ein Interview, in dem sie sich kritisch über die Corona-Politik der Kanzlerin äußern.

15.5.2021
Der Hashtag #ImpfenFürsÖffnen beherrscht einen Tag lang die deutsche Twittersphäre. Einen Tag später kommt heraus, daß das nicht an den deutschen Twitter-User*innen lag, sondern an einem Botnetzwerk, das von einer IT-Firma betrieben wird, die dem Neffen des Schwagers der Gattin des CDU-Abgeordneten X gehört.

16.5.2021
X und Y entschuldigen sich, treten von allen Ämtern zurück, verlassen Fraktion und Partei. Der Hashtag „TrotzdemImpfenFürsÖffnen“ wird platziert, kommt aber nicht richtig aus dem Knick.

17.5.2021
Die Umfragewerte für die Regierung sinken kurzzeitig unter 50%. Angela Merkel tadelt die Bevölkerung und erklärt in einem Interview, die Deutschen müßten die Maßnahmen akzeptieren, Freude sei dabei nicht zwingend notwendig, aber durchaus hilfreich, das könne sie aus ihrer Lebenserfahrung als DDR-Bürgerin sagen.

25.5.2021
Fünfzig Top-Influencer*innen schließen sich zusammen und produzieren für die ARD eine crossmediale Serie namens #Sofasommerurlaub.

27.5.2021
Beim Dreh von #Sofasommerurlaub wurden offenbar im großen Stil die Abstands- und Hygieneregeln verletzt: Zwei Influencer wurden dabei beobachtet, wie sie sich umarmten. Die Serie wird gestoppt, es kommt zu einer Untersuchung, die Influencerin Lisa K. (21) wird von allen Kanälen gelöscht.

1.6.2021
Der Einzelhandel öffnet, allerdings nur zu 17 Prozent. 41% der Läden bleiben geschlossen, weil sie pleite sind, 23% öffnen nicht, weil sie kleiner als 100qm sind und somit niemanden reinlassen dürften, und 19% bleiben geschlossen, weil nach der Impfung sämtliche Mitarbeiter krankgeschrieben sind. In der Tagesschau läuft ein herzerwärmender Bericht über ein Schuhgeschäft in der Dortmunder Innenstadt, das geöffnet hat, und der Besitzer erzählt, wie sehr er sich über die Impfung gefreut hat.

9.6.2021
Die Ex-Influencerin Lisa K. hat jetzt ihren eigenen Telegram-Kanal, warnt vor den Gefahren der Corona-Impfung und beschimpft Bill Gates.

12.6.2021
Ein Jugendlicher, der in einem Park in Hamburg mit einem Freund auf einer Bank Bier getrunken hat, wird von der Polizei kontrolliert, rennt weg, wird gejagt, stürzt dabei eine Mauer hinunter und stirbt an seinen Verletzungen. Einen Tag lang große Aufregung. Dann geht alles weiter seinen Gang.

17.6.2021
Klaus Schwab, Gründer des Weltwirtschaftsforums und Autor des Buches „The Great Reset“, stirbt im Alter von 83 Jahren an einem Schlaganfall. In der Szene der Corona-Kritiker breitet sich Verwirrung aus: Ist das Fake? Ein Ablenkungsmanöver? Ein cleverer Schachzug?

18.6.2021
Die Außengastronomie öffnet mit Maskenpflicht, Terminvergabe, Schutzanzugpflicht und Verzehrverbot (weil man ja dafür die Maske abnehmen müßte). Man kann halt einfach so am Tisch sitzen. Die Wirte erheben eine Verweilpauschale von 7€ pro Stunde und starten eine Kampagne, in der kommuniziert wird, daß man auch Spaß im Biergarten haben kann, ohne etwas zu trinken.

20.6.2021
Karl Lauterbach und führende Virolog*innen äußern sich entsetzt über die Öffnung der Außengastronomie.

28.6.2021
S, Meta-S und Inzidenzwert steigen bzw. sinken. Neuer Lockdown ab sofort. Einzelhandel wieder dicht. Merkt aber keiner.

30.6.2021
Die Umfragewerte für die Regierung sind weiterhin unverändert gut, aber Meta-Umfragen, (also Umfragen über das Vertrauen in Umfragen) zeigen, daß nur noch 18% der Deutschen überhaupt etwas auf Umfragen geben.

15.7.2021
In den meisten anderen Ländern Europas ist alles wieder offen und in Amerika sowieso. Bilder von fröhlich feiernden Menschen verbreiten sich im Netz. Ein Leitartikel im „Spiegel“ sagt, daß wir uns von solchen Bildern nicht irreleiten lassen sollten, und brandmarkt das unkritische Teilen solcher Bilder als gefährlich, weil es die Disziplin untergräbt und rechten Corona-Leugner*innen in die Händer spielt. Der Hashtag #nichthingucken verbreitet sich auf Twitter.

20.7.2021
Ganz Großbritannien ist geimpft. Halligalli auf Mallorca: Halbnackte Engländer*innen tanzen auf den Tischen. Die Bild-Zeitung ist außer sich. Jetzt kippt die Stimmung im Land so richtig. Führende Politiker distanzieren sich von Angela Merkel. Es kommt zu Massendemos. Die Umfragewerte für die Regierung sind unverändert gut.

21.7.2021
Die Kanzlerin verkündet ihren Rücktritt und vorgezogene Neuwahlen und dass sie persönlich sehr enttäuscht ist über die Kampagnen, die Deutschlands Erfolge im gemeinsamen Kampf gegen das Coronavirus in den Schmutz ziehen, und daher nochmal antreten wird. Die Umfragewerte für die Regierung sind unverändert gut.

30.7.2021
Vorgezogene Neuwahlen. 48% CDU, 23% AfD, 19% Grüne, Rest Splitterparteien. SPD und FDP scheitern an der 5%-Hürde.

2.8.2021
Spaßeshalber macht das Allensbach-Institut gleich nach der Wahl wieder eine Wahlumfrage. Erstaunliches Ergebnis: Niemand würde die AfD wählen.

15.8.2021
Die neu formierte Bundesregierung ist die alte. Angela Merkel bedankt sich für das Vertrauen der Wähler*innen und verspricht weiter Augenmaß bei Bekämpfung der Pandemie, aber auch ein paar harte Monate. Lockdown zunächst bis April 2022.

30.8.2021
Unkontrolliertes Verbreiten von Bildern aus dem feiernden Ausland wird unter Strafe gestellt.

Oktober 2021
Der Euro wackelt. In der Finanzwelt passiert irgendwas, von dem keiner genau sagen kann, was es eigentlich ist und wie es passieren konnte, aber irgendwas schlimmes passiert, soviel ist sicher.

November 2021
Ein Großteil der deutschen Betriebe ist pleite. Beinahe neun Millionen Arbeitslose. Wer kann, verläßt das Land. Die Umfragewerte für die Regierung sind unverändert gut.

Dezember 2021
Sämtliche Euro-Staaten treten aus dem Euro aus, nur Deutschland bleibt drin.

Februar 2022
Angesichts der Auswanderungswelle sichert Deutschland seine Grenzen mit Zaun und Stacheldraht (was ziemlich viel Aufwand bedeutet) und läßt niemanden mehr raus. In rechtslastigen Internetmedien wird behauptet, es werde eine „Mauer“ gebaut, aber unabhängige Faktenchecker*innen entlarven diese Behauptungen als Fake News – nirgendwo steht eine Mauer, es sind überall nur Zäune.

März 2022
Angesichts verschiedener Versuche des unberechtigten Grenzübertritts wird diskutiert, ob man einen Schießbefehl erlassen darf. Wohlgesetzte Beiträge in den Qualitätsmedien diskutieren auf hohem Niveau das Pro und Contra.

April 2022
Hyperinflation in der Euro-Zone (also Deutschland). Ein Brötchen kostet elf Milliarden Euro. Währungsreform: Die neue Währung ist digital und heißt E-Mark.

Mai 2022
Der Schießbefehl an der Außengrenze tritt in Kraft.

Juli 2022
Die Welt feiert mit großen Partys in allen Hauptstädten das Ende der Pandemie. In Deutschland berichten nur rechtslastige Internetmedien darüber.

August 2022
Mit dem „Gute-Nachrichten-Gesetz“ werden sämtliche Medien unter die Aufsicht der Landesmedienanstalten gestellt. Es wird betont, dass das keine zentrale Zensur darstellt, denn der Bund hält sich ja aus der Sache heraus.

Ende 2022
Wieder Inflation in Deutschland. Ein Brötchen kostet 28.000 E-Mark. Als Schwarzmarktwährung etablieren sich alte Euro-Münzen, was jedoch sehr schnell unter drakonische Strafen gestellt wird. Jeder Bürger kriegt ab sofort Lebensmittelrationen frei Haus geliefert und darf nur noch zum Arbeiten raus. Harter Lockdown bis Weihnachten 2024. Die schwarzgrüne Koalition verkündet die „Stunde des Lichts“ – ab sofort gibt es elektrischen Strom nur noch von 8 bis 20h.

Anfang 2023
In einer emotionalen Kampagne setzen Prominente sich dafür ein, den Strom doch abends erst um 21h abzudrehen. Eine Stunde mehr Licht für unsere Lieben. Die Regierung hat ein Einsehen.

Ab 2025
Die Welt kommt langsam wieder auf die Beine. Es kommt zu einer allmählichen, retrospektiven Neubewertung der Corona-Maßnahmen. Vielleicht waren Lockdowns doch gar keine so gute Idee. Von Deutschland hat schon seit längerer Zeit niemand mehr etwas gehört.

Ab 2030
Die künstliche Intelligenz ist inzwischen so weit, daß man sich mit ihr unterhalten kann wie mit einem Menschen. Über die ganze apokalyptischen Befürchtungen aus der Anfangszeit der KI lacht man nur noch. Niemand würde die KI mit einem Menschen verwechseln, denn sie hat keinen Willen, keinen Spieltrieb und kein Ego. Sie ist jedoch ein sehr nützliches Werkzeug, um die typischen kognitiven Verzerrungen des Menschen auszugleichen. Bei der Analyse von dreihunderttausend Terabyte Daten aus der Corona-Zeit kommt heraus, daß die Menschheit hier mit voller Wucht in eigentlich altbekannte Fallen gelaufen ist: Confirmation Bias, Kontrollillusion, Ambiguitätsintoleranz, Sunk-Cost-Fallacy, Groupthink, Massenhysterie und so weiter. Künftige Regierungen werden weltweit verpflichtet sein, ihre Entscheidungen von einer KI absegnen zu lassen, die im Zweifelsfall sagt: Nein, das laßt ihr gefälligst bleiben, das fühlt sich zwar jetzt gerade gut an, ist aber insgesamt eine schlechte Idee.

2040
Systemwechsel in Nordkorea. Offene Grenzen und freie Wahlen. Von Deutschland weiß eigentlich keiner mehr irgendwas. Das letzte, was an die Weltöffentlichkeit drang, waren herausragende Umfragewerte.

Es ist nicht kompliziert





Es ist ganz einfach: Der Staat darf nicht eine Gruppe von Bürgern aktiv schädigen, um eine andere zu schützen. Er darf nicht sagen: Ich breche dir das Bein, damit dein Mitmensch sich nicht den Arm bricht. Er darf auch nicht dem einen das Bein brechen, weil der andere sonst eine Krankheit kriegen und eventuell sterben könnte. Wenn der Staat das tut, dann ist die Linie zur Willkür überschritten. 
Es ist also eigentlich ganz einfach.



Die Debatte sieht aber trotzdem kompliziert aus. Und zwar meistens ungefähr so:



Ich sehe das ja irgendwie ähnlich, es geht mir stellenweise auch zu weit, ach herrje, seufz, schwierig, man hätte mit den Schulen, Impfungen, Kleingewerbetreibenden, und das mit der ganzen Kulturbranche ist ja auch kompliziert und ich möchte nicht in der Haut unserer Poltiker stecken, aber andererseits sind die Zahlen ja schon wieder langsamer gesunken und die Leute sind alle so unvernünftig und ohne die ganzen Leugner hätten wir das Problem gar nicht und ich finde es ja auch doof daß die Restaurantbetreiber jetzt pleite gehen und jetzt scheint die Sonne und alle gehen raus und stecken sich an und in zehn Tagen kriegen wir bestimmt die Quittung und man kann es doch nicht einfach so laufen lassen und ich selber fühle mich eigentlich kaum eingeschränkt so weiter und so weiter.



Ich mag das Wort „schwurbeln“ nicht, aber auf diese Art der Wortmeldung paßt es ganz gut.



Der Sound erinnert an Debatten, wie sie vor einigen Jahrzehnten in West- und auch Ostdeutschland über die DDR geführt wurden. Darf ein Staat eine Mauer bauen und Leute erschießen, die rauswollen? Nö. Darf er nicht. Sehr einfache Sache. Viele Intellektuelle sahen sich aber nicht in der Lage, diesen simplen Sachverhalt beim Namen zu nennen. Man hatte große Angst, sonst als „rechts“ zu gelten. Beifall von der falschen Seite, Springer-Presse, Franz Josef Strauß. Man war da in der eigenen SPD-wählenden Toskana-Soziologen-Bubble schnell untendurch. Also eigentlich war die DDR ja im Grunde, also im Prinzip, also von der Idee her, schon eine gute Idee. Nur das mit der Mauer, hmja, und der Schießbefehl, klar ist das kompliziert. Man wand sich in tausend Argumentationsschleifen und führte einen hochkomplizierten Eiertanz auf. 



Es gibt heute ein anderes Thema, bei dem wir ein intaktes Tabu haben: Die Todesstrafe. Da sagen wir ganz klar: Geht nicht. Machen wir nicht. Gibt es nicht. Man könnte sich aber durchaus eine Gesellschaft vorstellen, in der dieses Tabu kippt. In der es also doch die Todesstrafe gibt – für Kinderschänder (wird ja von rechts öfter mal verlangt) oder für rechte Gewalttäter oder was auch immer ein möglicher Zeitgeist an Opfern fordert. In dieser hypothetischen Gesellschaft wäre dann auch mal ein Unschuldiger unter den Hingerichteten, und die Debatten wären vermutlich genauso:

Nun ja, ich sehe ja durchaus, daß es kompliziert ist, man muß da abwägen, es gilt halt einerseits das Recht auf Leben und Unversehrtheit und der Abschreckungseffekt und das Risiko eines Justizirrtums ist eigentlich minimal, aber man kann das so oder so gewichten, es ist schrecklich komplex und so weiter und so fort.



Ich behaupte: Es ist in allen drei Fällen derselbe Eiertanz. Man eiert herum, weil man aus irgendeinem Grund nicht in der Lage ist, das Offensichtliche beim Namen zu nennen.



Da solche Krisen immer die Stunde der Demagogen sind, sehe ich die Kommentare schon vor mir: Jetzt ist er endgültig abgedriftet, jetzt vergleicht er die Corona-Maßnahmen mit Schießbefehl und Todesstrafe. Nein, liebe Freunde, das tue ich nicht, und wer mir das vorwirft, ist entweder böswillig oder ein bisserl deppert oder selber abgedriftet. Ich vergleiche nur die Debatten. DDR-Unrecht ist etwas anderes als hypothetische Todesstrafe für irgendwen, und das ist wieder was anderes als Corona-Maßnahmen. Es gibt jedoch ein verbindendes Element in allen drei Beispielen: Der Staat nimmt sich etwas heraus, das er nicht darf, und viele Leute schaffen es nicht, das beim Namen zu nennen.



Es sind jeweils zivilisatorische Errungenschaften. Man sperrt seine Bürger nicht ein, man erschießt sie nicht an der Grenze, man richtet Verbrecher nicht hin, und man verbietet nicht weite Teile des öffentlichen und kulturellen Lebens, woraufhin Menschen ihre Existenz verlieren, in Armut und Depression abstürzen, und Kinder und Jugendliche ein Jahr oder mehr ihrer Entwicklung versäumen (nicht weil Schule ausfällt, sondern weil ALLES ausfällt).

Lockdown, Todesstrafe und Mauerbau haben außerdem noch eine andere Gemeinsamkeit: Jeder Tabubruch ist ein Dammbruch. Wenn man mal Todesstrafe hat, kann man sie auch für immer kleinere Vergehen verhängen. Wenn die Mauer steht, ist der Schießbefehl nicht mehr weit weg. Wenn der erste Lockdown glatt durchgegangen ist und die Zahlen dann (trotz oder wegen oder mit oder an) Lockdown irgendwann gesunken sind und dann wieder hochgehen, dann dauert der zweite Lockdown doppelt so lang und bei der nächsten Grippewelle machen wir sicherheitshaber gleich wieder einen und vielleicht in Zukunft einfach jeden Winter. Und nach so einem Tabubruch, wenn die Maßstäbe dann mal verschoben sind, findet man sich typischerweise in völlig monströsen Diskussionen wieder. Man redet ganz ungerührt über Hinrichtungsmethoden respektive darüber, bei welchem „Inzidenzwert“ man vielleicht eines Tages den Leuten wieder erlauben sollte, ihren gottverdammten Beruf auszuüben und sich mit mehr als einer Person zu treffen.

An dieser Stelle wäre dann wohl mal wieder Zeit für das dööfste (ja, mit Doppel-ö) aller Argumente, man kann die Uhr danach stellen, es kommt immer, und es lautet: Du willst also, daß viele Leute sterben und die Gesundheitssysteme überlastet sind?


Klar. Jeder, der Lockdowns kritisiert, will das. Allesamt egoistische Unmenschen. 
Hier die wesentlichen Fakten. Keine Sorge, es ist ein Twitter-Thread, der liest sich schnell durch.

Wir fassen zusammen: Es sehr einfach. 
Der Staat darf das nicht. 
Punkt.

 Dieser Standpunkt war bis vor einem Jahr so selbstverständlich, daß er als Standpunkt kaum wahrnehmbar war. Ich habe ihn einfach nie verlassen. Viele andere schon. Und denen kann man jetzt zuschauen, wie sie den großen Einerseits-Andererseits-Eiertanz aufführen, gerade wo das Ganze so richtig mit Getöse an die Wand fährt und Schweden auf einmal doch besser dasteht als wir und Florida seit Ende September offen ist und die vorhergesagte Katastrophe ausblieb so weiter.



Daß es zum Risiko geworden ist, diese Selbstverständlichkeit zu sagen, gibt mir zu denken. Es ist aber auch ein Grund, es zu tun. Wozu bin ich denn überhaupt auf der Welt, wenn nicht dazu, in so einem Moment den Mund aufzumachen? 


Na gut, vielleicht dazu, meinen eigenen Allerwertesten zu retten und mir im Rahmen der Gegebenheiten ein schönes Leben zu machen? Okay. Vielleicht sollte ich allmählich dazu übergehen. Und dann werde ich eines Tages auch so Sachen sagen wie: Die Corona-Maßnahmen damals, hmja, kompliziert, mir tat das natürlich auch weh, daß so viele Leute dran glauben mußten, aber Güterabwägung, ach herrje, es ist schwierig, jedoch mein Aktiendepot hat sich bestens entwickelt, hallo Ludmilla, Sie können jetzt im Salon staubsaugen, und sagen Sie dem Gärtner, daß er einen neuen Strauß Rosen in die Eingangshalle stellen soll.



Klingt  auch gar nicht verkehrt, dieses Szenario.

Der Balken im Fernseher des anderen

Ich bin ein Freund der Breitwandformate. Ich finde sie einfach schöner. Man kriegt da mehr Landschaft ins Bild, mehr Menschen, mehr von allem. Sollte ich eines Tages einen Film über Kirchtürme oder Raketenstarts oder eine Liebespaar mit 60cm Größenunterschied drehen, würde ich den vielleicht in einem traditionelleren Format drehen. Ansonsten sehe ich da keinen Grund. Wenn man nun aber „Tatorte“ macht, dann ist die Formatfrage politisch und neurotisch aufgeladen. Es könnten sich ja Zuschauer beschweren, und das wird beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk sehr ernst genommen, zumindest wenn es um so harmlose Sachen geht. Bei „Stau“ haben wir noch fröhlich im Scope-Format 1:2,35 gedreht und das einfach den vielen VFX in die Schuhe geschoben. Bei „Murot und das Murmeltier“ war es dann von ganz oben verboten, wir fügten uns zähneknirschend und drehten in 16:9. Bei „Das ist unser Haus“, der am vergangenen Sonntag lief, entschieden wir uns für das Zwischenformat 1:2, das sich in den letzten Jahren sehr verbreitet hat. Und dann geschah das Schreckliche: Eine Zuschauerbeschwerde. Jemand äußert sich durchaus lobend zun Film, aber dann schreibt er:

Sie senden einen Tatort aus mit schwarzen Streifen oben und unten auf dem Bildschirm unseres Sony Bravia Fernsehers, bei dem der Bildschirm fast keinen Rand hat. Habe ich 8% meiner GEZ Gebühr nicht bezahlt oder soll damit die gewünschte Gebührenerhöhung erzwungen werden? Spaß beiseite: Schicken Sie bitte dem Macher dieses Tatorts meine Mail, er
möchte mir mal erklären, was das soll? Manche Köpfe und Schuhe sind abgeschnitten und müßten das bei voller Ausnutzung des 16 zu 9 Formates gar nicht sein! Welche künstlerischen Wert hat es, das Bild oben und unten 4% zu beschneiden? Wo bleibt hier der Nutzer, der ja das Ganze bezahlt?

Sowas muß man sich natürlich zu Herzen nehmen. Also unsüffisant und unironisch, ich finde wirklich, man sollte die Leute da „abholen“ und „mitnehmen“ (und dann eigentlich auch irgendwo abliefern, aber das haben wir als Redewendung nicht im Fundus). Meine Antwort richtet sich natürlich mindestens zur Hälfte insgeheim an den SWR-Intendanten, damit ich da schon mal einen Stein im Brett habe für das völlig wahnsinnig gewordene Projekt, das ich gern als nächsten „Tatort“ drehen würde. Der soll jetzt bitte denken: Brüggemann, was für ein Teufelskerl, schreibt da so ausführlich und persönlich und postwendend. Aber ich finde, das ist legitim. Und damit der Rest der Welt auch etwas davon hat, hier mein Antwortschreiben. Ich hoffe, der SWR-Intendant leitet es auch weiter.

Sehr geehrter Herr ________,

erstmal vielen Dank für das Lob. Es freut mich sehr, daß unser Film Ihnen gefallen hat.

Zum Bildformat: Man kann hier nicht antworten, ohne einen kleinen Exkurs in die Geschichte der Filmformate zu machen. Eins jedoch vorweg: Es geht hier nie um „weniger“. Es geht und ging bei allen Änderungen des Bildformats immer um „mehr“. Mehr Bild, mehr Menschen im Bild, größere Menschen im Bild, mehr Emotion, mehr Kino, mehr Film. Niemand will was wegschneiden. Man will etwas zeigen. Mal eine Landschaft, mal eine Gruppe von Leuten, mal zwei Menschen, mal ein einziges Gesicht – je nachdem, was die Geschichte gerade verlangt. Und wenn es die Großaufnahme eines Gesichts ist, um die es jetzt geht, dann muß der Zuschauer damit leben, daß in diesem Moment keine Schuhe zu sehen sind. Das sind Entscheidungen, vor denen ich mich als Filmemacher nicht drücken kann. Ich treffe eine Auswahl, und wenn ich das gut gemacht habe, freut sich am Ende das Publikum.

Aber nun zur historischen Herleitung. Wenn Sie das alles schon kennen, bitte ich um Vergebung, dann können Sie gleich zum Ende springen. Es ist mir trotzdem wichtig, auch weil ich Ihre Frage in aller gebotenen Ausführlichkeit beantworten will.

Ursprünglich war das Bild, wie Sie vermutlich wissen, „kleiner“ – also weniger breit. Es hatte ein Format von 4:3, so wie die alten Fernseher, die wir aus unserer Kindheit kennen. In diesem Format sind alle Filme aus den ersten 50 Jahren des Kinos, und als dann das Fernsehen erfunden wurde, hatte es auch dieses Format. Wenn Sie einen Film aus dieser Zeit heute auf Ihrem Fenseher sehen würden, würden Sie links und rechts schwarze Balken sehen und vielleicht sagen: Da fehlt doch links und rechts etwas. Wird mir hier etwas vorenthalten? Hat der SWR da etwas abgeschnitten?

Aber die Frage, das erkennen Sie selbst, ist natürlich unsinnig. Wenn ich mir „Metropolis“ anschaue oder einen alten „Tatort“ oder eine alte Pumuckl-Folge (allesamt in 4:3), dann ist da links und rechts vom Bild – nichts. Da hört das Set auf. Da steht vermutlich der Tonangler und hält das Mikro. Da sitzt der Regieassistent und dirigiert die Komparsen. Da steht der Caterer und schmiert Butterbrote. Auch interessant, aber nicht Teil des Films, und ich glaube nicht, daß Sie das auf Dauer sehen wollen würden. So behandelt man als Filmemacher die Bildgrenzen: Alles, was interessant ist, kommt ins Bild rein. Alles andere bleibt draußen.

Warum sind unsere Filme dann nicht mehr in 4:3?
Für das Kino war in den 50er Jahren das Fernsehen eine neue Konkurrenz. Man mußte mehr bieten, um die Leute aus dem Haus zu locken. Also machte man das Bild größer. Und „größer“ bedeutete „breiter“ (nicht etwa „höher“, denn unsere Augen sind nun mal nebeneinander, und der Horizont ist horizontal). Die ersten Breitwandformate entstanden aber, indem man das Bildfeld auf dem 35mm-Film sogar kleiner machte. Man deckte es oben und unten ab (mit einem sogenannten Kasch). So blieb ein schmalerer Streifen vom Film übrig, und den projizierte man dann auf eine breitere Leinwand. Von der Auflösung war das dann deutlich schlechter als das alte 4:3 – man hatte ein kleineres Negativ, aber auf einer größeren Leinwand.

Dann wurde aber auch ein Verfahren namens „Cinemascope“ erfunden, mit dem man ein NOCH breiteres Bild auf dem GESAMTEN Negativ unterbringen konnte – und zwar, indem man das Bild einfach mit einem speziellen Objektiv horizontal zusammenquetschte und bei der Projektion wieder entzerrte. So war das ganze Negativ genutzt, aber diese Optiken waren anfangs gar nicht mal so toll, die machten Unschärfen und Farbsäume (das sind eigentlich technische Fehler, aber heute schätzen viele Kameraleute sie gerade deswegen – so ändern sich die Zeiten).

Lange Jahrzehnte blieb es so, und es gab diese verschiedenen Formate nebeneinander: Fernsehen in 4:3, Kino in 1:1,85 oder 1:1,6 oder 1:2,35. Wenn man Kinofilme auf VHS gucken wollte, konnte man sie entweder in „Letterbox“ gucken (mit den schwarzen Balken, die Sie nicht so mögen) oder aber in „Pan and Scan“ – da hatte man das ganze Fernsehbild gefüllt, aber vom Film fehlte die Hälfte. Ersteres war unbefriedigend, weil man auf dem kleinen Letterbox-Bild oft nur noch wenig erkennen konnte. Letzteres war ästhetisch und oft auch inhaltlich ruinös, denn da fehlte halt die Hälfte.

Dann, in den 90ern, zog das Fernsehen nach, und 16:9 setzte sich durch. Das war ungefähr das Seitenverhältnis der ersten Breitwandfilme (die mit dem Kasch auf dem Negativ). Wenn ich jetzt z.B. „Spiel mir das Lied vom Tod“ (der ist in Cinemascope) auf einem 16:9-Fernseher gucke, dann hat der Film immer noch Balken oben und unten, aber das stört längst nicht mehr so wie auf der alten 4:3-Glotze. Alte Filme in 4:3, die auf einem alten Fernseher formatüllend waren, haben dann plötzlich Balken links und rechts, aber das findet auch niemand so schlimm. Und seit einigen Jahren werden Filme ja nicht mehr nur auf Fernsehern geguckt, sondern auf unglaublich vielen Handys und Tablets und Laptops, die gar kein genormtes Format mehr haben. Es gibt in der Filmbranche eine Art inoffizielle Einigung, die könnte man am ehesten beschreiben als „dreht mal halbwegs annähernd 16:9, es sei denn ihr habt Bock auf was anderes“. Auf Netflix sind in letzter Zeit die meisten Filme in einem Zwischenformat, das es vorher nie gab, nämlich 1:2. Im Kino gibt es andererseits auch wieder nicht wenige Filmemacher, die sich für das alte 4:3 oder gar ein exakt quadratisches Bild entscheiden. Und die neueste Neuigkeit ist das vertikale Handyvideo. Vermutlich kommen bald auch Filme in diesem Format.

So weit, so unübersichtlich. Aber das ist der Hintergrund, vor dem man jedesmal wieder steht, wenn man einen neuen Film anfängt, und überlegt: Wie soll das Format sein?
Man will, wie gesagt, immer dasselbe: Man will soviel wie möglich. Alles, was für die Geschichte interessant ist, soll ins Bild. Alles andere soll raus. In unserem Fall handelte die Geschichte von einer Gruppe von Leuten, von Gruppendynamik, von Konflikten, von Diskussionen. Komik spielte eine große Rolle. Für Komik ist Interaktion und Timing entscheidend. Wenn immer möglich, möchte ich die zwei oder drei oder vier Menschen, die interagieren, miteinander gleichzeitig im Bild haben. Der Witz ist doppelt so lustig, wenn ich alle Beteiligten sehe. Also haben wir uns bei diesem Film für das etwas breitere Format 2:1 entschieden. Nicht um Köpfe oder Schuhe abzuschneiden, sondern um links und rechts mehr Platz zu haben für mehr Menschen im Bild.

Wenn wir die schwarzen Balken wegnehmen würden, würden Sie vielleicht das Mikro sehen, das den Ton aufnimmt. Vor allem wären dann aber die Köpfe der Schauspieler ungewöhnlich weit weg. Sie hätten einen leeren Bildraum über den Akteuren, den man so eigentlich vermeidet. Es fällt einem als Zuschauer nicht auf, aber die Filmkunst hat da ihre Regeln. Zuviel leerer Raum über einem Gesicht wirkt ausgesprochen irritierend. Es entspricht nicht unserer Wahrnehmung, die sich sehr auf Gesichter konzentriert. Wenn der schwarze Balken also weg wäre, dann wäre der Kameramann in Ausübung seines Berufs automatisch ein bißchen näher herangerückt, um diesen leeren Raum zu verkleinern. Und dann hätten wir links und rechts was verloren. Es wäre wenig gewonnen (ein etwas näheres Gesicht), aber einiges verloren (eine ganze Person weniger im Bild, denn angeschnitten wirkt auch seltsam, entweder sie ist ganz drin oder gar nicht).

Daher dieses Bildformat. Wir haben uns dafür entschieden, um das Maximum an Wirkung zu erzielen. Und mich freut es natürlich kolossal, daß der Film so gut besprochen wurde und über 10 Millionen Menschen erreicht hat. Das zeigt, daß wir unseren Job (Wirkung erzielen) am Ende doch ganz gut gemacht haben.

Beste Grüße und weiterhin viel Freude beim „Tatort“ wünscht
Ihr
Dietrich Brüggemann

Brief an keinen Freund

Lieber Freund,

es gibt dich nicht, und damit bist du vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, der sich zur Zeit nicht die Haare rauft oder den Kopf gegen die Wand haut. Alle tun das. Nur die Gründe sind unterschiedlich.

Das letzte Buch, das ich gelesen habe, bevor das alles losging, hieß „This is Your Brain on Parasites“. Darin wurde erwähnt, daß viele Religionen im Kern eigentlich Strategien der Seuchenabwehr sind. So macht Religion sogar erstaunlich viel Sinn. In diesen ganzen Reinheits- und Waschungsvorschriften steckt ein Wissen über Krankheitskeime, die unsichtbar sind und per Kontakt übertragen werden können. Ein Gott, der alles sieht, ist ein wirkungsvolles Mittel der Disziplinierung, und er taucht historisch an dem Punkt auf, als Menschen in größeren Gruppen zusammenlebten. Vorher, bei Nomaden und einzelnen Bauern, brauchte man den nicht. Auch die traditionelle Moral hat Elemente von Seuchenbekämpfung. Man geht nicht mit jedem ins Bett und am besten vor der Ehe mit niemandem. Im frühen 20. Jahrhundert gab es große Verbesserungen der Gesundheitsvorsorge (Antibiotika, Impfungen, sauberes Trinkwasser etcetera), und was machte die erste Generation, die in dieser Welt aufgewachsen war? Sie machte freie Liebe und allgemeine Liberalisierung. Nun ist Koinzidenz keine Kausalität (was in diesen Tagen oft vergessen wird), aber der Zusammenhang ist doch recht klar. Die Idee der Reinheit, also der Seuchenabwehr, steckt in vielen Religionen drin, und umgekehrt liegt man wohl nicht falsch, wenn man in unseren Seuchenabwehrstrategien auch eine religiöse Komponente sieht. Wie in jeder Religion gibt es da Rituale und äußere Erkennungszeichen, es gibt Strenggläubige und Halbherzige, und wie jede Religion bringt sie eine gewisse Doppelmoral hervor, denn die strengen Vorschriften einer Religion lassen sich nie konsequent einhalten. Sie sind immer gerade so streng, daß man öfter mal sündigt und dann ein schlechtes Gewissen hat. So sichert die Religion ihre Herrschaft. Ich bin für meine Generation mit untypisch viel Religion aufgewachsen, ich kenne das ganz gut.

Die jetzige Lage ist dilemmatös. Wir sitzen also wieder zwecks Virusbekämpfung zuhause. Wir wollen da aber immer noch Licht anschalten. Und duschen und heizen und was essen und im Internet einkaufen und Fernsehen gucken. Und die Müllabfuhr soll auch kommen. Und die Krankenhäuser müssen weiter funktionieren, dafür muß die Krankenschwester ihr Kind in die Kita bringen können, dafür muß die Erzieherin an den Arbeitsplatz kommen, dafür muß die U-Bahn fahren, und den Rettungswagen muß auch jemand betanken und reparieren, und der muß wiederum zur Arbeit kommen und das benötigte Material muß da sein und so weiter. Und unsere Internetbestellungen wollen wir ja auch ausgeliefert haben.
Vielleicht fällt uns an dieser Stelle auf, dass all die Leute, die jetzt weiter zur Arbeit gehen müssen, eins gemeinsam haben: Sie haben größtenteils nicht studiert. Eine Schicht von Intellektuellen und (teilweise immer noch) Besserverdienenden setzt sich also in ihre Wohnungen und läßt sich von den weniger Privilegierten bedienen. Letztere tragen die ganze Infektionsgefahr. Das ist noch kein Argument für oder gegen irgendwas, aber man sollte sich es in aller Deutlichkeit vor Augen halten. Ein gewisses Element von religionstypischer Doppelmoral steckt da schon drin, würde ich sagen.
Zweitens fällt auf, dass da eine ganze Menge an Kontakten und Aktivitäten zusammenkommt. Das Virus wird nach einem Lockdown also kaum aus der Welt sein. Es ist immer noch da, und dann kann alles wieder von vorn losgehen. Das ist eigentlich banal, aber ich höre merkwürdig viele Stimmen, die das offenbar anders sehen.

Zu meiner eigenen Position in dieser Debatte: Ich finde vieles, was gerade hierzulande geschieht, nicht gut. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Kritik an politischem Handeln selbstverständlich war. Neuerdings ist man aber, wenn man Kritik äußert, anscheinend ein Menschenfeind. Oder psychisch krank. Oder gar „rechts“. Ich bin ein wenig verwundert, mit was für Begriffen hier hantiert wird. Nur kurz zu den zwei häufigsten Vorwürfen, nämlich Verharmlosung und Verschwörungstheorie: Verharmlosung ist das Gegenstück zur Panikmache. Eine Giftschlange streicheln ist nicht gut. Vor einer Fliege schreiend davonrennen auch nicht. Evolutionär ist letzteres aber erfolgreicher. Wer nur einmal eine reale Gefahr verharmloste, konnte schon gefressen werden. Wer hundertmal unnötig Panik machte, kam davon. Wir dürfen also vermuten, daß wir als Spezies eher zur unnötigen Panik tendieren, weil das in unseren Genen liegt. Wenn nun jeder Versuch einer sinnvollen Einordnung als „Verharmlosung“ beschimpft wird, dann könnte das genau an diesem evolutionären Panik-Bias liegen, und dann wäre es im Gegenzug durchaus berechtigt, dieses Verhalten wiederum als Panikmache anzuprangern, und dann sollte man sich vielleicht in der Mitte treffen. Was Verschwörungen anbetrifft, kann ich nur von mir selber reden – aber wenn ich hier eine Verschwörung dunkler Mächte vermuten würde, dann würde ich mir nicht einbilden, ich könnte was dagegen ausrichten. Nö, dann würde ich mich ins Zimmer setzen, eine Flasche Wein aufmachen und den Dingen ihren Lauf lassen. Netflix and chill. Da ich aber an Weltverschwörungen nicht glaube, wohl aber an Vernunft, Evidenz, Demokratie und Debatte, tue ich das nicht, sondern mache den Mund auf. Das bringt wahrscheinlich auch nichts, aber vielleicht ein bißchen was. Ich kenne übrigens viele andere, die das ähnlich sehen wie ich, aber ihren Mund nicht aufmachen. Die das Coronavirus keineswegs verharmlosen wollen, aber die Politik und die daran hängende öffentliche Meinung kritisch sehen. Da ist eine seltsame Dissonanz zwischen dem, was öffentlich verkündet wird, und dem, was die Leute privat denken. Auch so etwas passiert in Gesellschaften unter der Herrschaft einer Religion.

Also: Ich halte es für inhuman und verantwortungslos, bei einer grassierenden Krankheit nicht genau zu untersuchen, welche Bevölkerungsgruppe sie am meisten betrifft, und diese entsprechend zu schützen. Und zwar sollte man das unabhängig davon betrachten, was man mit dem Rest der Bevölkerung macht. Damals bei AIDS ist auch niemand auf die Idee zu kommen, der gesamten Menschheit den Geschlechtsverkehr zu verbieten, bis ein Impfstoff da ist. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler wollte Schwule in Lager sperren, durchgesetzt hat sich zum Glück aber ein anderer Ansatz. Bei Corona sagt jede Statistik dasselbe: Alte, geschwächte Menschen sind einige hundert Mal so gefährdet wie junge, gesunde. Rund die Hälfte der Corona-Toten kommt aus Alten- und Pflegeheimen. Es ist skandalös, dass hier keine Vorsorge getroffen wurde, also Schnelltests, Einkaufszeiten, Masken, ÖPNV-Vermeidung. Der Tübinger OB Boris Palmer hat genau das umgesetzt, und die Erfolge können sich sehen lassen – ja, selbst wenn ihm dabei einige Fälle durch die Lappen gegangen sind oder im Landkreis die Zahlen anders sind als in der Stadt. Der Ansatz ist so einleuchtend, daß ich mich frage, warum man ihn überhaupt diskutieren muß. Es erscheint mir unverzeihlich, den Leuten, die wirklich gefährdet sind, diese Maßnahmen vorzuenthalten. Warum bitteschön muß meine Mutter (78 und topfit) sich jedesmal zwischen hustende und niesende Menschen in den Bus zwängen, wenn sie irgendwo hinwill? Welcher Lockdown-Hardliner kann mir das schlüssig erklären? Aber nein, man wird regelmäßig angeblafft: Du kannst die Alten nicht wegsperren! Dabei redet kein vernünftiger Mensch von „Wegsperren“. Fokussierter Schutz wäre dagegen ein Gebot der Vernunft und der Humanität, und das kann man unabhängig diskutieren von der Frage, ob man alle anderen auch in Lockdowns schickt oder nicht.

Ich fürchte aber, die bittere Wahrheit ist: Man hat diese „focused protection“ bisher nicht umgesetzt (ganz allmählich gibt es zaghafte Ansätze), ja noch nicht mal ernsthaft diskutiert, weil die damit verbundene Aussage eine Kehrseite gehabt hätte. Und die hätte gelautet:
Für die Jüngeren ist es nicht ganz so gefährlich wie für die Alten.
Was ja zweifellos stimmt. Aber das auszusprechen ist undenkbar. Panik kennt keine Schattierungen, Panik kennt nur den einseitigen Komparativ: Für die Alten ist es gefährlicher als für die Jungen, aber für die Jungen nicht weniger gefährlich als für die Alten. Das ist zwar logisch nicht ganz sauber, aber so ist die Struktur des panischen Denkens. Auch vorsichtige Entwarnungen sind nicht möglich. Gute Nachrichten können nicht überbracht werden. Stattdessen überzog man die gesamte Bevölkerung mit einem monatelangen Daueralarm, der zwangsläufig zur Abstumpfung führen mußte, weil die Leute den permanenten Maßnahmen-Sound mit ihrer eigenen Lebensrealität nicht mehr zur Deckung bringen konnten. Die sah nämlich anders aus, da war das Kind zum dritten Mal in Quarantäne und drehte durch, Freunde und Bekannte waren positiv getestet und hatten einen Schnupfen und vielleicht Fieber. Gleichzeitig verlangten Politik und Medien in gebieterischem Tonfall einen weitgehenden Verzicht auf menschliche Grundbedürfnisse wie Nähe und Kontakt, und zwar auf unbestimmte Zeit. Das ist, sorry, hoffnungslos weltfremd. Genauso weltfremd wie Christian Drostens „pandemischer Imperativ“, nach dem ich stets so handeln soll, als wäre ich infektiös und mein Mitmensch auch. Ich sage noch nicht mal: Falsch. Ich sage nur: Weltfremd. Kein Mensch kann das konsequent monatelang durchziehen. Jeder lässt irgendwann nach Feierabend fünfe gerade sein. Sogar in unseren gebildeten Grünenwählerkreisen. Erst recht in der breiten Masse.

Bei einem HFF-Dreh vor vielen Jahren fand ich mal eine alte Postkarte aus DDR-Zeiten, auf der stand: „Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind. Andere gibt’s nicht.“ Angeblich stammt der Satz von Konrad Adenauer, aber es steckt trotzdem zweierlei Weisheit über die DDR darin: Erstens gab es für den DDR-Bürger ja wirklich noch weniger andere Menschen als für den Bewohner eines westlichen Landes, der irgendwohin reisen konnte, wo es vielleicht doch andere Menschen gab. Und zweitens beschreibt es ziemlich genau das Problem des realen Sozialismus: Man will den neuen Menschen erschaffen, und daran scheitert man dann am Ende. Die Leute sind nämlich immer irgendwie gleich. Sie haben keinen Bock mehr, sie wollen sich besaufen und dabei Westfernsehen gucken.

In meinem Umfeld beschweren sich zur Zeit viele Leute in anklagendem bis herablassenden Tonfall über andere. Man schimpft über „Verharmloser“, Querdenker oder was auch immer, die zu wenig Disziplin hatten und denen wir das Schlamassel jetzt angeblich zu verdanken haben. (Bei der Betrachtung anderer Länder ist das merkwürdigerweise nicht so – niemand wirft den Schweden vor, sie hätten zuwenig Disziplin gehabt, nein, da ist die Politik schuld.) Dieses Mit-dem-Finger-auf-andere-Zeigen erscheint mir, na ja, reichlich doof. Das ist Populismus, gewürzt mit einem Schuß Arroganz, und ich finde es erschreckend, daß meine eigene Schicht und Generation in solche Reflexe verfällt. Aber vor allem ist es inhaltlich verfehlt. Man kann die Leute nicht einfach so ändern. Sehr viele Menschen in unserem angeblich so reichen Land hatten schon vor der Pandemie nicht viel zu lachen. Die kamen im Alltag irgendwie gerade so klar – finanziell, logistisch, psychisch. Andere haben schlicht und einfach keinen Bock, keinen Nerv, keine Ahnung. Das ist schlimm, da können wir uns moralisch echauffieren, aber was bringt uns das? Außer, daß wir uns besser als die fühlen?

Eine kluge Politik, die ihr Ziel erreichen will, muß die Menschen so nehmen, wie sie sind, denn andere gibt es nicht. Wenn die Corona-Maßnahmen nicht funktionieren und die Intensivstationen voll sind, dann sind da nicht irgendwelche Corona-Verharmloser dran schuld, sondern die Politik, die von einem falschen Menschenbild ausgegangen ist. Anstatt hämisch aufzutrumpfen, weil der „schwedische Sonderweg“ angeblich gescheitert ist, könnten wir genausogut sagen: Der deutsche Weg ist gescheitert. Die Politik ist daran gescheitert, eine Strategie auszuarbeiten, bei der die Risikogruppen, allen voran Senioren- und Pflegeheime, ausreichend geschützt werden, und die von einer breiten Bevölkerungsmehrheit über viele Monate getragen werden kann. Stattdessen haben wir jetzt volle Intensivstationen und Lockdown. Die Politik ist übrigens auch an der naheliegenden Aufgabe gescheitert, die Folgekosten und Schäden dieser Lockdowns seriös zu evaluieren. Zumindest ist mir nichts derartiges bekannt. Und sie ist auch an der sehr einfachen Aufgabe gescheitert, die von Epidemiologen in Interviews immer als zentral wichtig bezeichnet wird: Herausfinden, wie weit die Krankheit sich überhaupt schon in der Bevölkerung verbreitet hat. Wie groß also die Dunkelziffer ist. Schon im Frühjahr wurden derartige Studien angekündigt, seitdem habe ich nichts mehr davon gehört. Dafür haben wir eine App, die schlecht funktioniert, und Appelle, die folgenlos bleiben, weil Appelle sowieso immer folgenlos bleiben. Und zahlreiche Anekdoten von Leuten, die schon im vergangenen Winter Geschmacks- und Geruchsverlust und unklare Lungenentzündungen hatten, und am Ende das Gefühl, daß Corona schon viel weiter verbreitet ist als gedacht.

Die Gesellschaft selber ist auch gescheitert, aber nicht bei der Pandemiebekämpfung, sondern an der Aufgabe, ebendiese Aufgabe zivilisiert und ohne Panik anzugehen. Stattdessen: Moralisches Posing auf Social Media, Ausgrenzungs- und Abwertungsreflexe und eine aufgeheizte Medienberichterstattung, die sich auf eine Linie festlegt und jede abweichende Aussage durch „Faktenchecks“ wegbügeln will, welche oft keiner näheren Betrachtung standhalten. Mir wurde das klar, als schon im März auf Radio Eins ein Interview mit der Virologin Karin Moelling erschien, die sachlich abwägend zum Thema sprach. Kurz danach sah die Redaktion sich bemüßigt, auf der Website einen Disclaimer darunterzusetzen: Das ist nur eine Einzelmeinung, wir wollen auf keinen Fall verharmlosen. Holla, dachte ich da, das kann ja heiter werden, wenn Sachthemen jetzt so moralisch aufgeladen werden. Zumal der Modus „das hier ist die Wahrheit und alles andere ist Fake News“ ja schon vorher derselbe gewesen war, nur um 180 Grad gedreht. Bis Anfang März herrschte in den Medien allgemeine Einigkeit, man müsse sich keine Sorgen über das Virus machen, wohl aber über Fake News und rechte Verschwörungstheorien. Hier ein Beispiel und hier noch eins. Wenn ich Leute sehe, die in diesem demagogischen Tonfall vor laufender Kamera andere runtermachen, kriege ich sehr ungute Gefühle, und zwar unabhängig davon, in welche Richtung es geht. In der internationalen Wissenschaft wird zu Corona eine durchaus erhitzte Debatte geführt, da kann jeder sich unschwer auf Twitter von überzeugen, aber sie findet in den hiesigen Medien so gut wie gar nicht statt. Einzig ein Hendrik Streeck wird zur tragischen Figur und muß sich Haßattacken gefallen lassen wie zum Beispiel den Hashtag „Sterben mit Streeck“ und Hinweise darauf, daß sein Großvater in Auschwitz die Hände im Spiel hatte. Diesen Tonfall kennen wir schon von der RIP-JK-Rowling-Meute. Was da auf Twitter vor unseren Augen passiert, ist die Wiederkehr des Lynchmobs. Ich bin entsetzt über diese Entwicklung, aber man konnte sie kommen sehen.

Fazit: Ich halte Corona ganz und gar nicht für harmlos. Daß es gefährlich ist, kann ja jeder sehen. Es ist für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe sogar so gefährlich, daß man dieser Gruppe zwingend besonderen Schutz anbieten muß, und wenn man den versäumt, dann kriegt man volle Krankenhäuser. Ich finde aber die scheinbare Rationalität, aus der heraus man nach immer mehr Lockdowns ruft, ebenso gefährlich. Jeder gedankliche Schritt mag für sich folgerichtig sein, aber das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, und am Ende entsteht aus lauter Einzelschritten ein monströses Ganzes. Ich finde den Tunnelblick höchst problematisch, mit dem die gigantischen Schäden von Lockdowns ausgeblendet werden. Durch die unguten Strukturen des Diskurses spalten wir unsere Gesellschaft auf Jahre hinaus. Und wie gefährlich das Virus nun genau ist, dazu kann eigentlich niemand etwas seriöses sagen, solange wir nicht wissen, wie verbreitet es eigentlich schon ist, wo also die Dunkelziffer liegt. Bei bisher 1,5 Millionen bestätigten Infektionen liegt durchaus im Bereich des Möglichen, daß 15 Millionen Deutsche es schon hatten. Es wäre interessant, die herauszufinden, aber das könnte am Ende auf „Verharmlosung“ hinauslaufen und wird daher unterlassen. Diese Kausalität ist nur eine Vermutung meinerseits. Es wird unterlassen, Grund unklar, soviel kann man sagen.

Und vor allem: Die unausgesprochene Maxime, die hinter allen Maßnahmen steht, lautet „das Virus muß weg“. Es darf nicht existieren. Fakt ist aber: Es ist schon überall. Wir kriegen es nicht mehr weg. Unser Werkzeug paßt also nicht zum Problem. Wir hauen mit dem Hammer auf eine Schraube, anstatt den Hammer wegzulegen und einen Schraubenzieher zu holen. Aus langjähriger Fahrrad- und Autoschrauberei ahne ich: Das könnte schiefgehen.

An Corona sind bisher hierzulande 2772 Menschen unter 69 Jahren gestorben. Nehmen wir mal an, die sind alle wirklich an diesem Virus gestorben und hatten nicht außerdem noch Krebs im Endstadium. Das statistische Risiko für gesunde Menschen bis 69, an Corona zu sterben, wäre dann im Bereich eines Autounfalls (wir haben jedes Jahr ca. 3000 Verkehrstote). Das ist nicht nichts. Unfälle sind grauenhaft. Dreitausend Verkehrstote würden uns sehr unangenehm auffallen, wenn wir vorher null gehabt hätten. Diese dreitausend sind außerdem nur die Spitze eines Eisbergs von Schwerverletzten, deren Leben nie wieder so sein wird wie zuvor. Wir haben uns daran gewöhnt. Wir haben es in unser psychisches Immunsystem integriert. Ob das gut oder schlecht ist, mögen andere entscheiden, aber bei Corona wird es ähnlich laufen. Die Menschen schultern das Risiko und leben ihr Leben weiter. So sind sie, die Menschen. Andere gibt’s nicht.

Weil wir es mit religiösen Strukturen zu tun haben, klaffen Reden und Handeln erstmal auseinander. Man bekennt sich zum einen und tut das andere. Aber irgendwann erodiert die Religion, und dann kommt beides wieder zueinander, allmählich oder mit einem Knall.

Das wären sie so ungefähr, meine Standpunkte. Wer mich jetzt als „Aluhut“ bezeichnen will, möge das tun, dann werde ich mir im Gegenzug auch ein Schimpfwort ausdenken und dann können wir handgreiflich werden oder schweigend auseinandergehen. Mit Leuten, die andere beschimpfen und dabei gar nicht mehr merken, was für einen Ton sie am Leibe halten, ist kein Austausch möglich. Und die oft gehörte Behauptung, Kritik an der Corona-Politk sei „rechts“, ist so ungeheuer dämlich, daß ich mich weigere, dazu überhaupt irgendwas zu sagen. Ja, „dämlich“ ist auch ein Schimpfwort. Das habt ihr jetzt davon.

Seit ich denken kann, war um mich herum Krisengeschrei. Es gab Waldsterben und Atomtod und sauren Regen und Wirtschaftskrise und Rezession und sechs Millionen Arbeitslose und Agenda 2010 und Fukushima und BSE und Schweinegrippe und Vogelgrippe und Elefantengrippe. Es war immer fünf vor zwölf. Nichts davon ist wirklich bei mir angekommen. Zumindest brach die ganz schlimme Katastrophe, die immer vor der Tür stand und uns alle umbringen würde, dann doch nie so richtig herein. Das Leben ging immer weiter. Ich habe immer gesagt: Das wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Aber das ist diesmal anders. Ich fürchte, diesmal wird es mindestens so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Das ist ein schönes Schlußwort. Belassen wir es dabei.

Liebe Grüße
Dietrich

P.S.
Wo bleibt das Positive? Hast du einen besseren Vorschlag? Nein, ich selber nicht, aber ich bin ja immer dafür, auf Fachleute zu hören. In den letzten Monaten wurde ich ein glühender Fan des Internisten Matthias Schrappe, der mit einer Gruppe von Fachleuten stoisch ein Thesenpapier nach dem anderen erarbeitet, das von der Politik dann ignoriert wird. Hier ein paar Ausschnitte aus einem Interview mit der WELT vom 18.11., also genau vor einem Monat. Alles, was er da vorhersagt, hat sich bewahrheitet. Das ganze Interview ist hier, leider hinter der Bezahlschranke, aber wer ein bißchen googelt, findet den Text auch in voller Länge. Ich hoffe, ich kriege für dieses lange Zitat jetzt keine Copyright-Ärger mit Springer, aber mir ist wirklich wichtig, daß sich das herumspricht.

WELT: Herr Schrappe, Sie haben mit acht Wissenschaftlern ein Papier über die Bundesregierung und ihre Corona-Politik verfasst. War das nötig?
Matthias Schrappe: Ja. Weil nichts zu erkennen ist, was nach einer brauchbaren Strategie aussieht. Das fängt bei den Corona-Tests an und endet sicher nicht bei dem, was die Regierung für angezeigt hält bei den Schutzkonzepten für Risikogruppen. Wir hatten schon im April klargemacht, dass es Infektionsherde in Krankenhäusern und Pflegeheimen geben würde. Es hätte umgehend spezifischer Maßnahmen bedurft. Das gilt immer noch, weil fast die Hälfte der Todesfälle auf diese Institutionen zurückgeht. Aber die Bundesregierung ist beratungsresistent. Am Sonntag veröffentlichen wir dennoch ein Thesenpapier, wie man Pflegeheime und Krankenhäuser wirkungsvoll schützen kann. Wir machen das zum sechsten Mal, und beim Formulieren ist es uns schwergefallen, nicht immer das Gleiche zu wiederholen. Notwendig war es trotzdem, weil die Deutschen jetzt den harten Weg antreten müssen. Dabei werden besonders gefährdete Menschen auf der Strecke bleiben. Es gibt keine geeigneten Schutzkonzepte für sie.

WELT: Kein Schutz für ältere Menschen? Nennen Sie mir das Pflegeheim, das jetzt noch unbegrenzt Besucher empfängt.
Schrappe: Wenn in Deutschland von Schutz die Rede ist, dann kann man sich darauf verlassen, dass damit wegsperren gemeint ist. Ich habe meine klinische Karriere in den Anfängen der Aids-Jahre gemacht und zur HIV-Infektion habilitiert. Damals ist man auf die homosexuellen Männer zugegangen, hat sie angesprochen als Risikogruppe, sie beraten. So kam es zur Safer-Sex-Kampagne, die äußerst erfolgreich war. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Kontakte zu verbieten oder Sex. Wir haben gegen alle Widerstände in winzigen Schritten durchgesetzt, dass Drogensüchtige Polamidon bekamen. So hieß das damalige Methadon, das heute Standard ist. Wir bekamen empörte, wüste Drohungen. Unter anderem lehnten Psychiater das Verfahren grundsätzlich ab. Ich erzähle das, um für das zu werben, was man seit damals unter zielgruppenspezifischen Präventionsanstrengungen versteht. Wegschließen gehört sicher nicht dazu.

WELT: Was stattdessen?
Schrappe: Menschlichkeit und ein wohlwollender Schutz, der von der Persönlichkeit und der Würde der Betroffenen ausgeht. Das kann man sich offenbar nur schwer vorstellen. Warum gibt es in Corona-Zeiten für ältere Menschen kein Taxi zum Preis eines ÖPNV-Tickets? Wo sind die Hilfsprogramme für ambulant zu pflegende Personen? Warum können denn Studenten, deren Kellnerjob weggebrochen ist, nicht für das gleiche Geld vor den Seniorenheimen stehen und Abstriche machen? Oder Einkaufsdienste für Senioren? Oder die ambulante Pflege entlasten? Man muss in dieser Zeit doch den Zusammenhalt wecken, die Fantasie anregen, wie man sich und die Mitmenschen schützt. Aber das ist eine Führungsaufgabe, dazu müsste die Bundesregierung bereit sein, mit Präventionsideen zu experimentieren, sie müsste es ausprobieren, und sie sollte vor allem auf diese permanenten Lockdown-Drohungen verzichten.

NOCH EIN NACHTRAG: Kommentare funktionieren aus irgendeinem Grund derzeit nicht. Ich kann sie freischalten, aber sie werden nicht angezeigt. Wir arbeiten dran.

Der Genderer und die Gendererin

Hey, ihr Nervensägen (generisches Femininum)! Ich wurde schon sehr oft als „Person“ bezeichnet (generisches Femininum). Gelegentlich auch als Koryphäe, Instanz, Eminenz, Zicke, Krawallschachtel oder Knalltüte. Hat mich nie gestört, im Gegenteil, ich fand es sehr erfreulich. Genauso wie wenn Frauen sich selbst in meiner Gegenwart als Zampano, Zeremonienmeister oder wütenden arabischen Mann tituliert haben. Ist alles schon passiert. Ich habe mich selber in geselligen Runden bestimmt auch schon als die Gastwirtin, Herbergsmutti oder Chefin vorgestellt. Andererseits wird unsere Sprache ja so nach und nach vom Englischen aufgefressen (at least that’s what’s happening in my head, asshole), da hinterläßt das geschlechtsneutrale „filmmaker“ Spuren der Verwüstung (weiblich), und daher ist es mir durchaus schon unterlaufen, dass ich eindeutig cis-hetero-weiblich-gelesene Personen im Singular als „Drogenhändler“ oder sowas bezeichnet habe. Vorbildlich erschien mir übrigens die Mitarbeiterin kürzlich im Bioladen meines Vertrauens, die einräumenderweise vorm Regal stand und im tiefsten Berliner Baß schnauzte: Mann, jeht mir dit heute allet wieder aufn Sack! Das war Self-empowerment in jeder Hinsicht. Schlagt euch zu diesem Thema also meinetwegen die Köpfe ein, aber nehmt vorher die Stöcke aus den Ärschen und verwendet die Stöcke dann als Waffe beim Kopfeinschlagen. Wenn die Köpfe alle eingeschlagen sind, dann sind sie vielleicht auch in der Lage, ein Prinzip als die einzig wahre Doktrin zu identifizieren und es völlig ohne Nachdenken (wie denn auch, Kopf ist ja eingeschlagen) durchzuziehen. Aber dann bitte wirklich konsequent. Dann hat man halt die Handwerker:innenvertreter:innen zu Besuch bei den Bürger:innenmeister:innen, und vielleicht sind bei diesem Spiel am Ende alle Teilnehmer:innen Verlierer:innen, aber da würde ich niemals gegen protestieren, sondern es nur sehr lustig finden. Falls aber noch uneingeschlagene Köpfe übrig sind, dann sind die vielleicht in der Lage, mit der ganzen Chose („die Chose“, feminin, Lehnwort aus dem Frz., Geschlecht wie im Original, anders als z.B. „die Tour de France“ vs. „le tour de France“) eleganter, spielerischer, musikalischer umzugehen, also so flexibel, daß der Text kein Stacheldrahtzaun wird. Das tue ich schreibenderweise eh schon immer, die deutsche Sprache hat da nämlich eine Sollbruchstelle oder eine Grauzone oder eine Problemzone oder Zellulite. Und das ist aber auch nicht meine nagelneue Erkenntnis. Das haben andere vor mir gedacht und getan. Wir stehen auf den Schultern von Riesinnen. Und in Deutschland eh immer auf den Schultern von Nazis. Es gibt Hitlerreden (bzw. Hitler*innenreden), in denen er die anwesenden „Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten“ begrüßt, weil auch Hitler gemerkt hatte, daß da irgendwas seltsam ist. Hitler wäre beim genaueren Nachdenken aber auch durchgedreht, denn es gibt da keine klaren Regeln oder Fronten (und Hitler mochte ja klare Fronten). Meine Freunde sind nur Männer, unter meinen Gästen sind dagegen auch Frauen? Ach nee, umgekehrt? Ist „der Mensch“ nicht eigentlich schon eine Frechheit? „Die Person“ dann aber auch? Warum ist der Fliesenleger ein Mann, der Wagenheber nicht, der Anleger aber schon, also zumindest der an der Börse, wobei das ja meistens Firmen sind, manchmal auch Privatanleger*innen, aber andererseits ist „die Firma“ ja auch weiblich, ganz im Gegensatz zum Bootsanleger, der ja bekanntlich ein Mann ist, ach Quatsch, jetzt bin ich verwirrt. Nur eins weiß ich sicher: „Beamtin“ ist einfach nur falsch, „Beamte“ ist nämlich eine verkürzte Aussprache von „der Beamtete“ bzw. „die „Beamtete“. Go figure. Sprache ist ein irrsinniger Irrgarten. Also macht, was ihr wollt, und habt Spaß, aber wenn ihr euch wirklich hinstellt und behauptet, ihr hättet ein universelles Prinzip gefunden, das ab sofort kategorisch durchzuziehen sei, dann beschwert euch nicht, wenn ich diese Konsequenz dann auch einfordere und mich hinterher über die Ergebnisse lustig mache. Ich habe mir übrigens geschworen, niemals einen Song zu schreiben mit einem Titel aus dem Musterbaukasten von der Sorte „Die Empathie (Liebe, Sorgfalt, Schönheit, Gehässigkeit…) ist weiblich“. Dann schon lieber „Das Mitgefühl ist ein Neutrum“ oder „Der WC-Reiniger ist männlich“. Das wären schöne Lieder. Und dann wäre da noch dieser Text, der behauptet, Gendern sei diskriminierend. Finde ich jetzt echt etwas problematisch. Aber ich bin ja auch ein Mann. Allerdings einer aus der Generation, die sich selber nie als „Mann“ sehen konnte, sondern immer nur als „Typ“. Diese herrliche Beobachtung habe ich aus einem Buch von Juli Zeh. Juli Zeh ist ein Schriftsteller, der die Kunst beherrscht, sich in die Herzen von Männer*innen, Frauen, Hunden und Pferden gleichermaßen einzufühlen. Davor knie ich nieder. Und zwar als Mann, Frau, Kind und Knallkopf.
Tschüssikowski und Bussi!
Eure Klatschtante vom Dienst.

Du sollst nicht existieren

Vor einigen Tagen ist mir ein kleiner Synthesizer „abgeraucht“, wie man so sagt. Ich war selber schuld daran. Ich hatte einen Stecker verkehrt herum auf die Platine gesteckt, und als ich dann den Strom einschaltete, floß der in die falsche Richtung. Nach drei Sekunden stieg Rauch auf, und das Gerät war Schrott.

Ein paar Tage später sah ich die Netflix-Doku „The Social Dilemma“. Sie handelt von den Suchtmechanismen unserer Internetwelt. Das meiste, was da gesagt wurde, kannte ich schon, denn es steht in den Büchern von Cal Newport („Digital Minimalism“) und Jaron Lanier („Ten Arguments for Deleting Your Social Media Accounts Right Now“). Letzterer ist im Film auch zu sehen und trägt sehr schöne Dreadlocks. Der Film gibt sich große Mühe, so flashig und zackig und rüberzukommen, wie diese neuen Netflix-Dokus halt immer sind. Man hat sich sogar einen Spielfilmteil geleistet, der qualitätsmäßig leider ein bißchen auf die Nase fällt. Und natürlich steigt Netflix hier nicht einfach so für das Gute auf die Barrikaden, sondern haut der Konkurrenz eine rein, denn Netflix ist ja selber einer von diesen Konzernen, die wollen, daß wir möglichst lang auf ihren Portalen kleben bleiben. Trotzdem ist der Film für sich genommen gut und wichtig. Alle sollten ihn sehen. Oder einfach die zwei genannten Bücher lesen.

Im Herbst 2008 meldete ich mich bei Facebook an. Eine Zeitlang fand ich das sehr lustig. Aber zwei Dinge fielen mir schnell auf: Erstens frißt es enorme Mengen an Zeit. Man will morgens an die Arbeit gehen, guckt nur mal schnell nach, was auf Facebook so los ist, klickt auf einen Link, liest sich irgendwo fest und dann noch woanders und dann schaut man zurück zu Facebook und ist über irgendwas total empört und schreibt einen wütenden Kommentar und schon ist der halbe Arbeitstag vorbei und dann ein halbes Jahr und dann das halbe Leben. Zweitens fiel mir auf, daß der Umgangston sich in eine unschöne Richtung bewegte. Es wurde gehässig, höhnisch und irgendwie autoritär. Das lag aber nicht an irgendwelchen rechtslastigen Spinnern (die existierten auch, aber das waren nicht meine Freunde), nein, es waren die Kreise, denen ich mich zugehörig fühlte. Immer öfter wurde bei jedem mittelschweren Vergehen gegen die eigene Weltsicht der ganz große Hammer rausgeholt. Alle waren dauernd „fassungslos“ und „kotzten im Strahl“. Nebenan bei Twitter ging es noch härter zur Sache. Da hatte ich mich auch mal angemeldet, fand es aber unerfreulich und hing dann eher so als Karteileiche herum, schaute über die Jahre ab und zu rein und bekam immer denselben Eindruck: Twitter ist der Tempel der intellektuellen Eitelkeit. Jeder Tweet, egal wovon er handelt, hat den Subtext: Guck mal, was für ein toller Geistesblitz! Guck mal, wie schlau ich bin und wie bekloppt die anderen sind! Und wie geil wir alle sind und wie doof der Teil der Menschheit, den wir heute beschimpfen! – Nein, natürlich nicht jeder Tweet. Man findet hier viele harmlose, freundliche oder rein informative Dinge. Aber der toxische Anteil ist doch recht groß.

Wie konnte es soweit kommen? So wie immer: Durch Reiz und Reaktion. Wir tun das, wofür wir Belohnungen bekommen, also Beifall und Herzchen von den Followern. Wie sehr man durch die roten Benachrichtigungen konditioniert wurde, merkte ich ja am eigenen Leibe. Die Facebook-Notification zerrt an der Aufmerksamkeit wie ein nerviger Dreijähriger. Dauernd guckt man nach, ob irgendwas passiert ist, und wenn jemand gelikt hat, gibt es einen kleinen Kick im Gehirn. Es ist mittlerweile belegt und bewiesen, daß hier tatsächlich Suchtmechanismen getriggert werden, und zwar nicht per Zufall, sondern mit voller Absicht. Eigentlich muß man davon ausgehen, daß jede Social-Media-Persönlichkeit, deren Followerzahl ins Fünfstellige geht, im Grunde suchtkrank ist, egal ob das nun Donald Trump ist oder Jan Böhmermann oder wer auch immer.

Was sich da abzeichnete, das fand ich beunruhigend. Es waren die Mechanismen des Mobs. Der Ton macht bekanntlich die Musik, ich mag Musik, und dieser Ton gefiel mir nicht. Aber ich konnte auch an mir selbst beobachten, wie ich gegen dieses System keineswegs immun war. Immerhin war ich gegen Twitter immun, das war ja schon mal was.

All das war Anfang der 10er Jahre. In dieser Zeit flog der NSU-Skandal auf. Und da entstand die Idee, eine Komödie mit Neonazis zu machen, halb inspiriert von „Four Lions“ und halb von einem riesengroßen Plakat von „Kriegerin“, und da war auch schnell klar: Über Nazis sind die wesentlichen Witze in zehn Minuten abgearbeitet. Wir sollten uns schon ganz Deutschland vornehmen. Ich wollte aber nicht den hundertsten Deutschland-Nazi-Warnungsfilm machen. Alle warnen sich immer gegenseitig, daß wir hier in Deutschland noch ganz viel rechtes Gedankengut haben, daß also sowas jederzeit wieder passieren kann und daß wir alle ganz doll aufpassen müssen. Das ist auch die These aller Filme zum Thema. Ist ja auch nicht direkt total falsch, aber ich dachte mir eigentlich schon immer: Es ist mir zu unterkomplex, und außerdem fehlt mir da der Glaube. Wir haben einen stabilen rechten Rand von zehn oder fünfzehn oder sogar zwanzig Prozent, aber daß der an die Macht kommt, erscheint mir historisch unwahrscheinlich. Wenn die Gesellschaft wieder als Ganzes durchdreht, dann werden möglicherweise die Inhalte andere sein, aber der Modus ein ähnlicher. Wenn ich immer nur auf rechtes Gedankengut schaue, dann entgeht mir möglicherweise etwas.

So entstand der Film „Heil“. Er handelt nur am Rande von Social Media, aber er zeigte eine Gesellschaft, die im Umgang miteinander einer solchen Hysterie verfallen ist, daß sie es gar nicht merkt, wie eine Bande von Nazis in Polen einmarschieren will. Die Nazis finden sogar Unterstützung aus allen Teilen des Spektrums. Und der Ansatz war: Wir lassen die Leute im Film genau in dem Tonfall miteinander reden, wie sie das im Internet tun. Ich hatte das Drehbuch eher so für die Schublade geschrieben, weil ich nicht damit rechnete, daß irgendjemand hierzulande das finanzieren würde, aber nach dem Bären für „Kreuzweg“ ging es dann doch, also setzten wir alles auf eine Karte, ich ließ die meisten Festivals sausen und stürzte mich gleich wieder in Dreharbeiten. Ohne Bestsellervorlage und mit ein paar Kopien irgendwann im Hochsommer gestartet wird so ein Film dann eher kein Hit, aber ich finde es bis heute erstaunlich, daß wir ihn überhaupt gemacht haben.

Das ist jetzt auch schon wieder fünf Jahre her, und wir haben heute allerhand Dinge, die wir damals noch nicht hatten: Den Brexit, Donald Trump, etablierte rechtspopulistische Parteien in fast allen Ländern und hierzulande sogar als größte Oppositionsfraktion im Parlament. Der Online-Umgangston hat sich auch nicht groß geändert, und dann kam etwas, das keiner vorhergesehen hatte: Ein Killervirus. Oder eben kein Killervirus. Oder irgendwas dazwischen. Und schon fliegt uns der Hass wieder um die Ohren.

Aber wo genau kommt er her, der Haß? Mark Zuckerberg und Jack Dorsey haben ihn ja weder erfunden noch bewußt herbeigeführt. Es fing auch nicht erst mit Donald Trump an. „Alles war so schön, und dann kam plötzlich Trump“ ist keine zutreffende Darstellung der Ereignisse. Wir haben hier eine Dialektik, die weit zurückreicht, möglicherweise bis 1968, als der Antiintellektualismus erstmals in Mode kam. Auf alle Fälle begann mit Smartphone und Social Media, also ab ca. 2010, eine Spaltung, und in deren Kern steht für mein Empfinden auf beiden Seiten derselbe Denkfehler: Die Idee, man könnte den Gegner eliminieren, seine Existenz beenden und ihn vom Rand der Welt hinunterschubsen ins Nichts. Denn dieser Wunsch scheint mir hinter den ganzen aufgeregten Tweets und Facebook-Posts zu stehen: Die anderen sind so schlimm, daß sie gefälligst aufhören sollen zu existieren. Manchmal wird das sogar explizit geäußert, wie zuletzt unter dem Hashtag #ripjkrowling, der vor einigen Wochen den Tod einer Schriftstellerin verkündete. Spätestens hier kann man sich eigentlich nur noch an den Kopf fassen, die Augen rollen und sich an den Stalinismus erinnert fühlen, aber wenn man damit fertig ist, kann man die Situation auch analytischer anschauen und den Unterschied feststellen: Wenn mir Straflager und eine devote Justiz zur Verfügung stehen, dann kann ich alle Andersdenkenden einsperren und zum Schweigen bringen, aber wenn ich das nicht habe, dann bekomme ich so nicht die Alleinherrschaft über die öffentliche Meinung, sondern Lagerbildung und Eskalation. Wenn ich Jordan Peterson oft genug als brandgefährlichen Proto-Nazi bezeichne, guckt am Ende die halbe Welt seine Videos. Wenn ich mich oft genug über die Rednecks lustig mache oder ihnen erzähle, daß sie privilegierte Rassisten sind, dann gehen sie nicht etwa in die Ecke, um sich zu schämen, sondern zeigen mir einen Mittelfinger namens Donald Trump. Mit dem Wunsch nach Auslöschung mache ich meinen Gegner erst groß.

Übrigens bin ich damit keineswegs der Meinung, Donald Trump sei auch nur ein bißchen besser, als ihn alle finden (Jordan Peterson dagegen schon), oder die ganzen Q-Anon-Wahnsinnigen hätten irgendwo recht. Was da abgeht, ist ja offensichtlich das Grauen in Tüten. Jeder kennt diesen alten Schulkameraden oder die ehemalige Bekannte, die jeden Tag meterlange Facebook-Posts absetzt, meterweise wirres Zeug schwafelt und zwischendurch mit vielen Emojis betont, daß es ja doch nur auf positive Energie und Liebe ankommt. Klar ist das schlimm. Aber mir ist es zu einfach, nur mit dem Finger auf diese Leute zu zeigen. Damit lenkt man sich zu leicht von der eigenen Nase ab, an die gefaßt werden müßte. Und außerdem liest diese Klientel hier eh nicht mit, also muß ich sie auch nicht beschimpfen. Ablästern über Abwesende macht nur wieder so billige Wir-gegen-die-Stimmung, und da ist das Internet eh schon voll mit.

Um zu meinem abgerauchten Synthesizer zurückzukommen: Das eine erinnert mich an das andere. Jemand hat den Stecker verkehrt herum reingesteckt. Keiner der Mechanismen, die wir hier sehen, kam durch Social Media in die Welt. Das sind alles menschliche Unvollkommenheiten, die es schon immer gab. Mark Manson bringt es auf den griffigen Nenner: People are terrible. Der Wunsch, daß jemand, der anderer Meinung ist als ich, nicht existieren darf, steckt anscheinend tief in uns drin. Vielleicht, weil in der Steinzeitgesellschaft für sowas tatsächlich kein Platz war. Aber Social Media schaltet diese Unvollkommenheiten nun offenbar so zusammen, daß ein Kurzschluß entsteht. Die Leitungen laufen heiß, Feedbackschleifen fangen an zu glühen, dann steigt Rauch auf und das ganze Ding knallt durch.

Man könnte nun argumentieren, daß die menschliche Gesellschaft sowieso schon einen fortwährenden Kurzschluß verursacht, seit wir in Gesellschaften zusammenleben, in denen nicht mehr jeder jeden kennt, also vielleicht seit 5000 Jahren. In einem Dorf oder einer Nomadengruppe wird es vermutlich nicht viel Kriminalität geben, keine Haßprediger und auch keine Lynchmobs. In Städten schon. Aber für diese Dinge haben wir Vorkehrungen entwickelt. Es gibt Staatlichkeit, Gerichtsbarkeit, ein Gewaltmonopol, eine Unschuldsvermutung, den Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ und so weiter. Wir haben, um mal schön im Bild zu bleiben, Widerstände und Sicherungen eingelötet, damit uns eben nicht dauernd die Platine durchbrennt. Der Kurzschluß in der vernetzten Welt ist dagegen neu. Und der besteht nicht nur darin, daß jeder Idiot jeden anderen Idioten als Idioten beschimpfen kann und andere Idioten finden wird, die das liken. Es fängt schon damit an, daß viele Leute ihre Äußerungen von vornherein uniformieren, weil man als Mensch ungern in der eigenen Gruppe aneckt oder irgendwie auffällt. So entstehen Meinungsblasen und Echokammern, auch bekannt als „groupthink“. Die beiden Denkfehler-Bücher von Rolf Dobelli („Die Kunst des klaren Denkens“ bzw. des „klugen Handelns“) sind da immer wieder lohnende Lektüre. Fast jeder „cognitive bias“, den man dort findet, wirkt hinter diesen Social-Media-Mechanismen oder wird durch sie verstärkt.

Das Internet muß weg, sagt der Blogger Schlecky Silberstein. Ich stimme ihm zu. Zumindest dieses Internet muß weg. Man hört immer wieder den Appell an die Internetkonzerne, ihren Inhalt schärfer zu kontrollieren. Ich halte es aber für keine ganz so tolle Idee, den Bock ein zweites Mal zum Gärtner zu machen. Ich will kein Wahrheitsministerium in Kalifornien, das entscheidet, was stimmt und was nicht. Und wenn wir das hätten, es würde keines unserer Probleme lösen, denn siehe oben.

Gegen Konzerne, die suchterzeugende Produkte auf den Markt bringen, helfen Gesetze, Zerschlagung oder Verstaatlichung. Ich wäre sehr dafür, fürchte aber, daß wir nichts davon bekommen werden. Und dann brauchen wir zumindest eine Ethik des Umgangs. Für den Umgang mit Alkohol haben wir die allgemeine Regel, daß wir uns nicht sinnlos besaufen und schon gar nicht tagsüber. Diese Regel wird nicht staatlich verordnet oder kontrolliert, aber wir bringen sie unseren Kindern bei, und Verstöße dagegen werden nicht geahndet, aber geächtet. Für den Umgang mit überzuckerten Lebensmitteln haben wir theoretisch die ähnliche Regel, daß wir gelegentlich mal reinhauen, aber nicht andauernd und literweise (diese Regel scheint aber zumindest in USA nicht so richtig zu funktionieren, wie man sich überzeugen kann, wenn man dort mal durchs Hinterland fährt und die dort lebenden Menschen anschaut, hier wären also staatliche Eingriffe eine extrem gute Idee, aber darauf kann man vermutlich ebenso lange warten wie darauf, daß EU oder USA oder sonst irgendwer Amazon und Facebook dazu zwingen, Steuern zu zahlen.)

Eine möglicher erster Schritt in einer Ethik des Umgangs mit Social Media wäre, es an die Leine zu nehmen wie einen Hund. Da müßte man einfach nur die gute alte Maxime „the medium is the message“ ernst nehmen, und dann käme heraus: Die Message von Twitter ist Twitter. Wenn also auf Twitter mal wieder ein wütender Mob herumpöbelt, dann sollte es gute Sitte bei Entscheidern und Regierenden sein, zu sagen: Das sind nicht „die Menschen“ oder „die Öffentlichkeit“, die hier Zeter und Mordio schreit, nein: Das ist Twitter. Und jetzt soll Twitter bitte mal wieder runterkommen.

Für uns alle wäre viel gewonnen, wenn wir den impliziten Vernichtungswunsch auf sozialen Medien genauso ächten würden, wie wir das mit Besäufnissen bei hellichtem Tag tun. So etwas macht man einfach nicht. Ich fordere also hiermit eine Erweiterung dessen, was zu Opas Zeiten „Netiquette“ hieß. Eine Moral, die nicht nur dem Einzelnen sagt: Benimm dich individuell anständig, sondern auch: Folge nicht dem Mob, mach dich selber nicht zum Bestandteil kollektiver Wutanfälle und laß dich von selbigen nicht ins Bockshorn jagen. Dazu würde dann auch gehören, daß jeder seinen eigenen Tonfall und die dahinterliegende Haltung kritisch hinterfragt (tue ich sofort: als ob das jemals irgendwo funktioniert hätte!), daß man sich die eigene Abhängigkeit vom Dopaminkick der Likes und Retweets bewußt macht (und dann aber genauso weitermacht) und daß man sich die eigene Anfälligkeit für „groupthink“ vor Augen hält (aber man hat ja RECHT, verdammt nochmal!).

Solche Appelle aus der Abteilung „wir alle müßten und sollten“ sind so wirkungslos wie Politikersonntagsreden in gähnend leeren Kirchen ohne Publikum, danke, ist mir auch klar. Die konsequente Antwort kann am Ende nur sein, von diesen Plattformen zu von verschwinden und woanders hinzugehen. Wenn das Medium die Message ist, erzeuge ich mit allem, was ich auf Facebook von mir gebe, am Ende Facebook-Content. Also ein weiteres Element, mit dem die Aufmerksamkeit anderer Leute auf Facebook festgeklebt wird. Will ich das? Eigentlich nein. Für mich persönlich habe ich deswegen beschlossen, in Zukunft wieder mehr zu bloggen und weniger auf Social Media herumzuhängen. Da bleibt dann auch mehr Zeit, an elektronischen Musikinstrumenten herumzuschrauben und sie so zusammenzubauen, daß sie hoffentlich am Ende nicht in Rauch aufgehen. Das ist eigentlich gar nicht so schwierig. Ich war unaufmerksam. Vielleicht war ich in Gedanken gerade bei irgendwas, was ich auf Facebook gelesen hatte.

Das hätte ein nettes Schlußwort sein können, aber ich will diesen Text nicht mit so einem halbguten Witz beenden, also beende ich ihn stattdessen mit einer, jawohl, Vision. Sie lautet: Die Idee von Facebook & Co ist ja eigentlich ganz gut. Ist doch nett, per Internet mit Leuten auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten. Wir brauchen also eine offene, nichtkommerzielle, nicht süchtigmachende Alternative, die uns als Gesellschaft kollektiv gehört. Diese zu bauen, das könnte eine der großen Aufgaben unserer Generation sein. Auf Facebook werden sowieso irgendwann mehr Tote als Lebende sein. Laßt uns also zusammen einen neuen Ort erschaffen, wo die Lebenden zusammenkommen können, ohne einander den Tod zu wünschen! Gemeinsam können wir das schaffen!

Dieser Wunsch ist natürlich wieder so ein hoffnungslos blauäugiges, utopisches Luftschloß aus Wolkenkuckucksheim. Mit anderen Worten: Wird nicht passieren. Andererseits ist das mit Leben und Tod ein noch viel schöneres Schlußwort als der erste Versuch von weiter oben. Auf so ein Schlußwort wären Redenschreiber von CDU bis Linkspartei bestimmt sehr stolz. Also belasse ich es dabei.

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Noch ein Nachtrag, der nicht so richtig dazugehört, aber irgendwie doch: Von den zwei Problemen, die ich eingangs genannt habe, ist das erste vergleichweise einfach zu lösen (also immer noch schwer genug). Die Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit muß man sich zurückholen, und zwar mit derselben Penetranz, mit der sie angegriffen wird. Ich schreibe diesen Text und alles, was ich schreibe, auf einem zehn Jahre alten Laptop, der keinen Internetanschluß hat. Das für WLAN zuständige Dings ging irgendwann kaputt, das war mir sehr willkommen, ich habe es so gelassen. Dann gingen auch Bildschirm und Grafik übern Jordan, die habe ich notdürftig reparieren lassen, mir sodann für Alltagskram und Medienproduktion einen neuen Laptop geleistet und den alten zur internetfreien Schreibmaschine degradiert bzw. befördert. Mein Handy liegt währenddessen nicht neben mir, sondern fünf Kilometer entfernt, ich lasse es nämlich zuhause, wenn ich in die Schreibstube fahre. Wenn ich es dann doch mal mitnehmen muß, dann wird es zum Arbeiten ausgeschaltet und im Nebenzimmer deponiert. Außerdem habe ich Facebook und Twitter vom Smartphone eliminiert, die gibt es nur auf dem anderen Computer, der aber eben auch zuhause liegt. Zum Arbeiten habe ich mir eine sehr große Sanduhr zugelegt, die 90 Minuten läuft und mit der man sich den Tag wunderbar in Arbeitsphasen einteilen kann. Auf diese Art, mit diesem Zwang zur Konzentration, schreibt sich dann auch mal ein Drehbuch in ein paar Wochen. Das Schöne daran ist, daß man sich mit dieser Methode nach einer Weile auf einen Modus konditioniert hat, der dann sogar konzentrierte Arbeit ermöglicht, wenn doch mal Internet in der Nähe ist. Das Unschöne ist, daß der mentale Zuckerwatte-Effekt von „irgendwas im Internet lesen“ damit keineswegs aus dem Leben verschwunden ist. Man daddelt weiterhin im Netz herum, aber vielleicht nicht mehr ganz so schlechtem Gewissen. Wie gesagt, ich empfehle die jeweiligen Bücher von Cal Newport und Jaron Lanier und in letzterem vor allem das Kapitel namens „Social Media is turning you into an asshole“. Und damit wären wir wieder mittendrin im oben bereits ausführlich durchgekauten Thema.

Ja, Panik.

Ich bin kein Mediziner und kein Naturwissenschaftler. Ich bin Autor und Regisseur, beschäftige mich beruflich also mit Wahrnehmungspsychologie in Menschenmengen, mit Narratologie, Dramaturgie und Plausibilität in Kausalketten. Außerdem bin ich Bürger eines demokratisch verfassten Staates und als solcher Objekt, aber auch Subjekt politischen Handelns. Ich kann in diesen Tagen gar nicht anders, als mir zur Corona-Epidemie meine eigenen Gedanken zu machen.

Momentan sehe ich in der Öffentlichkeit eine große, weitgehend unkritische Einigkeit: Mach, was Mutti sagt. Der Diskurs nimmt gelegentlich totalitäre Züge – wer an den derzeitigen Maßnahmen zweifelt und nach anderen Wegen fragt, der hat nicht einfach eine andere Meinung, die es zu diskutieren gilt, sondern dem wird unterstellt, er sei ein vergnügungssüchtiger, herzloser Egoist, ein Soziopath, dem Menschenleben völig egal wären, und derlei mehr. Es erübrigt sich eigentlich, zu dieser Art von Polemik Stellung zu nehmen, dennoch ganz kurz zwei Dinge: Erstens, persönlich, treibt mich nicht die egoistische Vergnügungssucht, sondern im Gegenteil die Sorge um die ungeheuren Verheerungen, die zur Zeit durch die gesamtgesellschaftliche Vollbremsung passieren. Mir ist egal, wann das Berghain wieder aufmacht, aber mir ist nicht egal, wenn um mich herum massenweise Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Und zweitens, ganz grundlegend: Offene Debatte ist die zentrale Säule einer Demokratie. In den Wissenschaften, in der Politik, überall muß es möglich sein, andere Meinungen zu vertreten als die derzeit herrschenden. Schon mein ganzes Leben wurde ich zum Selbstdenken angehalten. Wenn das überhaupt irgendwann einen Wert haben soll, dann doch jetzt, in der größten Krise, die wir bisher erlebt haben (und hoffentlich erleben werden).

Auf der anderen Seite findet man viel unseriöses – meist sind es Youtube-Videos auf obskuren Kanälen, in denen irgendwer mir erklären will, das alles sei wahlweise eine Verschwörung oder halt nur eine bessere Erkältung. Auch hierzu erübrigt sich eigentlich jeder Kommentar, aber der Vollständigkeit halber sei es gesagt: Fallt nicht auf so etwas herein. Gerade jetzt sollten wir alle uns an seriöse und nachvollziehbare Quellen halten. (Ein Sonderfall scheint mir die Virologin Karin Moelling zu sein, deren Argumentation im Radio-Eins-Interview mir durchaus nachvollziehbar erscheint, wenngleich sie die Erklärung für die Ereignisse in Italien schuldig bleibt. Ihre anderen Interviews habe ich noch nicht in voller Länge gehört. Ich wäre dankbar für Hinweise von Leuten mit Fachverstand, die das einordnen können.)

Wir haben also eine Situation, in der wir einerseits vor einer möglichen Epidemie mit zahlreichen Toten stehen (siehe Italien und Spanien) und andererseits vor einer Wirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes (ebenfalls mit nicht wenigen Toten, wenn man es nüchtern zu Ende denkt). Und um es kurz zu machen: Ich halte das zweite Szenario für deutlich gravierender und auch für wahrscheinlicher (von Wahrscheinlichkeit muß man eigentlich nicht mehr reden, denn es hat ja bereits angefangen, wohingegen die Epidemie weiter auf sich warten läßt – die Krankenhäuser sind auf den Ansturm vorbereitet, bisher ist er aber ausgeblieben, so zumindest Charité-Chef Kroemer gestern in der Pressekonferenz. Und überhaupt würde ich sehr gerne mal Daten sehen, wie denn die Lage in den Kliniken eigentlich ist).

Das Zauberwort dieser Tage lautet: Evidenz. Also belastbare Meßdaten, anhand derer wir unser Handeln ausrichten können. Die gibt es nun leider kaum. Forscher warten mit gutem Grund sehr lange, bis sie sich felsenfest sicher sein können. Christian Drosten sagt noch im Podcast vom 28.2. wörtlich: „Es gibt im Moment überhaupt keinen Grund, irgendetwas zu machen oder sich irgendwelche Sorgen zu machen“ und fährt fort, daß er sich eher Sorgen macht um das, was in einem Jahr sein könnte (sämtliche Folgen als PDF gibt es hier). Anfangs lautet seine Botschaft „Keine Panik“, das ändert sich dann erst irgendwann. Und das kann man ihm nicht vorwerfen – er verläßt sich nicht auf Medienpanikmache, sondern auf Evidenz. Und auch als die Lage dann ernst wird und die Politik Maßnahmen ergreift, bleibt er korrekt und sagt: „Wenige der Entscheidungen der letzten Tage waren rein evidenzbasiert, viele waren vor allem politisch und bestimmt richtig. Sie sind zum Teil sicher auch unter dem Eindruck der strikten Maßnahmen in den Nachbarländern zustande gekommen.“ (Zeit-Interview vom 20.3.)

Hätte jemand am 28.2. geschrieen: DOCH!! PANIK! WIR MÜSSEN JETZT ALLE VERANSTALTUNGEN ABSAGEN!, dann würden wir ihm im Nachhinein recht geben. Hinter ist man klüger. Aber kann man daraus etwas lernen?
Ich meine: Ja.
Denn auch jetzt sehen wir wieder dasselbe: Warten auf hammerharte Evidenz. Wir müssen die Wirksamkeit der Maßnahmen abwarten, bevor wir irgendwas entscheiden. So argumentieren die Naturwissenschaftler, und auf ihrem Gebiet haben sie recht. Aber dieselben Wissenschaftler betonen ja auch immer, daß hier politische Entscheidungen getroffen werden müssen, und zwar von Politikern, die auch andere Parameter im Blick haben.
Und da kann man meines Erachtens sagen: Wir haben klare soziologische und ökonomische Evidenz, daß hier bereits ein ungeheurer Schaden angerichtet wurde, der von Tag zu Tag schlimmer wird. Reihenweise stehen Menschen und Firmen vor dem Bankrott, von häuslicher Gewalt und psychischen Krankheiten ganz zu schweigen. Die versprochenen unbürokratischen Hilfen erweisen sich als alles andere als unbürokratisch. Oder sie laufen auf „Hartz IV“ hinaus. Oder auf Kredite zu 7% Zinsen. Wir und kommende Generationen werden über Jahre und Jahrzehnte die Rechnung bezahlen. Und das ist kein kaltherziges Wirtschaftsdenken, das sind nicht ein paar Euro mehr oder weniger auf dem Konto, da geht es bei vielen Menschen um die nackte Existenz, und das schlägt sich nicht zuletzt auch in Krankheiten und Todesfällen nieder.

Es ist also meiner Meinung nach an der Zeit, daß genau jetzt jemand das ruft, was Ende Februar noch nicht gerufen wurde: Stop! Panik! Wir müssen SOFORT etwas unternehmen! Wir müssen die Maßnahmen lockern und dafür die Risikogruppe konsequent schützen. Wir können nicht warten, bis die Virologen sich felsenfest sicher sind – es geht einfach zuviel kaputt, der Schaden durch die Kur würde dann den Schaden durch die Krankheit um ein Vielfaches übertreffen. Es ist ein bißchen wie ein Schlangenbiss im Knöchel – der ist bei Nichtbehandlung tödlich, also amputiert man sicherheitshalber das ganze Bein.
(EDIT: Ich wurde auf eine Unklarheit hingewiesen, die ich hier korrigieren will. Ich halte die anstehende Wirtschaftskrise nicht für schlimmer als eine Epidemie mit vielen Toten, ich halte sie jedoch für deutlich schlimmer als den Verlauf, den wir kriegen, wenn wir die Maßnahmen lockern, z.B. im Sinne von „Smart Distancing“, wie Alexander Kekulé es im unten verlinkten Interview vorschlägt.)

Manche Stimmen sagen nun: Risikogruppen schützen? Wie soll das gehen? Und machen die Leute das mit? Ich glaube, die zweite Frage hat sich in diesen Tagen in Deutschland erledigt. Die Leute machen wirklich erstaunlich viel mit. Und auf die erste Frage gibt es zahlreiche, simple Antworten, wie man sich und andere vor Ansteckung schützt. Vergleiche dazu die ersten Folgen des Drosten-Podcasts oder auch diesen Text: „During the SARS epidemic, I traveled all over China and Hong Kong, interviewed people infected with the virus, doctors and nurses treating the disease, government officials, police—everybody. I was never concerned that I would become infected, despite being in the room with sick individuals. And that’s because I knew what precautions to take. Here are the most important ones to know.“

In der Pressekonferenz von gestern wurde Christian Drosten zu diesem Thema (Risikogruppenschutz) übrigens auch gefragt. Er hat es knapp vom Tisch gewischt: Nein, das ist trivial, das kann man modellieren, das geht nicht. Ich finde diese knappe Pauschalaussage irritierend und finde es bedauerlich, daß nicht genauer nachgefragt wurde. Zumal genau darauf ein Interview hinausläuft, das der Virologe Alexander Kekulé heute der „Zeit“ gegeben hat.

Ich finde kein gutes Fazit für diesen Text. Also belasse ich es einfach dabei. Er ist ohnehin schon lang genug. Und das Ende ist offen.

Noch ein paar weitere Links:

Es gibt einen Text vom „Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin“. Es lohnt sich, den in voller Länge durchzulesen. Er kommt zu keinem sensationell anderen Fazit, aber er stellt zahlreiche Fragen, die derzeit in der Öffentlichkeit kaum gestellt werden. Er traut sich sogar, den Grippe-Vergleich aufzumachen, der ja so etwas wie der neue Hitlervergleich ist. Dan man aber durchaus anstellen kann, sofern man „vergleichen“ nicht um umgangssprachlichen Sinne als „gleichsetzen“ versteht, sondern als „nebeneinanderhalten und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragen“. Ich zitiere ich eine längere Passage:

„Die Zahlen aus China sind wenig glaubwürdig. Dass in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen das „Containment“ so gut funktioniert, dass sich plötzlich niemand mehr infiziert (25 Neuinfektionen im ganzen Land am 18.3., keine Neuinfektionen am 19.3.) [3], erscheint doch sehr unwahrscheinlich. Und was passiert, wenn die NPIs gelockert werden? Ansteckungsrate, Virulenz und Pathogenität des Virus ändern sich doch durch das Containment nicht. Das heißt, dann wird die Ausbreitung, wie im Report des Imperial College prognostiziert [16], wieder Fahrt aufnehmen und exponentiell fortschreiten, bis ca. 60 bis 70% der Bevölkerung infiziert wurden und dann immun sind. Oder wurde dieser Status in China bereits erreicht? Dann wären die 3.217 Toten (Stand 19.3.) [3] in Relation zu 1,4 Milliarden Bevölkerung allerdings weit unter der Todesfallrate der jährlichen Influenza, die wir bisher ohne drastische NPIs in Kauf nehmen.
Die bisher wenigen Todesfälle in z.B. Deutschland und Österreich sprechen ebenfalls eine andere Sprache. Wird hier im Fall von SARS-CoV-2 – im Gegensatz zur Influenza – einfach nur umfangreicher gemessen? 2017/18 sind in Deutschland 25.100 Menschen an Influenza verstorben [12]. Wenn man die vom RKI für 2017/18 errechnete CFR von 0,5% zugrunde legt, entspricht dies einer Anzahl von 5 Millionen Infizierten. Die Grippe-Saison dauerte laut Surveillance-Bericht des RKI von der 52. Kalenderwoche 2017 bis zur 14. Kalenderwoche 2018, also 15 Wochen [11]. Um innerhalb von 15 Wochen auf 5 Millionen zu kommen, müsste sich die Anzahl der Infizierten alle 4,4 Tage verdoppeln – ähnlich wie wir es jetzt bei SARS-CoV-2 sehen – nur bei der Influenza haben wir es nicht gemessen. Es gab jedenfalls 2017/18 keine Meldungen, dass unser Gesundheitssystem überlastet war, obwohl sicher alle 25.000 Grippetoten vor ihrem Tod medizinisch versorgt wurden, die meisten sicher stationär oder gar intensivmedizinisch.“

Soweit das Zitat. Wie gesagt, es lohnt sich, den ganzen Text zu lesen. Und um ganz sicherzugehen: Nein, es ist KEINE Grippe, Hergottnochmal, denn ein wesentliche Unterschied ist, daß wir keine Impfung und auch keine Grundimmunität haben. Gegenüber Corona sind wir alle erstmal immunologisch naiv und scheiden bei Infektion millionenfach Viren aus (Quelle: Drosten im Podcast, genaue Stelle müßte ich suchen).

Außerdem, anderer Schauplatz, aber dennoch interessant: Die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen ist höchst zweifelhaft. Das findet auch die Anwältin Jessica Hamed im FR-Interview.

Dazu auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: „Die Eingriffe in die individuelle Freiheit der Bürger müssen eine Ausnahme bleiben, verhältnismäßig sein und schnellstmöglich auslaufen. Denn auch in der Krise ist nicht alles erlaubt.

Berlinale, letzter Tag – Durchschnitt ist Durchschnitt, aber die Kids sind alright.

Schon wieder alles vorbei. Fazit: Diesmal kaum Filme geguckt, aber ein paar gute waren dabei. Im Gedächtnis bleiben mir vor allem ein paar Dokumentarfilme. Wer Dokumentarfilme macht, hat meine volle Bewunderung. Die widmen sich jahrelang mit stiller Beharrlichkeit ihrem jeweiligen Thema, jonglieren mit den Launen der Welt und der Leute, sitzen dann wiederum jahrelang mit hunderten Stunden Material im Schneideraum, das ganze außerdem in einem Umfeld, in dem Dokumentarfilme immer schwieriger zu finanzieren sind und immer öfter schon im Vorfeld ein „Drehbuch“ verlangt wird, was wie ein schlechter Witz klingt, aber leider nicht so gemeint ist.

Aus diesen und anderen Gründen mache ich keine Dokumentarfilme, aber ich hätte da einen, den mal jemand machen müßte. Nur zwei Steinwürfe vom Potsdamer Platz entfernt gibt es nämlich einen dieser Orte, die in Berlin eigentlich längst alle plattgemacht wurden: Ein Hof voller Garagen und Baracken, in jeder Garage sitzt jemand und schraubt an Autos herum, sie kommen aus vielen Ländern und haben viele Spezialisierungen, da gibt es Zylinderkopf-Uli und Vergaser-Ede, Hassan den Lackierer, Adel aus Senegal, Cesar aus Chile, und es herrscht keineswegs harmonisches Multikulti, es ist eigentlich dauernd Streit, jeder steht jedem im Weg, der eine redet nicht mehr mit dem anderen, abends kommen zwei Pferdekutschen und nehmen irre viel Platz weg, und der Pächter vons Janze, der jeden Monat die Miete einsammelt, sieht aus wie hundert Jahre Knasterfahrung. Es wäre eine wunderschöne Langzeitdoku, aber bis die einem alle vertrauen, müßte man schon ein halbes Jahr mit jedem abhängen. Wer also diesen Film machen möchte, möge sich melden, ich kann ihm oder ihr die wichtigsten Protagonisten vorstellen und freue mich dann aufs Endergebnis, vielleicht so auf der Berlinale 2025 oder 26.

Gute Dokfilme von der Berlinale 2019, also, beispielsweise: „Berlin Bouncer“ von David Dietl, ein Dokumentarfilm über Türsteher vor Berliner Clubs. Wie jeder gute Dokumentarfilm guckt er einfach hin, läßt die Leute reden und schneidet mit sicherem Gespür einen hochinteressanten Film daraus. Auch ganz toll: „Erde“ von Nikolaus Geyrhalter. An sieben Orten auf der ganzen Welt schaut er zu, wie Menschen mit riesigen Maschinen die ganze Erde umgraben. Die Bilder, die er findet, sind beeindruckend und bedrückend und majestätisch und erhaben. Solche Filme könnte ich mir wochenlang angucken. Schon Geyrhaltes letztes Werk „Homo Sapiens“ fand ich so schön, daß es in mir ein Spielfilmprojekt inspiriert hat, das seitdem als Drehbuch herumliegt und nicht finanziert wird.

Außerdem: „6Minuten66“ von Julius und Katja Feldmeier. Da spiele ich selber mit. Nein, ich spiele nicht, oder doch, ich spiele, aber nur mich selber, oder nein, ich spiele eine Version von mir selber, die ich gern wäre, oder so ähnlich. Wim Wenders hat im Jahr 1982 berühmte Filmemacher mit einer laufenden Kamera in einem Hotelzimmer alleingelassen, um über das Kino zu reflektieren, wobei die Versuchsanordnung ja selber schon eine Reflektion übers Kino ist. Bei Wenders waren es unter anderem Fassbinder, Antonioni, Spielberg, Herzog, Godard, bei Feldmeiers im Jahr 2018 waren es Lass & Lass, Ranisch, Qurbani, Gebbe, Stuber, Schwochow, meine Wenigkeit und einige andere. Damals also Weltklasse, heute die jüngere Hälfte der deutschen Filmszene, aber ich habe starke Zweifel, ob irgendjemand damals unterhaltsamer war, als die Lass-Brüder oder auch Axel Ranisch es in diesem Film sind. Der Fragenzettel, mit dem man im Zimmer alleingelassen wurde, handelte vom Tod des Kinos, vom Ansturm neuer audiovisueller Erzählformen und so weiter. Ich versuchte damals zunächst irgendwas sinnvolles zu sagen, stellte dann fest, daß mir nichts sinnvolles einfiel, mir aber auffiel, daß ich in einem obszön teuren Hotelzimmer im Herzen von Kreuzberg saß, also legte ich Hand an die Kamera, schwenkte sie nach draußen auf den Oranienplatz und fragte mich und die Welt, was das alles soll.

Der Film ist jetzt also fertig und hat Premiere, tags drauf gibt es eine Podiumsdiskussion zum selben Thema. Ich lege ja enormen Wert auf Pünktlichkeit, kriege es aber selber hin, eine halbe Stunde zu spät zu erscheinen, wühle mich durchs Publikum zum Podium, setze mich auf selbiges und sage: Stirbt das Kino, stirbt die Kunst, ich kann es nicht mehr hören, das ist mir alles zu konservativ, erstens ist das Theater auch nicht gestorben, zweitens kommt immer was neues, wenn was altes stirbt, drittens ist die neue Kunst oft ein Schlag ins Gesicht der alten, irgendwelche ungewaschenen Halbstarken spielen E-Gitarren mit übersteuerten Verstärkern, daß es den Erwachsenen graust, 50 Jahre später sind die Halbstarken von damals die konservativen Säcke von heute, die ihren einstmals rebellischen Geist schon längst unter hirntoten Fachsimpeleien über 7000€ teure Stratocaster oder Marshall-Amps begraben haben, und die finden es dann grauslich, daß die Jugend nur noch Geräte mit blinkenden Knöpfen drückt, wo Beats rauskommen. Und wenn das Kino stirbt, dann vielleicht deswegen, weil die Filme selber zu konservativ geworden sind? Sind sie im konventionellen Sinne natürlich nicht, die meisten Filme geben sich progressiv, auch hier auf der Berlinale, aber meistens werden doch da sehr klare Sympathieschemata bedient, ich muß nicht lange nachdenken, was ich gut zu finden habe, und das nenne ich konservativ. Das reißt mich selten vom Hocker. Dafür gehe ich abends nicht aus dem Haus. Ich will im Kino das verbotene, finstere, überraschende, lustige, den Exzeß, die Feier, den Schlag ins Gesicht. Ach, und die Jugend von heute mit ihren Smartphones, die ist übrigens auch gar nicht so schlimm. Ich habe ab und zu mit Schulklassen zu tun, und die sind meistens sehr aufgeschlossen und interessiert an der Welt. Das war zu meiner Schulzeit schon so, einige fand ich ziemlich stumpf, die allermeisten voll okay, ein paar einzelne richtig toll, das ist heute noch ganz genauso, the kids are alright, hört mal auf zu meckern, ihr kulturpessimistischen Wohlstandsrentner.

Hinterher sagt mir eine, die im Publikum saß: Du warst voll aggro.
War ich?
Verdammte Scheiße! Aber dann ist das so! Lieber aggro as depri! Ich kann das Gejammer nicht mehr hören! Der Untergang der Kunst steht bevor, seit die ersten Menschen Büffel an Höhlenwände malten! Schon immer ging alles den Bach runter, und außerdem ist der Durchschnitt immer Durchschnitt, es gibt immer einen irgendwie falschen Konsens, der für einige Jahren Moden nach oben spült, die eine Generation später kaum mehr nachvollziehbar sind, und es wird doch immer Schlupflöcher geben, wo spannende und tolle Dinge stattfinden. Es wird immer eine Heidenarbeit sein und sich kaum lohnen, egal ob man Bands gründet, Filme macht, seinen Namen tanzt oder Morsezeichen furzt! Basta, Amen! Ich beende mein diesjähriges Berlinale-Tagebuch mit diesem flammenden Plädoyer für, äh, für was eigentlich? – egal, damit beende ich es.

Und wenn man etwas beendet hat, was macht man da? Man guckt aufs Handy. Da kriege ich einen Newsletter gesendet, darin wird ein Artikel empfohlen:

Why do Dieters succeed or fail?

Das ist eine hochinteressante Frage. Kann ich aber leider nichts zu beitragen. Kenne mich mit dem Thema nicht aus. Stattdessen blättere ich auf der Berlinale-Website ein wenig durch die Jahresarchive und entnehme denen, daß das Festivalprogramm seit dem Jahr 2002 schlagartig besser geworden ist. Über die Jahrgänge bis 2001 steht da öfter sowas wie „Fehlstart, Aufholjagd und Achtungserfolg“ oder daß der Wettbewerb durchwachsen oder sonstwie schwächelnd war. Ab 2002 ist damit Schluß, da war dann alles super. Das ist eine schöne Nachricht, denn sie zeigt, daß eben doch nicht immer alles den Bach runtergeht.

Ganz zum Schluß noch ein Loblied auf diejenigen, die nicht ganz oben, sondern ganz unten arbeiten, dort höchstwahrscheinlich am wenigsten verdienen und dafür am meisten Spaß haben, nämlich die jungen Herren und Damen an den Ticketschaltern. Die sind stets freundlich, unverwüstlich gut gelaunt und erschaffen nebenher noch Kunstwerke. Ich sah eines, war restlos begeistert und fragte, ob ich es fotografieren dürfe. Hier also das Bild. Ich sage: Meisterwerk, verneige mich vor der unbekannten Künstlerin und wünsche ihr eine große, strahlende und glückliche Karriere, und zwar nicht am Berlinale-Ticketschalter. Vielleicht ist sie nächstes Jahr schon irgendwo ganz oben und erschafft neue Kunst, die die Fans der alten auf die Barrikaden treibt. Oder sie dreht die nächsten sieben Jahre lang einen Dokumentarfilm über den erwähnten Autoschrauberhof. Wer weiß.

Berlinale, Tag 7: Ich rede mit mir selbst über mich selbst.

Vor 20 Jahren sah ich einen Kurzfilm, der aus einer zehnminütigen Applausorgie bestand. Der Film spielte in der Sowjetunion, vor irgendeiner Versammlung wird irgendwas verkündet, die Versammelten applaudieren – und hören nicht mehr auf. Wer als erster zu klatschen aufhört, der könnte ja insgeheim kein wahrer Sozialist zu sein, sondern ein Verräter, und dann wäre er schon mit einem Bein im Gulag. Also klatschen alle einfach immer weiter, bis sie vor Erschöpfung vom Stuhl fallen.

So ähnlich könnte es hierzulande vor vielen hundert Jahren gewesen sein, als man vom Sozialismus noch nichts wußte, aber dafür den Teufel nicht beim Namen nennen durfte. Tat man es doch, so geriet man in den Verdacht, insgeheim ein Teufelsanbeter zu sein, und dann stand man schon mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen, denn diesen Verdacht kann man niemals überzeugend entkräften, weil die Untat ja nur im eigenen Kopf stattfindet, genau wie die Konterrevolution im Sozialismus. Beides sind Gedankenverbrechen. Also sagte man nicht „Satan“, sondern vermied das Thema am besten ganz, und wenn es doch mal sein mußte, dann bekreuzigte man sich und sprach vom „Gottseibeiuns“.

In Uli Gaulkes wunderschönem Dokfilm „Comrades in Dreams“ sieht man eine Frau in Nordkorea, die in einer Erzählung den Tag erwähnt, an dem Kim Il Sung verstarb, und da bricht sie unversehens in Tränen aus. Wir können davon ausgehen, daß ihre emotionale Erschütterung in diesem Moment nicht so ungeheuer groß ist, aber neben der Kamera stehen staatliche Aufpasser, mit einem fremdländischen Filmteam reden ist ohnehin heikel, also bricht man vorsichtshalber besser in Tränen aus, wenn der Tod des großen Führers Erwähnung findet.

Der Applaus-Film kam seinerzeit von der HFF-Potsdam, ich bewarb mich daselbst, wurde genommen, war dann also Filmstudent und drehte Studentenfilme. In den folgenden Jahren entstanden um mich herum, an unserer und anderen Filmhochschulen, immer wieder Filme, die in allen möglichen Teilen der Welt spielten. Straßenkinder in Brasilien, Waisenkinder in Jordanien, Kindersoldaten in Somalia, Arbeiter in Bolivien, Arbeitslose in Nepal. Einige davon waren erfolgreich und gewannen Studentenoscars. Ich hätte auch große Lust gehabt, zum Drehen abenteuerlich ins Ausland zu fliegen, aber andererseits dachte ich: Was genau habe ich da eigentlich zu suchen? Was kann ich da sinnvoll erzählen, wenn ich hinfliege und ein paar Wochen bleibe? Nicht viel. Also habe ich es gelassen.

Ob mein HFF-Studienfreund André damals auch so Auslandsreisefilme gedreht hat (im Berlinale-Auswahlkomitee nennt man das angeblich „Unesco-Filme“), das habe ich leider vergessen, aber ich weiß, was er in den letzten zehn Jahren gemacht hat: Er ist immer wieder nach Chicago gefahren und hat eine Langzeitdokumentation über zwei Jungen gedreht, die Boxer werden wollen (oder sollen) und es im Lauf der Jahre auch werden. Über die Jahre habe ich einiges von dem Film mitbekommen, André ist ein Teil des Lebens seiner Protagonisten geworden, sein Kameramann Thomas Bergmann ist darüber sogar ein halber Amerikaner geworden, lebt jetzt in New York, dreht dauernd Dokumentarfilme, die dauernd in Sundance oder sonstwo auftauchen, und heißt neuerdings Tom Bergmann. Der Film ist jedenfalls fertig und läuft auf der Berlinale. Und über die Jahre, das bekomme ich jetzt erst mit, haben Produzenten und Regie sich fortdauernd die Köpfe zerbrochen, wie man mit einem ganz bestimmten Vorwurf umgehen könnte, wenn er denn kommt. Der Film hatte nun gestern Premiere, alles lief gut, jetzt sitze ich in einer Wiederholungsvorstellung, der Film ist vorbei – und da kommt er tatsächlich, der gefürchtete Vorwurf.

–This film shocked me. As a black man, I found it shocking to see the depiction of how black bodies can hurt each other. It hurts me to see this, and I think it hurts you in a different way than me, because you can just turn around and walk away.

Oh Gott. Betretenes Schweigen. Wer auch nur ein bißchen in amerikanischen Medien herumspaziert, der weiß, welcher Krieg dort tobt, und nicht nur dort, sondern auch hierzulande. André zieht sich elegant aus der Affäre:
–Ich glaube, das kann meine Produzentin besser beantworten, denn die ist selber Amerikanerin.
Das ist sie in der Tat, und da wir nun mal schon mitten in die Identitätspolitik hineingesprungen sind, machen wir es gleich richtig: Sie ist eine Jüdin aus New York, und als solche greift sie jetzt zum Mikrofon und sagt: 
–Thank you very much. I appreciate this question a lot.
Dann sagt sie lauter Sachen, die mit der Frage eigentlich nicht wirklich zu tun haben und die ungefähr darauf hinauslaufen, daß die Präsenz der schwarzen Community im Film wichtig war und so weiter, und zum Schluß sagt sie wieder:
–Thanks again. I really appreciate this question.

Das scheint als rhetorische Geste ausreichend zu sein. Das Gespräch geht jedenfalls ganz normal weiter und woandershin. Ich denke an alte HFF-Zeiten und meinen Unwillen, als deutsches Filmteam irgendwoanders hinzufliegen und da einen Film zu machen. Ich kann den Mann durchaus verstehen, wenn er denkt: Was glauben diese weißen Jungs eigentlich, da in der Chicagoer Southside einen Film über schwarze Jungs zu machen? Andererseits denke ich: Wenn man da acht oder neun Jahre lang immer wieder auftaucht und die Leute über so lange Zeit begleitet und kennenlernt, greift der Vorwurf der Aneignung des Fremden dann überhaupt noch?

Aber hier geht es ja gar nicht darum, was ich denke. Ich als weißer heterosexueller Mann habe hier gar nix zu sagen. Hier sollen diejenigen sprechen, um die es geht. Jeder soll die Hoheit über seine eigene Geschichte haben und erzählen dürfen, was er will. Da sind wir uns doch hoffentlich alle einig. Wenn man diese Forderung zu Ende denkt, wird sie absurd, denn jede Gruppe zerfällt ja wieder in Untergruppen, und am Ende redet jeder nur noch über sich selbst, aber über sich selber darf wirklich jeder reden, soviel er will, und über die eigene Geschichte verfügen darf auch jeder ganz allein. Alle einverstanden? Okay, dann kommt jetzt hier das Killerargument (das auch den Produzenten des Films in all den Jahren nicht eingefallen ist, wie ich später höre), es ist wahnsinnig simpel und es lautet:
Wenn diese zwei Jungs aus Chicago sagen: Sure, I want that white boy from Berlin to tell my story – wer kann sich leisten, ihnen das zu verbieten?
Niemand.

Es sei denn, man erklärt sie für unzurechnungsfähig, aber da spaziert man auf dünnem Eis an den Rand des Rassismus. Ähnlich wird ja oft argumentiert, wenn Frauen sagen „ich trage sehr gern Kopftuch“ oder „ich bin sehr gerne Hausfrau“ da kommt dann von rechts bzw. links gern der Einwand, die hätten ja nur die Unterdrückung internalisiert, aber so eine Argumentation will im Kopf anderer Leute herumwühlen, und das ist genauso terroristisch wie das Verfolgen von Gedankenverbrechen. Religionen wollen unseren Kopf beherrschen, im Katholizismus habe ich in Gedanken, Worten und Werken gesündigt, aber der moderne säkulare Staat hat die Gedanken aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, und das mit gutem Grund. Was der Nachbar denkt, das werde ich nie kontrollieren können, und es ist auch egal, denn es geht darum, was er tut, denn wir sind nicht in Nordkorea, nicht in der Sowjetunion und nicht mehr im Mittelalter. Zwar wurden, gerade in den USA, durch verbotene Worte schon Karrieren an die Wand gefahren und Existenzen zerstört, trotzdem ist die von manchen so wahrgenommene Meinungsdiktatur nur eine scheinbare, zumindest aber nicht so bedrohlich wie in Nordkorea. Jeder kann sagen, was er will, und genau das passiert ja auch fröhlich überall. Wenn Identität zu stärksten Argument gemacht wird (sage ich als weißer heterosexueller Mann, damit ist mein Argument automatisch schwach), dann entstehen halt auf der anderen Seite so häßliche Dinge wie die identitäre Bewegung. Wenn die Leute oft genug gesagt bekommen, sie mögen schweigen und zuhören, dann gehen sie stattdessen weg und reden nur noch mit ihresgleichen, und daß da eins der großen Probleme unserer Zeit liegt, das wissen wir doch alle, und das haben wir dann davon. Aber immerhin redet dann jede und jede nur noch von sich selber, und auf dem Gebiet haben er und sie immerhin Ahnung.

Was will ich stattdessen? Ich will eine Welt, in der schwule nordkoreanische Dokumentarfilmer*#+innen mit lesbischen französischen Kamerafrauen Filme über konservative Banker in Londoner SM-Clubs machen (und vor allem will ich, daß diese Filme am Ende spannend und interessant sind, indem sie mir nicht das erzählen, was ich eh schon weiß). Ich will eine Welt, in der „Frauenversteher“ kein Schimpfwort ist, sondern eine Selbstverständlichkeit, weil Kunst davon handelt, andere Menschen zu verstehen, und zwar über alle Schranken hinweg.

Morgens gehe ich aus dem Haus, die Nachbarin bringt gerade den Müll weg und sagt:
–Eine Klientin von mir sagt, sie findet es toll, daß du die feministischen Aktionen deiner Schwester unterstützt.
–Klientin? frage ich.
–Ja, ich arbeite in einer Einrichtung für Obdachlose, da war die und sagte: Bei dir wohnt der Brüggemann? Sag das dem mal.
Da freue ich mich natürlich sehr. Ich reagiere genaugenommen auf zwei unterschiedliche Arten.
Die erste: Na klar, wie dämlich müßte ich sein, es gibt doch immer noch zu wenige Männer, die wirklich was ändern wollen, die meisten pflegen nur die entsprechende Rhetorik, geben die passenden Phrasen von sich und machen ansonsten weiter wie bisher.
Die zweite: Ja, meine Familie, meine Schwester, mein Bruder, meine Gang, uaaah, Testosteron, ich mach alle platt, die meinen Clan angreifen!

Von diesen zwei Reaktionen ist eine politisch korrekt, die andere nicht. Beide stimmen aber. Und wenn sich jemand beschwert, dann sage ich: Thanks a lot, I really appreciate this comment.

Berlinale, Tag 6 – Mit Werner Badge nach Norddeich Mole

Der Montag, von dem ich hier erzählen will, war ja eigentlich der fünfte Tag war, trotzdem bin ich in der Zählung schon bei sechs, während heute wiederum Donnerstag, also der achte Tag ist. Das soll noch einer kapieren. Am Montag also findet die Berlinale ohne mich statt, denn wir machen einen Ausflug an die Nordsee und besichtigen Fähren, auf denen wir drehen wollen. Der Film sollte eigentlich längst fertig sein, und wir hatten längst eine wunderschöne Fähre, aber irgendwas geht ja immer schief, und jetzt ist unsere Fähre gesunken, zumindest terminlich, wir brauchen eine neue. Heute also keine Berlinale-Berichte, sondern nur ein paar Kleinigkeiten aus den vergangenen Tagen, die mir so einfallen.

Erstens: Niemand trägt mehr sein Badge um den Hals. „Badge“ könnte auch ein niedersächsischer Familienname sein, guten Tach, mein Name ist Werner Badge, aber es wird englisch ausgesprochen und bezeichnet die Plastikkarte, mit der man sich als Festivalteilnehmer ausweist. Vor einigen Jahren haben alle den sich noch um den Hals gehängt. Ich auch. Man denkt, das wäre praktisch, denn man braucht man das Ding ja ständig. In Wahrheit braucht man es allenfalls fünfmal am Tag, aber man hängt es sich um, um als Szene-Insider erkennbar zu sein. In wahrster Wahrheit sieht man damit aber nicht insidermäßig aus, sondern eher wie ein Teilnehmer eines komischen Gruppenausflugs oder ein Sektenmitglied. Diese Erkenntnis erwischte mich schon vor mehreren Jahren, seitdem stecke mir das Ding einfach nur ins Portemonnaie. In Cannes haben immer noch alle den Ausweis um den Hals, glaube ich zumindest, ich war da schon länger nicht mehr, aber in Cannes muß man ihn auch wirklich dauernd vorzeigen. In Cannes steht vor jeder Toilette ein Aufpasser im beigen Anzug und will sehen, ob du auch die richtige Klokategorie auf dem Badge hast, und wenn du aus dem Klo wieder rauswillst, will er es nochmal sehen, deswegen tragen es alle um den Hals, aber in Berlin hat das irgendwie aufgehört. Niemand trägt mehr Badge. Vielleicht heißt das auch einfach, daß der Glamour des Kinos am Verblassen ist. Man will sich nicht mehr stolz als Teil der Gemeinde ausweisen, man trägt es lieber diskret, weil es auch irgendwie ein bißchen peinlich ist. Es ist wie so eine Studentenverbindungs-Schärpe, das war vor 150 Jahren ziemlich cool, aber heute wird man damit wird sehr komisch angeguckt. Vielleicht ist das so. Wer weiß. (EDIT: Ich wurde darauf hingewiesen, daß ich möglicherweise in den falschen Kreisen abhänge, nämlich in der Partyschickeria, in der eh niemand Filme schaut. Wenn das so wäre, wäre es niederschmetternd, war ich doch immer ein stolzer fünf-Filme-pro-Tag-Konsument, aber das bin ich tatsächlich nicht mehr. Ich werde darauf achten.)

Zweitens: Die Hitlergruß-Umarmung. Zu grauer Väter Vorzeit zog man voreinander den Hut, dann irgendwann setzte sich der Handschlag durch, heute wird umarmt. Und das ist auch völlig in Ordnung. Die Sitten ändern sich. Niemals würde ich spöttisch-kulturpessimistische Beschwerden über die allgemeine Umarmerei hier hinschreiben. Das überlasse ich den alten Herren von der FAZ. Vielleicht wird man in 50 Jahren zur Begrüßung einen Purzelbaum schlagen, und auch das wird dann völlig in Ordnung sein. Aber es ist schon ziemlich lustig, wie die Umarmung oft eingeleitet wird: Man reckt den rechten Arm in die Höhe, als wäre mal wieder Reichsparteitag. Dann bewegt man sich aufeinander zu, und dann wird klar, wohin die Reise geht, aber für diesen kurzen Moment steht man voreinander und macht einen veritablen Hitlergruß.

Drittens: Positives Feedback! Ich sitze mitterweile im Zug, zurück von Norddeich Mole. Sechs Stunden hin, sechs zurück, dazwischen vier Fähren. Neben mir sitzt unser unverwüstlich gutgelaunter Aufnahmeleiter und spielt auf Quizduell mit dem Kameramann und der Szenenbildnerin, während ich so danebensitze und vor mich hintippe wie der letzte Depp. Irgendwann fragt er mich: Bist du eigentlich geistig noch da, oder schreibst du da nur noch einen langen Rant? Gute Frage, sage ich. Und dann sagt er: Deine Berlinale-Tagesberichte haben immer so die richtige Länge für einen etwas ausgedehnteren, ääh, Klogang. Die gute Laune, mit der diese Worte ausgesprochen werden, kann ich schriftlich gar nicht so recht wiedergeben, aber:
Finde ich gut!
Gefällt mir!
Like!
Superlike!
Weiß doch jeder, in welchem Zimmer Smartphones am meisten genutzt werden.

Viertens: Der Anti-Piraterie-Trailer! Da ist ein 15 Jahre altes Tastenhandy abgebildet! Wie süß! Und eine ebenfalls steinalte Videokamera. Den haben sie seit mindestens 12 Jahren nicht geändert, diesen Trailer. Und da fällt mir auf: Redet eigentlich noch irgendwer von Raubkopiererei? Oder ist das Thema erledigt, weil es ja doch einen gewissen technischen Aufwand fordert, sich an ein Torrent-Netz dranzuhängen, und die legalen Alternativen einfach bequemer sind? Wurde das Kino durch die Piraterie beschädigt? Ich glaube nicht, genausowenig wie die Musikbranche. Was die Musikbranche wirklich beschädigt hat, oder besser gesagt die Musiker, das ist Geschäftsmodell von Spotify: Das Geld wird so homöopathisch verdünnt, daß es am Ende nicht mehr nachweisbar ist. Vielleicht sollte Spotify es konsequent so machen wie Netflix und gleich den ganzen Content selber produzieren und dafür wenigstens auch kostendeckend bezahlen. Vielleicht sollte Netflix sich umgekehrt eher wie Spotify als Plattform betrachten, auf dem unabhängige Produzenten ihre Sachen anbieten können. Wäre mal Anlaß für eine längere Überlegung. Also nicht jetzt.

Fünftens eine Erinnerung aus dem letzten Jahr: Ich radle nachts nach Hause, es ist eiskalt, auf dem Potsdamer Platz steht wie ein Ufo dieser seltsame weiße l’Oréal-Container. Davor sitzt ein Wachmann, ich halte kurz an, weil er da ein sehr interessantes Fahrrad stehen hat, das nach Eigenbau aussieht. Wir kommen ins Gespräch. Ich frage: Ist das nicht total unerträglich, bei dieser Kälte die ganze Nacht draußen sitzen? Nein, sagt er, ich hab hier meinen Tee. Er wirkt ganz gut gelaunt. Muß er als Wachmann gelegentlich einschreiten? Ja, da kommen schon öfter mal Kinder, die den Container ansprayen wollen. Schlecht erzogen, verwahrlost, die gefallen ihm nicht. Was ist er eigentlich selber für ein Landsmann? Er hat irgendeinen Akzent, aber ich kann ihn nicht identifizieren. Türke, sagt er, mit zwölf nach Deutschland gekommen. Wir unterhalten uns ein Weilchen sehr nett, das meiste habe ich inzwischen vergessen, weil es ja schon ein Jahr her ist, aber diese Begegnung ist tatsächlich das erste und für eine ganze Weile auch das einzige, das mir von der letztjährigen Berlinale einfällt.

Berlinale, Tag 5 – Alle Autos sind groß

Wenn man am Samstag fröhlich feiernd durch Nachtleben hüpft, dann hüpft man am Sonntag nicht so fröhlich früh aus dem Bett, und dann findet der Film, über den ich hier hätte schreiben können, ohne mich statt. Das ist nicht weiter schlimm, denn eigentlich will ich hier auf gar keinen Fall über Filme schreiben, das ziemt sich nicht, außerdem tun das schon zahlreiche andere Leute klug und ausführlich, beispielsweise Rüdiger Suchsland, dessen Texte ich immer interessant finde. Einige Leute mögen ihn nicht, ich schon. Ich bin sowieso oft irritiert, wenn Leute über Leute reden. Da steht zum Beispiel Person A auf einem Berlinale-Empfang und sagt zu Person B: Person C ist ein eingebildetes, eitles Ekel. Fünf Minuten später und einige Meter weiter sagt Person C zu Person D: Person A ist ein arroganter Arsch. Ich bin nacheinander Zeuge beider Gespräche und denke mir jeweils nur: Wieso, A bis D sind doch alle eigentlich sehr nett. Und darin komme ich mir immer wahnsinnig naiv vor. Ich fühle mich dann wie ein Grundschüler, der sich auf dem Pausenhof in die Raucherecke verirrt hat, wo die coolen Typen aus der Oberstufe sich gegenseitig erzählen, welcher Lehrer Alkoholiker ist oder mit welcher Lehrerin fremdgeht oder regelmäßig im Puff der nächstgelegenen Kleinstadt gesichtet wird. Der kleine Grundschüler kann da nicht mitreden, er hat sowieso nur eine höchst vage Vorstellung darüber, was ein Puff ist, er steht da mit großen Augen und denkt: Boah, die kennen sich aber aus. Ungefähr so fühle ich mich, wenn Leute ihre Geringschätzung über andere Leute äußern, die ich eigentlich, nun ja, ganz nett finde.

Fairerweise muß ich aber hinzufügen, daß solche Übungen in übler Nachrede die Ausnahme sind. Die allermeisten Gespräche auf der Berlinale drehen sich eher darum, wer jetzt was mit Netflix macht.

Moment, höre ich da Stimmen aus dem Off, du ziehst doch selber dauernd hier über Leute her!
Tue ich das? Keineswegs! Ich mache mich hier über alles mögliche lustig, nee, das stimmt auch nicht, sehr viele Dinge sind doch einfach von selber lustig, und ich schreibe auf, was ich so erlebe und gegebenenfalls lustig finde. Es gibt doch nichts schöneres, als Leute zu loben und zu feiern, ob das nun die intellektuelle Speerspitze der Berliner Schule ist oder die von mir ohnehin ins Herz geschlossene Impro-Gemeinde oder Sonja Heiss oder oder den Produzenten, der mich mit Verve ausschimpft. Ja, sogar den! All diese Leute wurden hier schon ausführlich gepriesen und gefeiert, der schimpfende Produzent vielleicht etwas weniger, aber auch den mag ich am Ende sehr, das wiederhole ich nochmal ausdrücklich. Wenn Leser*innen sich aber schon beleidigt fühlen, weil ich Parallelen zwischen den Mechanismen der Filmauswahl und den Mechanismen der Tierzuchtwahl ziehe, dann tut mir das leid, äh, nee, dann tut mir das überhaupt nicht. Es ist ein großer Trend unserer Zeit, daß Leute von Dingen, die auf überraschende und irgendwie verbotene Art plausibel sind, also vom klassischen Material jeglicher Satire, verunsichert und vorsichtshalber beleidigt sind. In diese Richtung hiermit ein fröhliches Schimpfwort, ich schreibe keines hin, denkt euch selber eins und seid dann beleidigt.

Heute treffe ich die Ladies vom SWR, und wir reden über einen möglichen nächsten „Tatort“. Da kommt wieder das Cinemascope-Verbot in der ARD zur Sprache, und da ist es mit dem naiven Erstklässler in der Raucherecke endgültig vorbei, da schöpfe ich aus dem Vollen und belege die Verantwortlichen mit alttestamentarischen Flüchen. Die Ladies vom SWR sind nicht grundlegend anderer Ansicht, sie würden liebend gern wundervolle Filme in allen möglichen Bildformaten drehen, aber das ist per Anordnung aus dem zentralen ARD-Todesstern verboten. Zum Glück kommt mir aber eine Idee, wie man das Verbot umgehen könnte: Wir drehen einen sensiblen TV-Zweiteiler über eine arabische Frau zwischen religiös verbrämter Familientradition und Moderne, wir halten uns ganz nah an der Hauptfigur, und zwar so nah, daß wir den gesamten Film aus ihrer Perspektive drehen. Weil sie aber einen Gesichtsschleier trägt, sind oben und unten schwarze Streifen im Bild, und damit haben wir unser gewünschtes Bildformat durchgesetzt, da kann auch die ARD-Zentrale nichts mehr einwenden.

Danach gehe ich ins Kino und sehe Fatih Akins „Der goldene Handschuh“.
Soll ich überhaupt darüber schreiben?
Habe ich nicht eben erst verkündet, das nicht mehr tun zu wollen?
Na gut, dann hier was völlig anderes: Nachdenken über Schönheit.

Man liest in letzter Zeit, wenn man so durchs Internet flaniert, hin und wieder die Behauptung, alle Menschen seien schön. Das ist als Kampfansage gegen herrschende Schönheitsideale gedacht und löst in mir zwei konträre Reaktionen aus, zwei Seelen sitzen da in meiner Brust, und die eine sagt: Na klar, dieser Beauty-Terror überall ist doch furchtbar, wir alle sollten im eigenen Herzen die Schönheit finden und zum Strahlen bringen, denn selbstverständlich sind wir alle schön! Die Schönheit, auf die es eigentlich ankommt, die tragen wir nämlich alle in uns. Die andere Seele sieht das anders und sagt: Das ist ungefähr so sinnvoll, wie wenn ich sage: Alle Autos sind groß. Wenn alle Menschen schön und alle Autos groß sind, brauchen wir ja die Wörter „schön“ und „groß“ nicht mehr, die schaffen wir ab, dann werden unschöne Menschen und kleine Autos nicht mehr diskriminiert, aber dann wird der Volksmund oder der Schulhofmund bald neue Wörter mit vergleichbarer Bedeutung erfinden. So spricht die zweite Seele, dann streiten sie sich, und dann sind sie beide traurig.
Welche Seele liegt richtig? Ich gebe zunächst beiden recht und werde am Ende dieses Textes eine Münze werfen.

Wenn man jedenfalls einen handfesten Gegenbeweis zu dieser universellen Schönheitsbehauptung sucht, dann ist man bei „Der goldene Handschuh“ genau richtig, denn hier ist niemand auch nur ansatzweise schön. Die Hauptfigur spielt der schöne Schauspieler Jonas Dassler, der sich per Maskenbildnerei in ein verunstaltetes Monster verwandelt hat. Das Monster basiert auf einer realen Figur, nämlich dem Serienmörder Fritz Honka, der in den 70er Jahren in Hamburg lebte. Wenn nach überstandenem Film Fotos des realen Honka sieht, dann denkt man: Och, halb so wild, sieht doch vergleichsweise vorzeigbar aus. Ähnlich ging es mir übrigens bei dem „Gladbeck“-Zweiteiler, der im letzten Frühjahr im ZDF lief (in Cinemascope, wäre also in der ARD verboten gewesen) – der Film war toll, und das schwitzende, aufgedunsene Monster, das Sascha Gersak als Geiselnehmer hier spielte, war beeindruckend, aber der reale Geiselnehmer von damals sieht auf Fotos nicht halb so fertig aus. Ich weiß nicht genau, warum Filmemacher (ohne Gendersonderzeichen, ich kenne das nur von Männern, aber vermutlich machen das auch Frauen) da so gern auf die Kacke hauen. Da fliegt dann halt die Kacke durch die Gegend, allerdings nur metaphorisch, andererseits ist Kacke so ziemlich das einzige, das hier nicht durch die Gegend fliegt. Fritz Honka vergewaltigt, quält, mißhandelt und erschlägt im Vollsuff eine Frau nach der anderen, die Frauen sind erst aufgedunsene Alkoholleichen und dann nur noch Leichen, Honka zerstückelt und zersägt sie, Honka grunzt und röchelt, ich will hier weg. Freude macht das offensichtlich keine, allenfalls im Kontrasteffekt, denn so schlimm ist mein Leben ja immerhin nicht, aber das reicht nicht aus, um mich bei der Stange zu halten, ich will hier weg. Ohnehin sieht man Filme ganz anders, wenn man sich zur Angewohnheit gemacht hat, sie konsequent nur noch dann abzusitzen, wenn sie wirklich interessant sind, und sonst einfach zu gehen. Das ist natürlich Spielverderberei, denn das Spiel namens „Kino“ enthält ja die Verabredung, daß man drinbleibt, auch wenn es schlimm ist, aber es ist nach 15 oder 20 Jahrgängen Berlinale andererseits einfach Notwehr und Selbstschutz. Ich will mir diese endlose Vergewaltigerei mit Kochlöffeln, diese Gewaltexzesse, diese besoffene Totschlägerei nicht ansehen, bleibe aber doch, weil sonst zehn Leute wegen mir aufstehen müßten. Die Trennlinie zwischen Darstellung und Verherrlichung, der moralische Unterschied zwischen einem Mord auf der Bühne und einem Mord im echten Leben, all das wird brüchig bei Verbrechen, die die Seele zerstören. Ein sehr gut mit mit befreundeter Schauspieler mußte mal für einen Film eine Vergewaltigung spielen und erzählte hinterher, wie er sich vor sich selbst ekelte und es eigentlich lieber nicht gemacht hätte, und ich weiß genau, warum. Man sieht immer wieder solche Szenen, man ist dann erstmal beeindruckt und sagt: Ja, die Szene war stark, aber dann denkt man genauer nach und stellt fest: Nein, sie war nicht stark, sie war einfach nur ein Schlag ins Gesicht, und ich könnte meine Mitmenschen auch jederzeit ins Gesicht schlagen, lasse es aber bleiben. Frauen im Film zu mißhandeln ist wahnsinnig einfach, es ist immer schockierend, es kostet keinerlei künstlerische Anstrengung, man betritt hier kein Neuland, sondern geht immer nur zurück in die Steinzeit. Es ist genauso einfach wie ein Kind anzuschreien oder sich beim Medienboard-Empfang vollaufen zu lassen. Ich will es nicht mehr sehen. Ich weiß, daß die Welt voll davon ist, aber das ist kein hinreichender Grund, es zwei Stunden lang im Kino zu anzusehen, denn es vergewaltigt auch meine Seele, und das ist mit voller Absicht so dramatisch formuliert. Einen Lichtblick hat der Film, das ist ein Auftritt von Marc Hosemann, der große Freude macht, aber der ist schnell wieder weg. Und dann gibt es einen Moment, in dem vielleicht der heimliche Kern des ganzen Vorhabens liegt. Da sitzt nämlich die griechische Familie in der Wohnung unter Honka beim Essen, anständig und gut gekleidet, und aus der Decke fallen auf einmal Maden, die sich da jahrelang durch die eingelagerten Leichenteile gefressen haben. Die Ausländer sind sauber und sympathisch, während ein Stockwerk darüber ein deutsches Monster Leichen zerlegt – vielleicht ist das der Payoff für ein ganzes Leben, in dem man sich von sauberen Deutschen als dreckiger Gastarbeiter beschimpfen lassen mußte. Diesen Moment mag ich sehr, genau wie einige andere Momente des Films, der ja nicht von ungefähr toll gemacht und souverän inszeniert ist. Während ich dies schreibe, falle mir immer mehr davon ein, der Film ist ein fuchtbares, großes Portrait eines völlig verkrüppelten Landes, 30 Jahre nach dem großen Krieg, dieser Eindruck ist stark und bleibt haften, aber dann wird doch wieder eine dicke Frau zwanzigmal mit dem Kopf auf den Tisch geschmettert und alles zu Brei gehauen.

Ja, jetzt habe ich doch etwas über den Film geschrieben. Es sind nur höchst subjektive Eindrücke, ich bin kein Kritiker, ich erlaube es mir, warum eigentlich nicht. Würde Fatih Akin einen Blog schreiben, in dem er darlegt, was er bei einem Film von mir empfindet, ich fände es nicht weiter schlimm. Eigentlich fände ich es sogar gut, wenn mehr Leute das tun würden.

Harter Schnitt: Party! Die besten Berlinale-Partys sind die, in die jeder reinkommt. Also beispielsweise die Revolver-Party, die „Familienfeier“ aus dem Sehr-Gute-Filme-Kreis oder die Lass-Brüder-Party im SO36. Letztere ist am Sonntag, und es ist jedesmal ein wunderschönes großes Fest der Harmonie und Freude. Kein Business, kein Blödsinn, wir freuen uns übereinander und tanzen. Und hier ist der oben angekündigte Münzwurf gar nicht mehr nötig. Der Schöngeist hat gewonnen, hier sind alle wunderschön –  ganz egal wie sie aussehen.

Berlinale, Tag 4 – Kritik am Katzenbaby

Heute gehe ich endlich mal ins Kino, wobei „Kino“ nicht ganz zutrifft, denn ich gehe in den Friedrichstadtpalast. Als dieses Gebäude errichtet wurde, waren die Menschen vermutlich noch kleiner, hatten aber auf jeden Fall kürzere Beine. Die Sitze stehen fürchterlich eng und haben aus irgendeinem Grund Lüftungsschlitze oben in der Lehne. Man weiß zweieinhalb Stunden lang nicht, wo man seine Knie hintun soll. Ein guter Film könnte bewirken, daß man zweieinhalb Stunden lang die eigenen Knie vergißt, aber dieser bewirkt das leider nicht. Er handelt von ein paar Männern in Lyon, die einen katholischen Priester zur Strecke bringen, der sie als Kinder sexuell mißbraucht hat. Ich muß scharf nachdenken, wem meine Sympathie gehört – es dauert so zwischen einer und zwei Sekunden, dann weiß ich es. Dieses Phänomen, nennen wir es den Ritt auf der sowieso schon durchs Dorf getriebenen Sau, greift leider um sich. Sexueller Mißbrauch in der katholischen Kirche ist als Thema ungefähr so komplex wie ein Bild von einem Katzenbaby: Der Reiz ist sehr klar und die Reaktionen nicht besonders variantenreich.

Für mein Gefühl gibt es zur Zeit etwas zu viele Filme, die schon mit ihrer Themenwahl eindeutige Knöpfe drücken und genau wissen, wohin die Sympathie gehört. Geht in Ordnung, kann man machen, selbstverständlich sympathisiere ich mit jedem transsexuellen Coming-of-Age-Kampf überall auf der Welt, mit jeder lesbischen Beziehung in feindseliger viktorianischer Umwelt und jeder illegalen Abtreibung im Spätmittelalter, wirklich, ich sage das nicht nur so, mir ist alles willkommen, was die Weltherrschaft der gräßlichen alten Männer unterminiert, aber wenn darüber Filme gemacht werden, dann reißen die mich oft nicht so richtig vom Hocker, beziehungsweise reißt es mich gar nicht erst auf den sprichwörtlichen Hocker, auf dem ich den Film dann überhaupt erst angucken würde, denn da muß man ja erstmal hin. Weil die moralischen Gewichte aber immer so dringlich und so eindeutig verteilt sind, ist es kaum möglich, diese Art von Festivalfilmen als Film zu kritisieren, ohne daß es gleich so aussieht, als würde man auch ihre Moral kritisieren, und dann steht man da wie ein Unhold aus der Steinzeit. Vor zwei Jahren gab es übrigens einen amerikanischen Film namens „Get Out“, der triumphal vorgemacht hat, daß es auch anders geht, aber der lief nicht bei der Berlinale, sondern in Sundance, was leider oft vorkommt.

„Grâce à Dieu“, der Priestermißbrauchsfilm, ist auch gar nicht so schlimm, er ist einfach etwas langweilig und eine halbe Stunde zu lang, und spätestens mit eingezwängten Knien im Friedrichstadtpalastgestühl fühlt er sich selber wie eine zähe katholische Messe an, aber weil er weder im Me-Too-Fahrwasser schwimmt noch im großen Gender-Queer-Politik-Zirkus herumspringt, sondern auf einer seit zehn Jahren durchs Dorf getriebenen Sau herumreitet, die inzwischen schon eine ziemlich müde Sau ist, kann ich ihn hier fröhlich kritisieren, ohne dafür hinterher zur Beichte zu müssen. Genau deswegen lasse ich das jetzt aber bleiben und gehe woandershin, nämlich nach dem Film zunächst aufs Klo (das ist banal, aber nach einem 137-Minuten-Film im Friedrichstadtpalast doch erwähnenswert) und danach zum Medienboard-Empfang. Da sind alle, da kann man sich schön ans Geländer stellen, auf den Eingang heruntergucken und in trauter Runde ein wenig politisieren.

Von meiner Kindheit bis in das Jahr, in dem ich beim Film anfing, hieß der deutsche Kanzler Helmut Kohl, und von meinem allerersten ahnungslosen Berlinale-Besuch einige Jahre nach Kohls Abtreten bis zum heutigen Tag hieß der Festivalleiter Dieter Kosslick. Jetzt hört er auf, und ein neuer kommt. Stinknormaler Vorgang, sollte man meinen, aber wäre natürlich toll, wenn das Verfahren solide und der Nachfolger (männliches Wort, neutrale Bedeutung) eine integre und kompetente Person (weibliches Wort, neutrale Bedeutung) wäre. Wenn 80 Leute in einem offenen Brief genau das fordern, dann kann man eigentlich wenig dagegen einwenden. Dachte ich zumindest. Offenbar hatte es aber eine Wirkung wie ein Stich ins Wespennest, ein Kanonenschlag im Hühnerhof oder eine Stinkbombe beim Galadiner. Ich höre das immer nur aus zweiter Hand, aber anscheinend sind immer noch einige hundert Menschen innerhalb und außerhalb der Berlinale beleidigt, pikiert, empört, gekränkt, indigniert, verschnupft und auf den Schlips getreten. Vielleicht wollten die alle den Job insgeheim selber haben. Einige der Unterzeichneten begannen nach Veröffentlichung des Schreibens auch zu schwanken und zurückzurudern, und da fehlt mir dann das Verständnis. Unterschreibt halt keine offenen Briefe, wenn ihr so dolle Angst vor Gegenwind habt. Da lobe ich mir meine Freunde von der Berliner Schule und meine anderen Freunde vom Neuköllner Mumblecore: Nichts miteinander gemeinsam, leben auf völlig unterschiedlichen Planeten, aber jeweils total geradlinig und keine Angst vor gar nix. Berlinale-Leiter würde ich übrigens wirklich nicht werden wollen, nur über meine Leiche, als Leiche wäre der Job vielleicht reizvoll, aber erstmal wünsche ich Carlo Chatrian aus vollem Herzen alles Gute. Möge er ein tolles Festival machen, und mögen sie ihn um Gottes Willen machen lassen. Wehe, ihr legt dem Steine in den Weg, sonst komme ich und sperre euch mit den dreihundert langweiligsten Wettbewerbsfilmen aus 70 Jahren Berlinale einen Monat lang in den Friedrichstadtpalast.

Berlinale, Tag 3 – Die Kinder des Kalauers

– Das war scheiße von dir, sowas macht man nicht, das verzeihe ich dir nicht!
– Macht nichts, ich habe dich ja auch gar nicht um Verzeihung gebeten.
Kann ein Streitgespräch, das so anfängt, versöhnlich enden? Oder wird es in eine Schlägerei ausarten?

Falls es eine Schlägerei wird, sollte man vorher ausholen.

Also: Als wir im Herbst 2016 den „Stau“-Tatort drehten, da stand unser Set in einer riesengroßen Messehalle. In der benachbarten Halle war normaler Messehallenbetrieb, und irgendwann dachte ich mir nach Drehschluß: Mal gucken, was da so los ist. In der Halle war eine Kleintierzüchter-Leistungsschau, da standen lange Reihen von Käfigen mit Kaninchen, aber das waren nicht diese niedlichen kleinen Kaninchen, die durch Berliner Parks hoppeln, sondern riesige Viecher, jedes so groß wie ein zweijähriges Kind, und die meisten von ihnen sahen seltsam aus. Man kennt das von der Hundezucht: Wenn ein Schäfer einen Schäferhund braucht, denn geht er zum Züchter und holt sich einen Hund, der schlau ist und schnell rennen kann. Wenn hingegen Hundezüchter um des Hundezüchtens willen Hunde züchten, dann gibt es da einen Verband, der festschreibt, wie ein Schäferhund auszusehen hat: Die Rückenlinie soll im Winkel von 17° abfallend sein, die Zunge in diesem und jenem Winkel aus dem Maul hängen und so weiter. Bei den entsprechenden Tierzüchtertreffen gibt es dann Jurys, die den Hund prämieren, der am diesem Standard am ehesten entspricht. Das sind dann oft Schäferhunde, die kaum laufen können, oder Katzen, die aussehen wie Möpse, oder Goldfische, die sich in ihrer riesengroßen Schwanzflosse verheddern, aber man hat sich nun mal darauf geeinigt, daß der ideale Goldfisch so auszusehen hat, also wird er so gezüchtet. Insider kennen sich aus und können stundenlang die ideale Schäferhundrückenlinie diskutieren, der Laie steht ratlos daneben, und der Schäfer, der seinen Hund (oder seinen Goldfisch) zum Arbeiten braucht, holt ihn sich woanders.

Filmfestivals funktionieren so ähnlich. Über die Jahre hat sich ein gewisser Standard ergeben, wie ein künstlerisch wertvoller Film auszusehen hat. Anders als beim Schäferhund ist dieser Standard nirgends festgeschrieben, er kann sich auch mal ändern, aber trotzdem gibt es ihn. Gut ist erstmal alles, was sich vom kommerziellen Kino abhebt. Letzteres ist meist bunt, schnell, lustig und setzt auf Spektakel und Überwältigung, also nehmen wir das Gegenteil davon und zeigen entsättigte, langsame, ernste und ereignisarme Filme. Der riesengroße Vorteil ist hier, daß man diese Eigenschaften sehr einfach feststellen kann, anders als subtilere Qualitäten wie gut und schlecht, die sich der Messung eher entziehen. Die Auswahl wird dadurch einfacher und leichter zu evaluieren, das Festival wird also effizienter. Der riesengroße Nachteil ist, daß diese Eigenschaften sehr leicht herzustellen sind. Die Jury prämiert die Katze mit der kürzesten Mopsnase bzw. den Film, in dem am wenigsten passiert, also ist es nur logisch und vernünftig, einen Film zu machen, in dem noch weniger passiert, und eine Katze zu züchten, die eine noch kürzere Nase hat. Wenn Gruppen nur noch mit sich selbst kommunizieren, begünstigt das die Entstehung solcher gedanklicher Blasen, die für den Außenstehenden nicht mehr nachvollziehbar sind. Das ist keine sensationelle Erkenntnis, sondern weithin bekannt, aber wenn man die Insassen dieser Blasen darauf hinweist, werden sie sehr sauer. Es ist ja auch kompliziert, denn die Züchter und Filmemacher handeln im besten Gewissen, sie machen ihre Arbeit sorgfältig und gut, dennoch stehen sie in einer Gruppenverabredung, die für die Außenwelt oft rätselhaft bleibt, und am Ende kriegt der Mops kaum Luft, weil man ihm die Nase weggezüchtet hat.

Als ich vor zehn Jahren meine ersten langen Filme plante und machte, da mußte ich kopfschüttelnd mit ansehen, wie die Filmwelt sich über Filme begeisterte, die eine große formale Gemeinsamkeit hatten und die ich meistens sterbenslangweilig fand. Einige waren toll, die meisten nicht. Es wäre mir problemlos möglich gewesen, auch so einen Film herzustellen, die formalen Knöpfe wären sehr leicht zu drücken gewesen, aber ich wollte ja nicht primär Preise gewinnen (sekundär durchaus gern), sondern etwas machen, das für sich selbst steht und funktioniert und sowohl in meinem Kopf als auch in den Köpfen anderer Leute etwas bewegt. Die Tempel der Filmkunst stürmt man damit nicht, das war mir erstmal egal, dann sah ich, wie Jahr für Jahr der Berlinale-Wettbewerb die Ödnis aufs Podest hob, während die eigenwilligen und interessanten Sachen in Nebenreihen oder gar nicht liefen, irgendwann war ich dann sauer, und als ich mal aus einem wirklich unerträglichen Film kam, reichte es mir und ich schrieb einen wütenden Blogtext namens „Fahr zur Hölle, Berliner Schule“, der dann viel durchs Netz ging.

Und damit sind wir wieder in der Gegenwart. Ich stehe in einem Kreuzberger Lokal, ein Weltvertrieb hat zum Umtrunk geladen, übrigens ist „Umtrunk“ ein lustiges Wort, weil man tatsächlich oft das Gefühl hat, daß die Leute sich selbst buchstäblich umtrinken wollen, jedenfalls stehe ich da, es gibt Tapas mit irrsinnig viel Knoblauch, und vor mir steht ein Filmproduzent und beschimpft mich. Ich kann es ihm nicht verdenken, denn er hat den Film produziert, der damals Auslöser für meinen folgenreichen Text war. Trotzdem kann ich mich natürlich nicht einfach widerspruchslos beschimpfen lassen.
– Das war furchtbar! Wir saßen im Auto auf dem Weg zur Premiere, überall hagelt es Verrisse, so etwas macht man nicht!
– Aber mein Text kam doch erst zwei Tage nach der Premiere, an dieser Situation bin ich also wirklich unschuldig.
– Egal, so etwas macht man einfach nicht! Das ist das hinterletzte!
– Mein Text hatte seine Wirkung doch nur dadurch, daß er so oft geteilt wurde. Der stand nicht in irgendeiner Zeitung mit Millionenauflage, sondern auf meiner kleinen Webseite. Den hätte keiner mitgekriegt, wenn er nicht anscheinend sehr vielen Leuten aus der Seele gesprochen hätte. Beschimpf also die Leute, nicht mich.
– Egal, du hast es ja trotzdem gemacht, du hast geschrieben: „Berliner Schule, verrecke“!
– Nein, niemals hätte ich „verrecke“ geschrieben, das wäre übelste Nazisprache, ich habe vielmehr geschrieben: Fahr zur Hölle, und das war eine ganz bewußte Referenz ans Genrekino. Fahr zur Hölle, Gringo oder Django oder sonstwer. Die Berliner Schule macht doch selber gern seziermessermäßig herauspräparierte Genre-Referenzen, außerdem verweist es darauf, daß die ganze Sache letztendlich doch spielerisch zu behandeln ist. Komm, wir trinken einen Schnaps.
– Nee, das kannste vergessen, erzähl doch keinen Blödsinn, unter Kollegen macht man so etwas nicht, sich dermaßen persönlich anzugehen.
– Erstens war das war nicht persönlich, denn ich habe ja nicht geschrieben: Dieser Regisseur ist ein talentloser Depp, sondern es ging um den Film, und darin war es natürlich persönlich, weil Kunst immer persönlich ist, aber da stecken wir alle mit drin. Außerdem: Steht das eigentlich wirklich irgendwo geschrieben, daß eine Krähe der anderen kein Auge aushacken darf? Waren die fruchtbarsten und aufregendsten Zeiten in der Kunst nicht von spektakulären Streitereien begleitet? Saalschlachten bei Aufkommen der Zwölftonmusik und so?
Ich kann seine Antwort hierauf aus dem Gedächtnis nicht mehr exakt wiedergeben, aber sie bewegt sich ungefähr im Kreis des bereits gesagten. Ich versuche zu moderieren und eine gemeinsame Basis herzustellen, indem ich sagte: Wir sind beide in einer subjektiv wahrgenommenen Defensive – ich als damals noch ziemlich kleiner Nachwuchsfilmemacher gegen die Übermacht des Film-Szene-Groupthink, also quasi gegen eine Fachwelt, die Katzen mit Mopsnasen entstehen läßt, und ihr als Protagonisten der Berliner Schule wurdet ja tatsächlich auch genug angefeindet, also stehen wir hier beide in der Defensive und fühlen uns ungerecht attackiert. Laß uns das doch mal auflösen.

An die nun folgende Antwort kann ich mich gut erinnern, denn sie ergab keinerlei Sinn:
– Ach, ich glaube dir kein Wort.
Und das ist dann auch der Moment, in dem mir klar wird, daß ein Gespräch, wenn man es als soziale Prozedur des Austauschs von Gedanken und Eingehen auf die Argumente des Gesprächspartners definiert, hier nicht mehr stattfindet. Also gehen wir nach draußen und klären die Sache handgreiflich. Er hat das höhere Kampfgewicht, aber ich kann schneller wegrennen. Nein, so war es natürlich nicht, ich wandte mich einem neuen Gespräch zu, und zwar mit der Filmemacherin Sonja Heiss, die von manchen Leuten der Berliner Schule zugerechnet wird und deren wunderschöner Film „Hedi Schneider steckt fest“ natürlich in den Berlinale-Wettbewerb gehört hätte, das sagt nicht sie, das sage ich, aber dafür war er halt zu lustig. Sonja würde niemals wütende Blogtexte gegen irgendwas schreiben, dafür ist sie viel zu freundlich und zurückhaltend und im allerbesten Sinne vornehm, ich habe es halt getan und muß jetzt damit leben, daß ich Menschen vor den Kopf gestoßen habe, die ich eigentlich schätze, und wenn mir etwas leid tut, dann ist es natürlich das. Trotzdem sollten Katzen mit Mopsnasen und gehbehinderte Schäferhunde als solche benannt werden, und ich würde es wieder tun, wenn es wieder so wäre. Daß ich danach selber einen extrem entsättigten, ernsten und entschleunigten Film gemacht habe, der dann natürlich im Wettbewerb lief, ist Teil derselben Argumentation, denn gut und schlecht hat mit solchen formalen Eigenschaften natürlich nichts zu tun, und da endet auch die ganze Mopsmetaphorik oder hinkt zumindest wie ein überzüchteter Schäferhund.

Die ganzen Berliner-Schule-Filmemacher sind ja außerdem durchweg kluge und integre Leute mit enormem Wissen und klarer Haltung. Ich mag sie alle sehr, und zum Glück mögen die meisten mich (inzwischen) (hoffentlich) auch. Da steht zum Beispiel Ulrich Köhler, dessen Endzeit-Extravaganz „In My Room“ ich toll fand, und das sage ich ihm auch in aller Ausführlichkeit, denn wenn ich etwas wirklich gut finde, dann muß ich auch zu den Leuten hinrennen und sie loben und preisen. Den Produzenten, der mich da beschimpft, den mag ich übrigens auch gern, obwohl er keinen Schnaps mit mir trinken will.

Nun denn! Genug names gedroppt und auf Empfängen herumgestanden! Bei der Berlinale geht es doch um Filme, nicht um Gespräche auf Empfängen! Erstere können bei letztere tatsächlich sehr stören. Es ist immer wahnsinnig irritierend, wenn hinter dem Gesprächspartner auf einem Monitor in Dauerschleife eine Serie von Filmtrailern läuft. Da muß man dann unwillkürlich immer hinschielen, weil das menschliche Gehirn halt so gebaut ist, daß bunte Bewegung die Aufmerksamkeit anzieht. Die ARD bewirbt auf ihrem Empfang einen Film namens „Die Kinder des Kalauers“. Den würde ich mir sofort anschauen, aber als ich genauer hingucke, heißt er „Die Kinder des Kalifats“. Na gut, das ist natürlich relevanter, das muß sein, denn wir sind ja nicht zu Spaß hier. Morgen gehe ich dann endlich mal ins Kino und gucke mir irgendwas an.

Berlinale, Tag 2: Landesvertretungslichthofgeschrei

Die Berlinale beginnt für mich in der Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund. Alle Bundesländer betreiben in der Hauptstadt prächtige Repräsentationsbauten, die genausogut die Botschaft eines mittelgroßen Staates sein könnten. Da findet man schwindelerregende Lichthöfe, majestätische Freitreppen und urige Kellergewölbe, in denen zu später Stunde der jeweils regional bedeutsame Alkohol ausgeschenkt wird. Hier lädt der Drehbuchautorenverband zur Drehbuchpreisverleihung, da spielen wir ein paar Lieder und treiben Schabernack mit der Papp-Lola, die dekorativ auf der Bühne steht. Danach ist das, was danach immer ist, nämlich Geschrei. Der mittlere Lärmpegel eines beliebigen Berlinale-Empfangs ist ungefähr so wie auf einem Rockkonzert, das permanent von startenden Düsenjägern gestört wird. Perfiderweise ist ein Jahr genau genug Zeit, um das zu vergessen, weil das Gehirn sich ja in der Erinnerung eine rosa Brille aufsetzt, weil ja sonst das Leben zu traurig wäre, also denkt man sich nur: Och ja, zwei bis drei nette Leute, ein bis zwei anregende Gespräch, also geht man hin, rennt in eine Wand aus Radau und denkt: Scheiße, stimmt, das hatte ich vergessen, war letztes Jahr genauso.

Das liegt aber auch daran, daß den Architekten, Bauherren und Wirten seit einiger Zeit die Akustik egal ist, weil sie lieber visuelle Beeindruckungsräume mit langen Sichtachsen wollen, und wenn man sich dann da anschreien muß, steigert das im Zweifelsfall den Getränkeumsatz. Ich glaube, so funktioniert das „Grill Royal“ und das „Borchardt“, deswegen gehe ich da auch nur hin, wenn ich mich anschreien lassen will. Ganz schlimm ist es, wenn Amerikaner im Raum sind, denn die sind schon in leisen Räumen oft sehr laut, das ist jetzt kein dummes Vorurteil, sondern vielfach erlebte Erfahrung, aber zum Glück sind auf Berlinale-Empfängen die Deutschen meist unter sich, sonst wäre es unerträglich. Andererseits wäre es mit Amerikanern lustiger, denn die Deutschen sind im Schnitt nicht besonders lustig, auch das ist ein bewährtes Klischee, das leider stets aufs neue durch Fakten untermauert wird. Das heißt natürlich nicht, daß es überhaupt keine lustigen Deutschen gäbe, aber das passiert einem ja sowieso ständig, daß man eine statistische Wahrscheinlichkeit feststellt und dann empörten Protest erntet, weil die Leute denken, man hätte die Existenz von irgendetwas rundheraus bestritten. Da ergibt sich dann immer ungefähr folgender Dialog:
– Tomaten sind meistens rot.
– Das stimmt doch gar nicht! Was redest du denn da! Es gibt auch grüne Tomaten!
– Völlig richtig, genau wie leise Amerikaner und lustige Deutsche. Das sind sogar jeweils die interessantesten. Ein lustiger Deutscher, eine leise Amerikanerin und eine grüne Tomate könnten zusammen eine wirklich tolle Zeit haben.

Ich schweife ab. Wir spielen drei Songs auf der Drehbuchpreisverleihung, einer davon heißt „Mama, schick mir die Platten von Reinhard Mey“ und handelt von einem untergegangenen Land, das nur noch in der Erinnerungen lebt (sowie seltsamerweise in der Tapeten-Ästhetik vieler deutscher Filme), nämlich der guten alten Tante BRD mit ihrer Hauptstadt Bonn und ihren Kanzlern, die immer Helmut hießen. Ich fände es schön, wenn dieses Land auch eine Vertretung beim Bund hätte. Das wäre dann so ein sachlicher 70er-Jahre-Waschbetonklotz, direkt am Tiergarten, innen drin grün gekachelte Badezimmer und hinten ein Freibad mit Dreimeterbrett und Rutsche, am Empfang sitzen Rita Süßmuth und Klaus Kinkel, und wenn man reingeht und sich als Besucher anmelden will, dann blättern sie umständlich in der Liste und schütteln dann bedauernd den Kopf, denn hier war schon seit 30 Jahren niemand mehr.

Ich schweife schon wieder ab, ich wollte ja eigentlich von der Berlinale erzählen und nicht mit nostalgischem Hundeblick in die eigene Kindheit gucken, das macht meine Generation sowieso schon genug. Da blicke ich lieber hoffnungsvoll in die Zukunft und wünsche mir, daß Julian Radlmaier sein heute hier prämiertes Drehbuch bald verfilmt kriegt, denn sein erster Film war wirklich lustig, und das fiel mir auf, denn siehe oben.

Was mir währenddessen entgeht, ist der Empfang der Deutschen Filmakademie, die mich netterweise immer einlädt, obwohl ich ihr so ablehnend gegenüberstehe wie sie meinen Filmen. Später wird mir berichtet, dort habe es Brötchen gegeben, auf denen enorme Mengen an Zwiebeln lagen, so daß jedes Gespräch in einer ungeheuren Zwiebelfahne stattfand. Das war vemutlich die verzweifelte Notwehraktion eines Caterers, der sein gesamtes Berufsleben auf dröhnend lauten Empfängen in halligen Hallen mit nackten Wänden verbringen mußte, jetzt von Tinnitus und Hörsturz geplagt ist und in seinem Gehirn nur noch einen Gedanken hat: Haltet doch bitte alle mal die Fresse, ich tue euch jetzt solche Massen an Zwiebeln aufs Brot, daß ihr den ganzen Abend den Mund nicht mehr aufmachen könnt, ohne euch in Grund und Boden zu schämen. Die Idee, daß die gesamte Deutsche Filmakademie schweigend auf ihrem eigenen Empfang herumsteht und niemand den Mund aufmacht, weil alle eine enorme Zwiebelfahne haben, finde ich wahnsinnig lustig, aber so wird es vermutlich nicht gewesen sein, denn diese verzweifelten Notwehraktion hauen ja nie hin, sondern immer nur daneben.

Später am Abend gehe ich zur „Blue Hour“, dem Empfang der ARD, da steht eine riesengroße Wand aus Herden des Herstellers Miele. Die Mehrzahl von „Herd“ sieht irgendwie merkwürdig aus, denn Herde treten kaum je im Plural auf, allenfalls vielleicht in den Küchen von schwerreichen Tatort-Ermittler-Schauspielern, die nebenher ihr vertrauenerweckendes Ermittler-Image in Werbungen für Banken kapitalisieren, die haben vielleicht herdenweise Herde in ihren Küchen, sonst niemand, aber hier steht eine ganze Wand von Herden über- und nebeneinander, so wie Gitarrenverstärker bei einer 70er-Jahre-Rockband. Der Herd heißt hier auch nicht mehr „Herd“, nein, es ist der „Miele Dialoggarer“. Wollte ich einen platten Scherz machen, dann würde ich da mal ein Drehbuch mit halbgaren Dialogen in den Ofen schieben und nach einer Stunde gucken, was herauskommt. Bei dieser zwölffachen Herd-Batterie könnte man fast die gesamte Jahresdrehbuchproduktion an ARD-Dialogen hier ordentlich durchgaren. Das ist andererseits aber doch ein Witz wie aus einem ARD-Drehbuch, da reite ich jetzt nicht weiter darauf herum.

Dazwischen, also nach dem Drehbuchpreis, aber vor dem Dialoggarer, war ich noch woanders, da gab es auch extrem krasse Knoblauchbomben und direkt danach ein knallhartes Streitgespräch. Wie das verlief und worum es da ging, das werde ich morgen verkünden oder auch heute abend, denn ich hänge schon wieder etwas hinterher

Berlinale, Tag 1

Soeben habe ich beschlossen, dieses Jahr wieder die innere Klatschkolumnistin rauszulassen und mein Berlinale-Blog zu reaktivieren. Hier also meine Eindrücke vom ersten Berlinale-Tag. Ich war allerdings leider nicht da, denn ich habe den Filmbetrieb geschwänzt, weil ich mit meiner Bandkollegin einen Auftritt im Literaturbetrieb hatte, und zwar in Hamburg, also müssen jetzt meine Erinnerungen aus den letzten fünfzehn Eröffnungsabenden herhalten. Letztes Jahr hat meine Schwester Anna ein sogenanntes Faß aufgemacht, indem sie öffentlich die Idee verkündet hat, es sei keineswegs ein Naturgesetz, daß Frauen sich bei öffentlichen Repräsentationsveranstaltungen so kleiden müssen, als seien sie ein Bonbon, das ausgepackt werden will oder größtenteils schon ausgepackt worden ist. Das behaupte ich ja sowieso seit Urzeiten, und mittlerweile habe ich da eine Verschwörungstheorie entwickelt: Es gibt da irgendwo einen kleinen, mächtigen Geheimbund von Männern, die einen merkwürdigen High-Heels-Dekolleté-Glitzerkleid-Fetisch pflegen und es in den letzten 200 Jahren irgendwie geschafft haben, der ganzen restlichen Menschheit diesen Fetisch aufzuzwingen. Deswegen glaubt jetzt die ganze Welt, nur das sei attraktiv und begehrenswert. Was habe ich mir schon bei befreundeten Schauspielerinnen den Kopf eingerannt: Zieh doch einfach die Sneaker an, die du da anhast! Du sitzt da in Jogginghosen und irgendeinem T-Shirt auf diesem Küchenstuhl vor mir und weißt gar nicht, wie unfaßbar toll du aussiehst! Dein Körper ist ein Musikstück, dein Gesicht ist ein Kunstwerk! Fühl dich wohl, laß es strahlen! Aber nee, geht nicht, sie zwängen sie sich doch wieder in diese Fetischklamotten, fühlen sich unwohl und lassen sich von alten Säcken begaffen. Oder gehen halt lieber gar nicht hin und überlassen das Feld den Poser=innen (das Gender-Gleichheitszeichen habe ich gerade erfunden, das bedeutet, daß der Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht so wichtig ist). Es ging jedenfalls darum, diesen Zwang aufzubrechen, neue Räume aufzumachen, die Spielräume zu erweitern, mehr Spaß zu haben, aber dann schreiben wieder irgendwelche Vollidioten, die zu lange keinen Sex mehr hatten: Jetzt wollen sie auch noch Schauspielerinnen auf dem roten Teppich zu Sack und Asche verdonnern.

Zur Berlinale-Eröffnung muß man ja überhaupt erstmal eingeladen sein. Wie bei jeder Veranstaltung ist das entweder eine Ehre für den Gast oder für den Gastgeber, je nach Status. Wenn ich zur Nobelpreisverleihung geladen werde, ist das eine große Ehre für mich. Wenn hingegen Ryan Gosling zur Eröffnung der Köpenicker Kiezkurzfilmwoche  erscheint, dann eher umgekehrt. Unter höflichen Menschen thematisiert man das natürlich nicht, sondern tut stets so, als wäre man selber der Geehrte. Ich war also ehrenvoll eingeladen, aber leider literaturbetriebsmäßig verhindert, meine Schwester und Co-Preisträgerin von 2014 hingegen war weder verhindert noch eingeladen. Das fanden wir ziemlich lustig. Vielleicht die Strafe für mangelndes Bravsein auf dem Roten Teppich? Oder hatte man einfach den Einladungsverteiler etwas entrümpelt, ups, sorry, wir brauchen jetzt mal mehr Youtuber, Influencer und Instagrammer? War uns auch irgendwie egal, ich war ja eh verhindert, dann war Anna auf einmal doch eingeladen, und alles löste sich in Wohlgefallen auf.

Wie wohlgefällig der gestrige Eröffnungsfilm nun war, das kann ich nicht sagen, denn ich war ja nicht da, ich kann nur die Quersumme der vergangenen Jahre verkünden, und die lautet: Es gibt gute und schlechte. In unguter Erinnerung habe ich beispielsweise den Eröffnungsfilm von 2015 namens „Nobody Wants the Night“. Ganz fürchterlich war auch einer namens „Snow Cake“, da spielt Sigourney Weaver eine Autistin, die einen Kuchen aus Schnee bäckt. Ersterer war von einer Frau, letzterer von einem Mann inszeniert, die Genderquote beim Thema „Miserable Berlinale-Eröffnugsfilme, die mir spontan einfallen“ beträgt also ideale 50 Prozent. Ein guter Eröffnungsfilm muß Stars auf den roten Teppich holen, so sagt es die konventionelle Weisheit, ich aber sage: Stars sind piepegal, ein guter Eröffnungsfilm muß vor allem selber eine große Party sein. „Hail, Caesar!“ von den Coen-Brüdern (Regie zu 200% männlich, miserable Quote) fand ich total toll, schnell, intelligent, überraschend, elegant, mußte dann aber zu meiner nicht geringen Verwunderung anhören, wie alle möglichen Leute alles mögliche daran auszusetzen hatten. Den letztjährigen, „Isle of Dogs“ von Wes Anderson, empfand ich dagegen als genau so quälend wie fast alles von Wes Anderson, denn ich sehe da immer nur ein riesengroßes Puppenhaus, das eigentlich ein Gefängnis ist. Ich glaube übrigens, es ist ein reines Männergefängnis. Vielleicht auch ein Männerpuppenhaus.

Heute sind dann gleichzeitig zwei kollidierende Filmpremieren von zwei sehr guten Freund=innen, nämlich Erik Schmitt und Nora Fingscheidt, und mir bleibt die knallharte Entscheidung erspart, zu welcher ich hingehen soll, da ich gezwungenermaßen beide verpassen werde, weil wir nämlich schon wieder was mit der Band haben. Wie es da nicht war, schreibe ich dann morgen.

Niemand weiß, was man vermißt / wenn man jemand anders ist.

Mir wurde die Ehre zuteil, den Fragebogen im „Freitag“ zu beantworten. Ich beschloß, dies in Reimen zu tun, woraufhin der Text so ausuferte, daß man beim Abdruck ein Drittel weglassen mußte. Hier daher nochmal alles in aller Ausführlichkeit.

Was mögen Sie an Angela Merkel?
Ich mag an ihr die ruhige Hand
ansonsten ist mir nichts bekannt.

Welches Buch haben Sie zuletzt nicht zuende gelesen?
Ronja von Rönne: Wir kommen!
Ich hab’s in die Hände genommen
bin fast bis zum Ende gekrochen
doch ich les es noch fertig! Versprochen!

Welchen linken Politiker, welche linke Politikerin bewundern Sie?
Ich nenne Sahra Wagenknecht
und alle werden sagen: Echt?

Würden Sie gerne öfter Fahrrad fahren?
Ich fahr schon jeden Tag sehr weit.
Öfter geht nicht, tut mir leid.

Welches Auto gefällt Ihnen am besten?
Mein Hausfrauenporsche ist schon 30 Jahre alt
seit ich ihn habe, denk ich: Er verläßt mich bald.
Doch alles wird geflickt, was auseinanderbricht
Nachhaltiger Autofahren kann man nicht.

Kommt es vor, dass Sie „p.c.“ oder „nicht p.c.“ sagen?
Das sag ich nicht, das bin ich längst
ich bin korrekter, als du denkst.

Welche Drogen sollten Ihrer Meinung nach legalisiert werden?
LSD und DMT
MDMA, GHB
Hanf und Pilze, Meskalin
Crystal Meth und Kokain
Ayahuasca, Elfenbein
alles soll erhältlich sei
Elfenbein gehört nicht rein?
Ach, die Wirkung setzt schon ein.

Ist Alkohol eine Droge?
Auf keinen Fall! Natürlich nicht!
Suff ist erste Bürgerpflicht.

Darf man in Ihrem Schlafzimmer rauchen?
Keine hat mich je gefragt
womöglich hätt‘ ich ja gesagt.

Wer oder was hätten Sie gerne sein mögen?
David Bowie, Steve McQueen
William Shakespeare, Jimmy Dean
niemand weiß, was man vermißt
wenn man jemand anders ist.

Wie viele Apps sind auf Ihrem Smartphone?
Bumble, Tinder, match.com
drei Stück sind’s inzwischen schon.

Und welche benutzen Sie am meisten?
Ich hab die Facebook-App entfernt
und habe daraus nichts gelernt.
Ich lese weiter jeden Mist
weil Facebook auch im Browser ist.

Töten Sie Insekten?
Ich habe schon zahlreiche Mücken erschlagen.
Das schlechte Gewissen liegt mir im Magen.

Ihr Lieblingsvogel?

Ich könnte jetzt einfach „der Spaßvogel“ schreiben.
Das wär billig und platt und ich lasse es bleiben.

Haben Sie einen Lieblingsfisch?
Der Silberfisch, der wohnt in meinem Bad.
Der Mondfisch, denn der sieht aus wie ein Rad.
Der Haifisch trägt die Zähne im Gesicht
Die drei mag ich, alle anderen nicht.

Ist die Lüge ein legitimes Mittel in der Politik?
Als Freund der Moral sag ich nein.
Als Machiavellist: Kann schon sein.

Sollte man Gehälter öffentlich machen?
Natürlich! Dreißigtausend bringt ein Drehbuch fürs TV
und wenn man es zu zweit schreibt, dann teilt man das genau
in zwei gleiche Hälften, und dann schlägt die Steuer zu
und jeder setzt sich mit neuntausend Euro zur Ruh.

Der Kommunismus ist…

…vorbei.
Was ihr auch sagt, ist einerlei.
Er ist den Bach hinabgeschwommen
und wird niemals wiederkommen.

Welchen Song würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen?
Er sollte lang und krachig sein.
Ich zieh mir „Lights“ von Archive rein.

Toscana oder Krim?
Beides ist vermutlich schlimm
doch die Neugier führt zur Krim.

Haben Sie manchmal Angst, etwas Falsches zu sagen?
Obergrenze, Leitkultur
sagt man nicht, das denkt man nur.
Oder nein! Ich denk das nie
denn es wäre nicht p.c.

Welche Verschwörungstheorie halten Sie für wahr?
Da müßt ich schon bescheuert sein.
Auf Chemtrails fall ich nicht herein.
Und auch die Nine-Eleven-Mär –
– ist interessant! Erzählt mir mehr!

Gehen Sie zu sorglos mit Ihren Daten im Netz um?
Das weiß man ja erst hinterher
und plötzlich ist das Konto leer.

Kaufen Sie bei Amazon?
Amazon zahlt Hungerlohn
und zerstört die ganze Welt
mein Buch wird hier im Kiez bestellt.

Ihre Lieblingsgewerkschaft?
Die IG Vers und Reim
da fühl ich mich daheim.

Sollte der Kapitalismus überwunden werden?
Menschsein heißt Raffgier plus Fortpflanzungsdrang
Beides begleitet uns schon ziemlich lang.
Kapitalismus ist beides auf Speed.
Macht ihn kaputt und dann schaut, was geschieht.

Haben Sie Aktien?
Aktien, Gold und Edelstein
Bitcoin und Beton
mag für reiche Leute sein
ich hab nichts davon.

Welchen Rat würden Sie dem SPD Parteivorsitzenden geben?
Gib die ganzen Drogen frei
werd dann erstmal breit und high
Fahrt mit Freunden auf die Krim
ist doch alles nicht so schlimm.

Haben Sie schon einmal einen Abend mit einem Flüchtling verbracht?
Schon 2013, vor vier bis fünf Jahren
hab ich Winterklamotten zu Flüchtlingen gefahren
und doch keinen Abend und auch keine Nacht
mit Flüchtlingen oder -innen verbracht.
Moment mal, mein Schwager stammt aus Dakar
zählt das als Flüchtling? Okay, alles klar.

Sind einige Ihrer besten Freunde Muslime?
Unter den Freunden kein gläubiger Christ
und kein gläubiger Muslim, ich glaube, da ist
überhaupt niemand, der irgendwas glaubt.
Wir halten das alle für etwas verstaubt.

Ihr Lieblingsfilm?
Bei Terry Gilliams „Brazil“
werd ich ehrfürchtig und still.

Ihr Lieblingsmaler?
Botticelli ist nicht dumm
und Beksinski haut mich um.

Welche Ausstellung haben Sie zuletzt besucht?
„Diorama“ im Städel in Frankfurt am Main.
War ziemlich gut, gehen Sie auch mal da rein.

Wald oder See?
Idealerweise liegt der See im Wald.
Umgekehrt passiert wohl nicht so bald.

Kurt Tucholsky oder Sybille Berg?
Tucholsky in den Bergen
Sybille Berg am Meer.
Das wird ein schöner Urlaub
wir fahren hin und her.

Ihr Lieblingsjournalist?
Den haben sie endlich freigelassen.
Sonst weiß ich keinen. Ich muß passen.

Wie möchten Sie sterben?
Bei bester Gesundheit mit zweihundert Jahren
und mich zuvor noch oft genug paaren.

Nespresso oder Filterkaffee?
Letzteres ist nichts für mich,
ersteres ist widerlich.

Cinemascopeverbot und fast keine Experimente

Als ich am vergangenen Freitag in Wiesbaden war, weil „Stau“ den deutschen Fernsehkrimipreis gewann, hatte ich keine Dankesrede vorbereitet, denn irgendwas fällt einem ja immer spontan ein. Während nun die Preisverleihung so vor sich hinlief, kam mir aber ein Gedanke, und der verwandelte sich im Lauf der folgenden 20 Minuten in eine flammende Rede, die ich dann aus dem Stegreif hielt. Was hier folgt, ist die stark erweiterte und ausformulierte Version. Es hat ja seine Gründe, daß man Reden schreibt, bevor man sie hält, aber in Ausnahmefällen kann man es auch hinterher tun. Los ging es natürlich mit einem ausführlichen Dankeschön in alle Himmelsrichtungen, denn Filme macht man bekanntlich nicht allein, au contraire, und nun zur Sache, sehr geehrte Damen und Herren.

Wenn Sie nach der Preisverleihung in diesem Saal sitzenbleiben und unseren Film nochmal anschauen, werden Sie feststellen, daß er im Breitwandformat 1:2,35 gedreht ist (umgangssprachlich „Cinemascope“ oder kurz „Scope“). Wenn das Bild also auf dieser Leinwand gleich breiter wird, dann ist das Absicht. Wenn es stattdessen oben und unten schwarze Balken bekäme, wäre das auch Absicht, in diesem Kinosaal aber trotzdem verkehrt, denn der Platz links und rechts wäre ja vorhanden.

Mir fiel vorhin beim Zusammenschnitt der nominierten Filme auf, daß da einige in Cinemascope waren. Und gerade in diesen Tagen lief im Ersten ein umwerfender Zweiteiler, der rein gar nichts von der Betulichkeit hatte, die im deutschen TV oft so nervt. „Gladbeck“ war ein rasantes Stück Kino im Fernsehen, und natürlich auch in Cinemascope, denn dieses Bildformat ist wundervoll – nicht nur für Western-Panoramen, sondern genausogut für intime Kammerspiele. In Cinemascope kriegt man nämlich viel eleganter zwei oder mehr Menschen gleichberechtigt in ein Bild. Meine Filme sind immer Ensemblefilme, und deswegen drehe ich immer in Cinemascope. Das fernsehübliche 16:9-Format mag ich eigentlich überhaupt nicht. Darin kann man meinetwegen Tagesschau drehen, aber keine Spielfilme.

Nun geht der deutsche Fernsehkrimipreis also an einen Cinemascope-Tatort, aber es wird leider der letzte gewesen sein, denn kurz nach unseren Dreharbeiten wurde das in der ARD verboten. Ab sofort darf es in der ARD keine Filme in Cinemascope mehr geben. Grund? Unklar. Vermutlich haben sich von den schätzungsweise dreißig Zuschauern, die noch auf 30cm-Röhrenfernsehern gucken, zwei oder drei über die Balken im Bild beschwert. Diese Neuregelung kam von ganz oben, von irgendwelchen Leuten auf der Programmdirektionsebene, mit denen ich als kleiner Filmemacher ohnehin nie zu tun habe, also kann ich sie auch ungeniert beleidigen, indem ich hier ungefiltert wiedergebe, was ich als erstes dachte, als mir das zu Ohren kam, nämlich: Was für Vollidioten.

Als dann unser „Tatort“ vor einem halben Jahr ausgestrahlt wurde, schrieb irgendjemand: Ein gelungenes Experiment.
Schön, dachte ich, aber andererseits: Experiment? Ich habe einfach versucht, das Genre ein wenig weiterzudenken, das Rad etwas weiterzudrehen, und allerhand Sachen weggelassen, die ich beim „Tatort“ schon immer doof fand. Ist das schon ein Experiment? Wenn ja, dann wäre das sehr traurig, denn Experimente wird es beim Tatort ab sofort nur noch zweimal im Jahr geben. Auch das ist nämlich eine neue Regelung, die die ARD-Programmdirektion sich in ihrer Weisheit ausgedacht hat: Ab sofort nur noch zwei experimentelle „Tatorte“ pro Jahr. Alle anderen haben bitteschön unexperimentell zu sein.

Das wirft natürlich Fragen auf, die kaum zu beantworten sind: Ab wann ist ein Film experimentell? Kriege ich dann beim nächsten Tatort bitte eine möglichst detaillierte Checkliste, was alles gewährleistet sein muß, damit er als unexperimenteller Tatort durchgeht?

Man kann aber noch weiter ausholen und den Begriff des Experiments hinterfragen. Der ist zwar seit Jahrzehnten modern, hat aber meiner Meinung nach in der Kunst nichts zu suchen. Wer Kunst macht, sollte nicht herumprobieren, sondern gefälligst wissen, was er will. Wer Kunst macht, hat aber umgekehrt auch die verdammte Pflicht, das Rad jeweils neu zu erfinden. Also irgendetwas zu machen, das vorher noch niemand so gemacht hat. Und wenn das schon experimentell ist, dann interessiert mich überhaupt nur das Experimentelle, und dann hätte ich von der ARD gern nicht zwei, sondern vierzig experimentelle Tatorte pro Jahr. Stattdessen bekomme ich Durchschnittsware, bei der ich nach fünf Minuten abschalte, wenn ich überhaupt mal einschalte. Diejenigen Tatorte, die unter „experimentell“ laufen, finde ich beileibe nicht immer so toll, aber immer noch deutlich erfrischender als das, was man sonst so sieht.

Also, zusammengefasst: Wir stehen in der Blüte eines goldenen TV-Zeitalters, überall auf der Welt entstehen aufsehenerregende Seriengesamtkunstwerke, und der Boom ist endlich auch in Deutschland angekommen, nach Jahrzehnten der öffentlich-rechtlichen Monokultur kommt endlich Leben in die Bude, auf einmal entstehen hier wirklich tolle Sachen, alle freuen sich, nur die ARD-Programmdirektion hält es für eine gute Idee, den experimentellen Tatort, was immer das sein soll, auf zwei Stück pro Jahr zu beschränken und Cinemascope zu verbieten.

Haben die eigentlich den Schuß nicht gehört?
Haben die aus dem Untergang der DDR nichts gelernt?

Es geht hier nicht darum, mal wieder die alte Front zwischen den Kreativen und den doofen Sendern aufzumachen. Die ist falsch. Die gibt es so nicht. Die Front verläuft vielmehr zwischen den guten Leuten, die gute Sachen machen wollen, und den Apparatschiks, die alles verhindern wollen, was auch nur irgendwen irgendwo stören könnte. Und die guten Leute, die sitzen natürlich auch in großer Zahl in den Sendern. Das sind diejenigen Redakteure und Fernsehspielchefs, denen noch nicht alles egal ist, die vom eigenen sicheren Job noch nicht korrumpiert wurden oder sich in selbstgefällige Bonzen verwandelt haben. Die gute Filme machen wollen und die ich stets als äußerst faire und engagierte Partner erlebt habe. Gerade diese guten Leute haben im eigenen Haus ständig zu kämpfen mit Sparzwängen und der Konkurrenz von Nachrichten und Unterhaltung und Sport. Diese Leute brauchen wir, und diese Leute brauchen jede erdenkliche Unterstützung von uns. Die sind nämlich ständig unter Beschuß und führen einen zermürbenden Dauerkampf in alle Richtungen gleichzeitig. Aber ohne die könnten wir alle einpacken und nach Amerika auswandern.

All denen sei dieser Preis gewidmet. Wenn ich jemals wieder einen Tatort machen sollte, dann in Cinemascope. Und experimentell wird er vermutlich am Ende auch.

Ihre Majestät, die Liebe

Meine Lieblingssektion auf der Berlinale ist eigentlich jedes Jahr die Retrospektive. Früher war ja sowieso alles besser, ich kann mich außerdem des Eindrucks manchmal nicht erwehren, daß die Filme früher tatsächlich besser waren (zumindest erzählen sie nicht so oft wie das heutige Arthousekino von Protagonisten, die vorrangig um sich selber kreisen), und selbst wenn die Filme schlecht sind, sind sie historisch immer noch interessant, das ist ein unfairer Vorteil gegenüber neuen Filmen. Aus all diesen Gründen findet man mich sehr oft  in der Retrospektive.

Dieses Jahr stand sie unter dem Titel „Weimarer Kino – neu gesehen“, begleitenderweise erschien wie immer eine Publikation, und ich wurde gefragt, ob ich einen Text über Joe Mays Film „Ihre Majestät, die Liebe“ von 1931 dazu beitragen wollte. Für diese Ehre bedanke ich mich sehr herzlich bei Rainer Rother, und außerdem danke ich ihm und der Deutschen Kinemathek sehr herzlich für die Genehmigung, den Text zusätzlich hier ins Netz zu stellen. Wer ihn auf Papier lesen will (und dazu zahlreiche andere von Leuten, die als Filmhistoriker etwas satisfaktionsfähiger sind als ich): Das Buch ist im Bertz+Fischer Verlag erschienen, kostet nicht die Welt und ist eine Zierde jeder Bibliothek.

Und nun der Text.

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Wenn man „20er Jahre“ und „Berlin“ denkt, dann denkt man: Tanzlokal. In unserer Erinnerung (oder Imagination, denn wir waren ja nicht dabei) ist die ganze Stadt ein einziger Amüsiertempel. In Ruttmanns „Sinfonie der Großstadt“ kann man sich davon überzeugen, daß die Discokugel keine Erfindung unserer Tage ist. Filme aus den 20ern, hat man so den Eindruck, kennen überhaupt nur zwei Themen: Einerseits Asphalt, andererseits Amüsement. Das ist natürlich grob verkürzt und historisch nicht haltbar, aber ganz falsch ist es auch nicht: Die Arbeiterklasse haust unter haarsträubenden Bedingungen, zehnköpfige Familien sitzen in feuchten Kellerwohnungen, während die gehobene Gesellschaft es im Metropol-Theater krachen läßt. Und dazwischen die Schicht, die uns bis heute am meisten fasziniert: Die Künstler, die Schauspieler, die mittellosen Mädchen aus der Provinz, die in der Großstadt stranden und sich als „Flapper“ neu erfinden.

In dem heute komplett vergessenen Roman „Der Weg aus der Nacht“ des ebenso vergessenen Schriftstellers Edmund Kiss (der später dann durch Nähe zu den Nazis und fragwürdige germanische Geschichts- und Welttheorien von sich reden machte) wird beschrieben, wie der Ich-Erzähler die Witwe eines gefallen Kriegskameraden ehelichen will und ihm letzterer andauernd als Geist erscheint. Er verkehrt auf rauschenden Bällen, wo die bessere Gesellschaft sich die Klinke in die Hand gibt, er langweilt sich mit den Honoratioren und lauert auf den nächsten Tanz mit der Angebeteten, und währenddessen steht immer wieder ein schweigsamer toter Soldat im Raum, schaut ihn an und führt nachdenkliche Gespräche mit ihm. Und ungefähr so wird es wohl tatsächlich gewesen sein: Man feierte rauschende Bälle, auf denen die Toten unsichtbar und schweigend herumstanden. Denn der Weltkrieg, der damals noch nicht der „erste“ hieß, weil der zweite noch bevorstand, war erst ein paar Jahre her. Das industrialisierte Massaker hatte nicht nur Millionen Tote hinterlassen, sondern ebensoviele Verletzte, Traumatisierte, Versehrte, die überall zum Straßenbild gehörten. In den Bildern von Otto Dix und George Grosz springen sie uns in aller Wucht ins Gesicht, also legen wir sie im Geiste in ihre eigene Schublade, in eine Otto-Dix- und George-Grosz-Welt, irgendwie in ein separates Universum. Doch damals waren sie allgegenwärtig. Wer männlich und älter als 25 oder 30 oder 35 war (je nachdem, in welches Jahr wir uns versetzen), der hatte seine Jugend im Schützengraben verbracht und den Tod gesehen – und auch wenn er selber mit allen Gliedmaßen und Sinnesorganen heil nach Hause gekommen war, dann muß man davon ausgehen, daß eigentlich in allen das wütete, was man damals noch nicht als „posttraumatische Belastungsstörung“ bezeichnete. Die 20er Jahre waren ein Tanz auf dem Vulkan, und in diesem Vulkan brodelte eben nicht nur der bevorstehende Horror, sondern auch der vergangene.

Der Schauspieler Kurt Gerron beispielsweise wurde mit 17 an die Front geschickt, dort schwer verletzt, war danach dienstuntauglich und konnte das tun, was er eigentlich wollte, nämlich Medizin studieren. Schon im zweiten Studienjahr aber mußte er wieder an die Front, diesmal als Arzt. Drei Semester Medizin waren offenbar ausreichend. Mit 21 kam er zurück, hatte vermutliche mehr Schreckliches gesehen als der Schreiber (und sämtliche Leser) dieser Zeilen im gesamten Leben, kehrte der Medizin den Rücken und wurde Schauspieler. Weil die Kriegsverletzung aber irgendein stoffwechselrelevantes Organ zerfetzt hatte, nahm er stark zu, bekam ein unvorteilhaftes Mondgesicht und war dann halt Charakterdarsteller. Der Regisseur Joe May hatte seine ganz eigene Tragödie, die gleichwohl wenig mit dem Krieg zu tun hatte: Er hatte mit seiner Frau, der Schauspielerin Mia May, eine einzige Tochter, die dann auch Schauspielerin wurde. Im zarten Alter von 22 hatte sie schon drei gescheiterte Ehen und einen Selbstmordversuch hinter sich. Der zweite war dann vom Erfolg gekrönt. Ihre Mutter drehte danach keinen Film mehr. Welche Tragödien sich jeweils hinter diesen lapidaren Wikipedia-Fakten verbergen, kann man sich mit wenig Phantasie ausmalen.

Für einen Text, der ein federleichtes Lustspiel behandeln soll, ist das alles ziemlich weit ausgeholt – aber genau das ist der Hintergrund, vor dem dieser Film entstand und vor dem man ihn vermutlich sehen sollte. Der eben erwähnte Kurt Gerron sitzt in der ersten Szene in einem Tanzlokal (wo sonst) am Tresen als einer von drei Herren, die der hübschen Bardame spaßhafte Komplimente zuwerfen und über die Unterteilung zwischen Frauen, Damen und Weibern schwadronieren. Joe May ist der Regisseur, und von all diesen Schrecklichkeiten ist im Film einfach keine Spur zu sehen. Es geht um die Wellingen-Motorenfabrik, beziehungsweise deren Besitzer, die Familie von Wellingen, deren Personal aus lauter Klassikern der Theaterklamotte besteht: Der geschäftstüchtige Patriarch, dessen lebensfrohe Tochter, die mit ihrem Gymnastiklehrer durchbrennen will, die komische Oma, der hoffnungslos vertrottelte Onkel und der jugendfrische Held, der die familiären Bande abstreift und für den es nur eine Majestät gibt, nämlich die Liebe.

Und der ist natürlich unser Mann. Fred von Wellingen heißt er, und eigentlich hat er gar nichts gegen seine Familie, so degeneriert sie auch ist. Die mit dem Reichtum einhergehenden Annehmlichkeiten nimmt er gern mit, Rebellion ist nicht sein Ding, und auch gegen Karriere hat er nichts einzuwenden, eine gutdotierte Stellung als Generaldirektor der Wellingen-Motorenfabrik wäre ihm schon recht, warum denn auch nicht. Aber dafür soll er irgendeine reiche Erbin heiraten, so will es die Familie, und darauf hat er keine Lust. Lieber macht er der schönen Bardame den Hof, und um die Verwandtschaft zu ärgern, macht er ihr sogar kurzerhand einen Heiratsantrag. Die Dame ist hinwiederum nicht nur love interest, sie hat ihr eigenes Leben sowie einen alten Ungarn als Vater, der in einem früheren Leben mal Zirkusartist war und deswegen mit einem großen Sprung ins bereitstehende Auto hineinhopsen und vor versammelter Mannschaft mit Tellern jonglieren kann, die dann aber doch alle zu Bruch gehen, was dann wieder den Graben zwischen ihm und der besseren Gesellschaft zementiert. Eine Verbindung mit einer solchen Person darf es nicht geben, also wird das geplante Verlobungsbankett kurzerhand zur Beförderungsfeier für unseren Helden umfunktioniert. All seine materiellen und Karrierewünsche sollen erfüllt werden, wenn er auf die Ehe verzichtet. Und erstaunlich bereitwillig, wenn auch traurigen Herzens, geht er darauf ein und läßt sich in den Dienst des zusammenzuhaltenden Familienvermögens spannen. Woraufhin der depperte Onkel, der bei aller Vertrottelheit scharf erkannt hat, daß das Mädchen mehr Substanz hat als der ganze verkommene Familienclan, seine Chance gekommen sieht und sie mit Heiratsanträgen und Blumensträußen überschüttet, was dann wiederum Anlaß für diverse Slapstickeinlagen bietet.

All das anzusehen ist eine helle Freude, wie man sie heute im deutschen Film kaum mehr hat (und im internationalen auch selten). Die Figuren sind präzise gezeichnete Witzfiguren – klingt einfach, muß man aber erstmal hinkriegen. Und wie jede wirklich gute Komödie gibt es hier kein größeres Thema, keine Erlösung für alle und kein Rezept zur Rettung der Welt. Die Tragödie will uns weismachen, es gäbe ein Jenseits, eine bessere Welt, in der man das erreichen kann, was einem hier verwehrt bleibt, da begegnet sie sich mit den Religionen und Ideologien, mit Sozialismus und Nationalsozialismus, die sich damals schon in den Straßen die Köpfe einschlugen und kurz darauf die Welt in Brand steckten – sie waren und sind unterschiedlich und auch unterschiedlich schlimm, aber alle wollen sie uns etwas von besseren Welten erzählen, für die man kämpfen und sich im Zweifelsfall opfern muß. Die Komödie weiß dagegen: Alles Quatsch. Sie macht sich keine Illusionen. Es gibt nur das Private, und das ist eben nicht politisch. Das Wahre, Gute und Großartige existiert nicht in irgendeiner besseren Welt, sondern hier vor unserer Nase, und man muß zugreifen, sonst ist es weg.

Man bezeichnet solche Filme gemeinhin als „leicht“. Sind sie ja auch. Aber es ist die Leichtigkeit, die in den Abgrund geschaut hat. Sie kommt von Leuten, die wirklich wußten, was schwer war, und die auch hinterher wieder bitter erfahren sollten, wie recht sie hatten mit ihrer Botschaft, das Glück im Moment zu suchen und festzuhalten. Joe May floh vor den Nazis nach London, dann weiter nach Hollywood, wo er jedoch nicht mehr richtig Fuß fassen konnte. Er war in seinen letzten Lebensjahren auf Almosen alter Freunde angewiesen und starb verarmt am 29. April 1954, zwei Monate bevor ein aus Ruinen auferstandenes Wirtschaftswunderland wieder Fußball-Weltmeister wurde. Kurt Gerron war Jude und wurde von den Nazis ins KZ gesteckt, wo sie ihn zwangen, einen Propagandafilm über Theresienstadt zu drehen, dann wurde er nach Auschwitz gebracht und noch am selben Tag vergast. Otto Wallburg, der den Familienpatriarchen spielt, emigrierte erst nach Österreich, dann in die Niederlande, wollte weiter in die USA, versteckte sich vor den Deutschen, wurde denunziert und verhaftet und deportiert und ebenfalls in Auschwitz ermordet. Otto Kanturek, der Kameramann, emigrierte nach England und starb 1941 bei den Flugaufnahmen für einen Fliegerfilm namens „A Yank in the R.A.F.“, als zwei Flugzeuge in der Luft kollidierten. Andere hatten mehr Glück: Franz Lederer, der den jungen Helden spielt, ging schon 1932 nach Amerika, machte dort keine spektakuläre, aber ordentliche Karriere und starb mit 100 Jahren in Palm Springs, Kalifornien, im Jahr 2000. Er war einer der letzten Überlebenden der Österreichisch-Ungarischen Armee des 1. Weltkriegs. Was er da so alles erlebt hat, weiß keiner und wird nie jemand wissen. Hoffen wir einfach, daß ihre Majestät, die Liebe, immer für ihn da war.

Schon wieder Berlinale

Vor einigen Monaten machte ein offener Brief die Runde, in dem 80 deutsche Filmemacher und Regisseurinnen einen Neuanfang sowie ein transparentes Verfahren bei der anstehenden Neubesetzung der Berlinale-Leitung forderten. Ich war einer davon. Danach entstand viel Wind, und auf einmal ging es nur noch um eine einzige Person.

Das ist schade, denn die ganze Sache drehte sich (genau wie die ganze Berlinale) gar nicht in erster Linie um Dieter Kosslick, sondern um die Frage, wie es nach ihm weitergeht, und die Frage, was der ganze Laden überhaupt ist oder sein könnte.

Ja, was ist die Berlinale? Und was ist eigentlich ein Filmfestival?
Machen wir es kurz: Filmfestivals sind religiöse Rituale, genau wie olympische Spiele, Rock am Ring oder die Donauschinger Musiktage. Es gibt jeweils ein abgegrenztes Tempelareal, es gibt eine Priesterkaste, die dem Volk sagt, was gut und schlecht ist, es gibt Heilige, die verehrt werden, es gibt einen Hohepriester, der über allem thront, und es gibt ein zentrales Ritual, das oft bleiern langweilig ist. Wer je ein katholisches Hochamt oder die Cannes-Premiere eines Films von Apichatpong Weerasethakul über sich ergehen ließ, der weiß, wovon ich rede. Aber genau das ist ja der Trick: Gerade das gemeinsame stundenlange Absitzen schweißt die Gläubigen zu einer verschworenen Gemeinde zusammen. Letzteres habe ich mir nicht ausgedacht, das haben Soziologen herausgefunden, und auch daß am Ursprung der Religion nicht der Glaube, sondern die Feier steht, haben klügere Leute als ich schon festgestellt. Wir glauben hier nicht an personifizierte Götter im Jenseits, aber wir feiern abstrakte Größen, die dem Leben zumindest eine Illusion von Sinn verleihen:
Der Sport. Die Musik. Das Kino.
Das sind die Götter, die hier jeweils verehrt werden.
Die Berlinale ist sehr vieles zugleich, aber das ist ihr Kern, behaupte ich. Und da liegt auch die Magie, die Kino haben kann, wenn es heutzutage überhaupt noch Magie hat: In der Feier und im kollektiven Erlebnis. Alles kommt an einem Ort zusammen. Der Rest ist nett, aber Netflix ist auch nett.

Wenn sich also 80 Filmemacher und -innen zusammentun und so einen Brief schreiben, dann aus dem gemeinsamen Gefühl heraus, daß da etwas nachgelassen hat.
Aber auch das hat noch nicht notwendigerweise etwas mit Dieter Kosslick zu tun. Sondern genausogut mit dem allgemeinen Lauf der Welt. Das 20. Jahrhundert hat drei große Mythen hervorgebracht: Kino, Automobil und Popmusik. Alle drei sind am Verblassen. Dafür haben wir jetzt Internet, Games und Serien. Auch sehr schön. Aber es gibt sie ja noch, die Filme, von denen die ganze Welt jeweils ein Jahr lang redet: Un Prophète, Das weiße Band, Toni Erdmann, The Square, Drive, Birdman. Filme, die den Spagat schaffen zwischen den immer weiter auseinanderklaffenden Kontinenten „Unterhaltung“ und „Kunst“. Die meisten davon laufen in Cannes. Einige in Venedig. Manchmal auch einer in Berlin. Aber der Abstand ist spürbar und meßbar.

Nun ist die Berlinale aber nicht nur eine Leistungsschau der Speerspitzen des Weltkinos, sondern zugleich ein riesengroßes Publikumsfestival. Die ganze Stadt ist auf den Beinen und rennt auch noch in die obskursten Filme. Das ist toll, das gibt es weder Venedig noch Cannes, und es ist auch dem Kino sehr gemäß, denn Kino ist ja nicht nur Kunst und Tempel, sondern auch Jahrmarkt und Budenzauber. Vielleicht ist die Berlinale mit dieser Doppelnatur sogar weltweit das Festival, das den Geist des Kinos am besten einfängt.

Der Festivalleiter muß aber auch mindestens eine Doppelnatur sein: Er oder sie sollte künstlerisch den klaren Zugriff haben, zugleich bestens vernetzt sein, ein Team führen können, den gutgelaunten Gastgeber spielen und so weiter – und außerdem muß er auch noch die Sponsoren klarmachen und bei Laune halten. Das vergißt man gern. Niemand schreit „Hurra, Audi“, aber ohne die Millionen von denen wäre das Festival in dieser Form nicht machbar.
Alles nicht so einfach.

Wenn es bei den 80 Unterzeichneten überhaupt einen gemeinsamen Nenner gab, dann vielleicht das Gefühl, daß die Idee vom Kino als Ort, der alle zusammenbringt und alle vereinigt, auf der Berlinale in den letzten Jahren ein wenig vernachlässigt wurde zugunsten der in alle Richtungen wuchernden Vielfalt. Es gibt Nebenreihen für alles mögliche. Das hat sicher seine Berechtigung und ist auch ein Zeitphänomen. Aber man könnte mit denselben Impulsen auch andere Lösungen finden. Nur ein Beispiel: „Generation 14plus“. Die Reihe wurde gegründet, weil man feststellte, daß zwischen dem alten „Kinderfilmfest“ und der Erwachsenen-Berlinale eine Lücke klaffte. Also machte man eine eigene Reihe mit Filmen für Jugendliche. Die funktioniert auch bestens. Tolle Sache, denkt man da, doch gleich darauf denke ich: Moment mal, was wollte ich mit 14 sehen? Filme für 14-jährige? Um Gottes Willen, nein. Ich wollte natürlich Filme für Erwachsene sehen. Also, anstatt der Jugend ihr eigenes Festival im HdKdW zu machen, könnte man genausogut die fünf oder acht 14plus-Filme, die es verdient haben, in erwachsene Sektionen hieven, wo sie mehr Aufmerksamkeit kriegen, und zusätzlich quer durchs Festival 20 Filme benennen, die für Jugendliche okay sind, selbige irgendwie durch die FSK kloppen und dann die Jugend ins große Festival hineinholen, anstatt sie wegzuschicken.

Es sind zwei unterschiedliche Ansätze. Jeder muß wissen, was er besser findet. Aber es gibt Grund zu der Annahme, daß der Publikumsfestival-Gedanke, wenn man ihn zu sehr betont oder sich darauf ausruht, auf Kosten der Faszination geht. Also der Gottheit Kino. Der Traum, einen Wahnsinnshammerfilm zu sehen, der einen packt und schüttelt und nicht kaltläßt, von dem jeder erzählt und den man gesehen haben muß, von dem man noch Tage später redet und den man sich Monate später im Kino nochmal anschaut. Oder den man dann vielleicht auch gräßlich überschätzt und überhypt findet.

Diese Erzählungen sind es, die ein Festival unvergeßlich machen. Und ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, daß sie weniger geworden sind. Gerade im Wettbewerb war in den letzten Jahren vieles ganz nett und vieles irgendwie egal.
Und wenn dies ein Song wäre, dann wäre das der Refrain:
Auch daran ist nicht unbedingt Dieter Kosslick schuld. Und selbst wenn, dann führt man die Diskussion sinnvoller zur Sache als zur Person.

Zumindest die Gelegenheit für eine Kurskorrektur wäre aber da, denn die Neubesetzung steht an. Und da lag auch der Kern dieser Aktion, oder zumindest der hauptsächliche Grund, warum ich mitgemacht habe. Man hat nämlich in der Berliner Kulturpolitik in den letzten Jahren mit Volksbühne und dffb zwei Personalentscheidungen gesehen, die nicht ganz so gut liefen. Beide Male wurde intransparent irgendwie hinter verschlossenen Türen beschlossen, was an der dffb zu einem regelrechten Krieg mit den Studierenden führte. Zur Kosslick-Nachfolge kochte eine unglaubliche Gerüchteküche, jeder trompetete irgendwelche unbewiesenen Behauptungen durch die Gegend, und man konnte kommen sehen, daß die Politik irgendwann jemanden aus dem Hut ziehen würde, der dann halt für die nächsten 20 Jahre da sitzen würde.

Dieser offene Brief sagte also vor allem: Wir haben hier ein zentrales Interesse daran, daß jemand gutes auf diesen Posten kommt, und wir wollen ein transparentes Verfahren. Und wir sagen überhaupt erstmal „Wir“. Das ist ja selber schon eine Nachricht.

Der einzige wirkliche Fehler, den ich hier sehe, war die exklusive Erstveröffentlichung auf Spiegel Online. Das hätte ich persönlich anders gemacht. So bekam das Ganze von Anfang an die dumme Schlagseite zur persönlichen Abrechnung, und dann brach Hysterie aus. Einige Journalisten schrieben das, was sie immer schreiben, nämlich daß der Festivalleiter eine Fehlbesetzung sei und weg müsse, dann meinten andere Leute, sie müßten ihn dagegen öffentlich in Schutz nehmen, jemand behauptete, Kosslick habe bei Amtsantritt das Budget der Retrospektive halbiert, und übersah dabei die Umstellung von DM auf Euro, in Blickpunkt Film erschien auf ähnlichem Niveau ein dummdreistes Editorial, auf Critic.de kam eine elegante Erwiderung, einige der Unterzeichner ruderten zurück und fühlten sich falsch verstanden, irgendwann mochte sich überhaupt niemand mehr äußern.

Ich fand das nicht toll, aber auch nicht gar so schrecklich. Als Reaktion auf Hysterie sollte man nicht selber auch noch hysterisch werden. Wenn man wirklich etwas bewegen will, wird man immer irgendwelche Leute vor den Kopf stoßen. Das ist aber nicht so schlimm, denn die beruhigen sich dann auch wieder. Im BKM wurde unser Ruf jedenfalls gehört, und das Verfahren findet jetzt unter großem öffentlichen Interesse statt. Der Ruf nach einer unabhängigen Findungskommission hingegen wurde nicht erhört. Die Satzung gibt das anscheinend nicht her. Eine Kommission, die einen Vorschlag machen kann, wäre vermutlich drin, ist aber anscheinend nicht gewünscht. Stattdessen wurde eine große Runde an Filmleuten zu einem Beratungsgespräch zusammengerufen. Ich wurde auch gefragt und ging hin. Das Gespräch verlief freundlich und offen. Zu früh für ein Fazit, aber erstmal ganz okay gelaufen, würde ich sagen.

Nicht okay finde ich, wenn die Sache dann auch auf der anderen Seite ins Persönliche gezerrt wird. Im Spiegel erschien ein Artikel, in dem Christoph Hochhäusler als Initiator der Aktion benannt und als „Intrigant“ bezeichnet wird. Ersteres ist falsch, denn er war nicht der Initiator, letzteres ist unverschämt. Hochhäusler ist einfach ziemlich gut vernetzt und hatte daher Kontakt zu vielen Leuten. Ich selber bin auch halbwegs gut vernetzt und habe die Leute ins Spiel gebracht, denen ich mich verbunden fühle, also Mumblecore & co. Andere haben wieder andere angesprochen. Es war ein großer, lange und guter Gedankenaustausch. Ein Journalist, der einen offenen Brief mit einer Intrige verwechselt, sollte mal seine Terminologie in Ordnung bringen. Und nochmal: Unter diesem Schreiben stehen 80 Namen. Die stehen da nicht einfach so. Da könnte man sich ja mal sachlich mit auseinandersetzen, anstatt einen herauszugreifen, der ein paar Mailadressen hatte. Ich bin ja künstlerisch kein besonderer Freund der Berliner Schule, aber ihre Protagonisten sind durchweg kluge und integre Leute, die nicht von ungefähr in der Filmwelt hierzulande eine Rolle spielen.

Und ganz generell finde ich: Man sollte in einer Demokratie in der Lage sein, zwischen Kritik und Majestätsbeleidigung zu unterscheiden. Wir als Filmemacher werden ja auch dauernd kritisiert. Ein ganzer Berufsstand hat sich danach benannt. Da können wir dann beleidigt sein oder halt nicht. Es würde außerdem helfen, wenn öffentliche Ämter hierzulande, angefangen im Kanzleramt, zeitlich begrenzt wären, denn unbegrenztes Verweilen in einer Machtposition begünstigt Entwicklungen hin zum Feudalismus. Zu leicht verwechseln Menschen dann ihr Amt mit sich selbst, lassen andere nach Gutdünken in Gnade und Ugnade fallen und werden selbstherrlich. Daraufhin hat der Untertan dann wiederum Angst, überhaupt irgendwas zu sagen, wenn die eigene Existenz von der Gunst der Förderchefin, des Festivaldirektors oder der Fernsehredakteurin abhängig ist. Man beißt ja nicht in die Hand, von der man sich weitere Fütterung erhofft.

Aus irgendeinem Grund ist mir das aber egal. Deswegen habe ich auch Interviews zum Thema nicht abgelehnt, und deswegen schreibe ich diese Zeilen. Wir leben in einer Demokratie, und wir leben für die Kunst. Hier wie dort hat man für mein Gefühl die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Es muß doch möglich sein, sich öffentlich zu komplexen Sachverhalten in der angemessenen Komplexität zu äußern, ohne Angst zu haben. Niemand ist vor Fehlern gefeit, niemand macht alles richtig, niemand ist gegen Kritik immun, und alles kann und sollte offen diskutiert werden. Vor allem dann, wenn man der saudoofen Versuchung widersteht, alles auf die persönliche Ebene zu ziehen.
Das sind gute Nachrichten.
Machen wir etwas daraus.

Soll ich am Ende doch noch was zu Dieter Kosslick sagen? Schwierig, denn ich kenne ihn kaum. An seiner Arbeit finde ich vieles großartig. Berlinale Talents: Wundervoll. Kiez-Reihe: Tolle Idee. Das und vieles mehr steht dem Festival gut zu Gesicht. Aber persönlich kenne ich ihn nur von ein paar Mal Händeschütteln. Irgendwo ist das seltsam, denn die Leiter anderer Festivals lernt man als Filmemacher meist irgendwie näher kennen, was dann gelegentlich zu einer solidarisch-lockeren Freundschaft führt. Vermutlich haben die auch weniger um die Ohren als der Berlinale-Leiter. Aber vielleicht ist da wirklich ein Defizit, was den Kontakt zur Filmszene im eigenen Land betrifft. Es hat ja auch keiner der vielen Unterzeichner gesagt: Moment mal, den Dieter ruf ich jetzt mal an, den kenne ich doch von zahlreichen gemeinsamen Bieren.

Eigentlich ist das schade.
Vermutlich sollten wir alle mal mit Dieter Kosslick einen draufmachen.

Vielleicht ergibt es sich ja heute abend, denn da eröffnet die Berlinale, und da gehe ich jetzt hin. Und sollte Kosslick vor mir stehen, dann werde ich ihm die Hand schütteln, ihm von Herzen einen schönen Abend und ein schönes Festival wünschen und mich für die Einladung bedanken. Wie man das so macht unter zivilisierten Erwachsenen in einem schönen, demokratischen Land.

Eine lange Liste von Videoessays

Der folgende Beitrag stammt nicht von mir, sondern von meinem Freund und Kollegen Daniel Bickermann. Den kenne ich, seit er irgendwann tief in den nuller Jahren zur Autorengemeinde des „Schnitt“ stieß und nicht nur dieselben Initialien hatte wie ich, sondern auch einen Schreib- und Denkstil, mit dem ich sehr viel anfangen konnte. Dann zog er irgendwann nach Berlin und kam mit seinem Schreibtisch in meine lustige Bürogemeinschaft, und als es vor einiger Zeit daran ging, den ersten „Tatort“ zu schreiben, war es sehr naheliegend, ihn zum Co-Autoren zu ernennen. Der Tatort ist jetzt fertig und wird am 10. September ausgestrahlt, Daniel schreibt weiter Drehbücher, vor allem aber ist er der Mensch mit dem umfassendsten und abseitigsten Filmwissen, den ich weit und breit kenne. Ein Gespräch mit ihm ist also stets nicht nur eine Freude, sondern auch ein Gewinn.

Der untenstehende Text ist gewissermaßen das Äquivalent eines längeren Küchengesprächs in unserem Gemeinschaftsbüro. Ich habe noch nicht mal die Hälfte der dort aufgeführten Videos gesehen. Aber die, die ich gesehen habe, sind wirklich toll. Vieles davon ist auch in deutschen Filmkreisen noch weithin unbekannt, und sogar in amerikanischen – ich hatte in letzter Zeit gleich drei Gespräche mit Amerikanern, in denen ich immer irgendwann  „Every Frame a Painting“ sagte und jeweils in ein fragendes Gesicht guckte. Und eines dieser Gesichter gehörte immerhin einer Editorin, die höchst respektable Arthousefilme schneidet, ein anderes einem Journalisten von der HFPA, die die Golden Globes vergibt. Also, wer ganz vorn dabei sein will, macht es wie Daniel Bickermann, schließt sich drei Tage ein und guckt diese Liste durch.

Ich kann versichern: Es lohnt sich.

Zehn Empfehlungen für Videoessays über Filmkunst
von Daniel Bickermann

Immer wenn ich betone, daß ich als Cineast einen Großteil meiner Zeit auf YouTube verbringe und dort jeden Tag noch enorm viel über Filmgeschichte, Filmkunst und Filmtechnik dazulerne, gibt es viele Fragen. Die Antwort lautet meist: „Video Essays“. Manche können etwas mit dem Begriff anfangen, andere nicht. Aber alle wollen Beispiele haben, und so habe ich in der Vergangenheit mehrfach Empfehlungen und Tips ausgesprochen, wo im Internet die besten Adressen für so etwas sind, von der amüsanten thematischen Neuinterpretation allseits bekannter Popkulturklassiker bis zur technischen Detailanalyse obskurer Stummfilme. Hier sind 10 Anlaufstellen mit ausgewählten Beispielen, in denen man sich verlieren kann. (Und ja, mir ist auch aufgefallen, daß sie alle englischsprachig und meist US-amerikanisch sind; und nein, ich weiß auch nicht, warum es keine deutschen Video Essays gibt, obwohl der Essayfilm durch Leute wie Alexander Kluge, Edgar Reitz oder Harun Farocki hierzulande durchaus Tradition hat. Tony Zhou weist auf die stärkere audiovisuelle Ausbildung an US-Schulen hin, vielleicht ist da was dran. Ich bin aber gerne offen für spannende deutsche Kanäle.)

0. Der Ausgangspunkt: 
What Makes a Video Essay Great?
Der König persönlich, der wunderbare Kevin B. Lee, ist nicht nur einer der produktivsten Video-Essay-Künstler, sondern auch ein echter Vordenker und führt uns kritisch in das Genre des Video Essays ein. Selbst wenn man keinerlei weitere Informationen hat, kann man allein durch freeze frames aus diesem Video eigentlich alle bedeutenden Macher und Kanäle herauslesen, von denen ich viele hier auch nochmal erwähne (wie kogonada oder Tony Zhou oder die „Unloved“-Reihe). Also als allererstes Mal diesen Link klicken und schauen, was einen da erwartet.

1. Every Frame a Painting
Lee hat es ja erwähnt: Tony Zhou ist der neue Star der Video-Essay-Szene, und durchaus zurecht. Sein Kanal mit knapp dreißig 10minütern noch sehr übersichtlich (und seit einem halben Jahr schweigt Zhou plötzlich und mysteriös…), aber der gelernte Editor Zhou kann in 10 Minuten mehr erzählen als andere in 45 Minuten Doku oder 100 Seiten Buch. Die Richtung ist sowohl highbrow (Satoshi Kon, Kurosawa, Bong Joon-ho) als auch lowbrow (Spielberg, Chuck Jones, Jackie Chan), historisch (Buster Keaton) und manchmal themenbezogen (Vancouver als Drehort, SMS im Film), und die Analyse ist messerscharf, klug und extrem präzise. Mein Favorit ein Must-See für alle, die an der Form des Video Essays interessiert sind.
Besondere Empfehlungen: Eigentlich alle, aber für den Anfang die wunderbaren Essays über Texte und Internet im Film, über Edgar Wright und Visual Comedy, über die Methode Michael Bay (doch! Wirklich! Wunderbarer Essay), über Jackie Chan und Action Comedy und über die Kunst und Gedanken des Filmschnitts.

2. Kevin B. Lee
Kevin B. Lee selbst arbeitet heutzutage ja vor allem für den Arthouse-Download-Dienst Fandor, und macht dort Kurzessays zu wirklich, wirklich obskuren internationalen Filmemachern wie Rick Alverson, Lynne Sachs, Koji Wakamatsu oder Ying Liang. Die bekannteren Namen sind da noch Petzold, Bava, Haneke, Solondz oder D.W. Griffith. Man sieht also schon: Durch alle Epochen und Kulturen hindurch sehr an Filmsprache interessiert. Das beste ist hier, sich einfach mal durch die Liste zu lesen und zu sehen, was interessiert. Ist nur ein Bruchteil von Lees insgesamt über 200 Video Essays, aber die meisten muß man auf allen möglichen Plattformen suchen…

3. KyleKallgrenBHH
Ein weiterer Dinosaurier dieser jungen Form: Kyle kommt aus der hochinteressanten „Channel Awesome“-Gruppe, die seit 2008 Online-Legenden wie Nostalgia Critic, Todd in the Shadows, Obscura Lupus, Angry Joe und andere hervorgebracht hat. Der Kanal hatte anfangs große Probleme mit den Copyright-Sperren bei YouTube und fand meist auf Blip statt, bevor das eingestellt wurde (daher sind bei ihm wie bei seinen Mitstreitern viele Videos noch nicht unter seinem Namen auf YouTube, und es macht mehr Sinn zB nach seiner Reihe „Brows Held High“ zu suchen und vollständigere Listen wie diese hier zu finden. Kyle Kallgren ist der Literat und Intellektuelle unter den YouTube-Filmanalytikern, der nicht nur jedes Jahr einen Shakespeare-Monat macht, sondern in Reihen wie „Brows Held High“ oder „Between the Lines“ auch Nietzsche, Camus, Godard, Vertov, Greenaway, Jarman, Panahi, Oshima, Jiří Trnka, Zardoz, Mumblecore, das Noh-Theater und die Andy-Warhol-Filme druchaus kompetent diskutieren kann. Er legt den Fokus oft auf Literaturverfilmungen und historische gesellschaftliche Umstände, generell eher thematisch als technisch; man darf also gerne mal Bibel-Zitate, Anspielungen auf literarische Werke oder auf aktuelle gesellschaftliche Strömungen erwarten. Sein Tonfall ist oft leicht spöttisch aber immer liebevoll, und seine Analysen sind nicht selten brillant und kraftvoll.
Besondere Empfehlungen sind eigentlich alle. Ich liebe seine Branagh-Analyse genauso wie seine Kurosawa-Interpretation und seine Greenaway-Haßliebe. Gute Startpunkte sind seine Videos zu „Rosencrantz and Gildenstern are Dead“, zu „Merry Christmas, Mr. Lawrence“, zu „Koyaanisqatsi“ und warum es niemals neu war und wie er eloquent die „Caligari zu Hitler“-Theorie auf Trump anwendet.

4. Channel Criswell
Ein noch recht junger Kanal eines gewissen Lewis Bond, der mit seinem schottischen Akzent und wunderbarer Stimme durch seine durchaus beeindruckenden bisherigen Essays führt. Wobei er Regie-Analysen und Technik-Analysen abwechselt und dabei vor allem das internationale Arthouse der letzten 50 Jahre im Blick hat, von den japanischen Meistern über die Nouvelle Vague bis zum aktuellen Autorenkino.
Besondere Empfehlungen: Seine Essays zu Hayao Miyazaki, Yasujirô Ozu, zu Elem Klimov „Komm und Sieh“ sowie zu Bildkomposition, zur Farbdramaturgie und zur Dialogführung, natürlich anhand von „The Social Network„.

5. Now You See It
Ebenfalls ein relativ junger Kanal, der aber schon viele interessante Essays hat. Kurze Videos von meist fünf Minuten über konkrete Aspekte des filmischen Handwerkszeugs anhand von filmhistorischen Beispielen, wie der Dolly-Zoom, der Jump Scare, der Long Shot oder das Kostümdesign.
Besondere Empfehlungen: Entsprechend gehen diese kurzen Empfehlungen über unterschiedliche Bildformate, typische Schluß-Einstellungen und das Durchbrechen der Vierten Wand.

6. kogonada
Wie Kevin B. Lee im Anfangsessay schon erklärte, hat der Supercut als Video Essay einen zweifelhaften Ruf, aber kogonada ist der Meister des Genres. Wie Lee selbst zählt er zur ersten Generation der Essayisten, die sich über Filmfirmen finanzieren (kogonada arbeitet für die Criterion Collection und Sight & Sound), anstatt, wie die jüngere Generation, sich über YouTube und Patreon-Spenden zu finanzieren (an dieser Stelle mein Aufruf, die Kanäle, die gefallen, durchaus mit einer kleinen Spende zu bedenken, ich selbst bin monatlicher Unterstützer von mehreren Essayisten auf dieser Liste hier). Entsprechend ist kogonada auch etwas filmhistorischer unterwegs als viele jüngere YouTuber, bei ihm findet man viel zu den ersten 50 Jahren Film oder un-hippen Klassikern der 30er und 40er. kogonadas Status in der Szene läßt sich schon daran erkennen, daß seine Identität weiterhin ein Geheimnis ist und es jahrelang nichtmal ein Foto von ihm online gab – ich durfte ihn und Lee bei einem seiner sehr seltenen öffentlichen Auftritte bei Berlinale Talents live sehen (den Talk gibt es auch online). Seine über-detaillierten und wundervoll spielerischen supercuts sind legendär, aber er macht zunehmend auch kommentierte Video Essays, die trotzdem nicht traditionell, sondern innovativ und spekulativ daherkommen – eine hochgradig interessante Stimme in der Szene in jedem Fall. Oh, und übrigens hat er gerade sein Regiedebüt „Columbus“ abgedreht.
Besondere Empfehlungen: Ein guter Einstiegspunkt sind seine wortlosen Supercuts zu „Wes Anderson // Centered“ und „Ozu // Passageways“, aber auch seine Essays zum Neorealismus oder zu den Händen und Türen bei Robert Bresson.

7. Nerdwriter1
Evan Puschak, ein Videomacher mit Network-Erfahrung, behandelt in fünf bis zehn Minuten langen Videos allerlei Beobachtungen und Analysen in allen aktuellen Kulturformen wie Kunst, Comedy und Musik, hat aber vor allem auch sehr kluge Filmanalyse im Programm. Sein Kanal wurde inzwischen zu so etwas wie dem Aushängeschild zu kulturellen Video Essays, und es gibt sogar schon Aprilscherz-Parodien auf seinen Stil. Seine Vorlieben sind die üblichen Arthouse-Verdächtigen wie Lynch, Wong Kar-Wai, Scorsese, etc., aber er findet tatsächlich neue und interessante filmstrategische Details in den ausgewählten Werken.
Besondere Empfehlungen: Neben seinen Essays zu Donald Trump, Craig Ferguson oder Louis CK, die auch toll sind, bleiben vor allem seine Essays zu Shane Blacks Filmgewalt in Erinnerung, zu Körpern in „Eastern Promises“, zum Cinema of Excess in „The Wolf of Wall Street“ oder zum Rahmenmotiv in „In The Mood For Love„.

8. Matt Zoeller Seitz
Manche Essays finden nicht auf YouTube statt, sogar ziemlich viele. Matt Zoeller Seitz kommt aus der Roger-Ebert-Ecke und hat die meisten seiner Essays für dessen Website erstellt. Wie Kevin B Lee ist er ein echter Vordenker der Form, und sein (schriftlicher) Essay über Video Essays war sehr prägend. Auf Vimeo findet man eigentlich alle seine Werke, und die sind eminent klug und anschauenswert. Seitz behandelt Filmemacher meist mit wirklich ausführlichen Reihen, die dann insgesamt durchaus Spielfilmlänge haben. Am berühmtesten ist wohl seine wirklich brillante Analysereihe zu Wes Anderson (Einzelvideos zu allen Filmen sowie fünf Kapitel „The Substance of Style“ über Andersons Vorbilder von hal Ashby bis JD Salinger, alles zusammen hier), über den er ein gigantisches Buch geschrieben hat, aber auch seine Arbeiten zu den Filmen von Terrence Malick, Michael Mann, Oliver Stone und sogar vergessenen Größen wie Budd Boetticher sind sehr empfehlenswert.

9. „Frame by Frame“ von The Film Theorists
Die erste von zwei Einzelreihe auf dieser Liste. Die Film Theorists unter der Leitung des sehr umtriebige Matthew „MatPat“ Patrick haben mehrere Reihen auf ihrem Kanal wie „Did you know movies“, wo es Hintergrunddetails zu Filmen gibt, „Film Theory“ (wo interessante Popkulturhypothesen aufgestellt werden) und vor allem „Frame by Frame“, wo sehr kluge Filmhandwerk-Analyse betrieben wird. Die Richtung ist meistens aktuelle Popkultur, wenig Filmgeschichte, eher die aktuellen, internationalen Klassiker und Arthouse-Werke, die Länge ist mit fünf bis zehn Minuten knapp und konzentriert, der Informationsgehalt hoch.
Besondere Empfehlungen: Immer schön, eine Geschichte der Sexszene zu sehen, außerdem das Ungezeigte in „Let the Right One In“, Eye Tracing in „Mad Max: Fury Road“ und Forced Perspective in „Game of Thrones“.

10. „Movies with Mikey“ bei Chainsawsuit Originals
Mikey Newman geht mit viel Liebe, Sarkasmus, einem gewissen Impro-Gefühl und viel Showmanship in seine Filmanalysen. Die ironischen Musikeinsätze wirken anfangs abschreckend, stellen sich aber als grandiose Running Gags heraus, wenn man mehrere seiner Videos gesehen hat. Zudem hat er den besten (aber leider nur manchmal benutzten) Vorspann aller YouTuber, ein tarantinoeskes 70er-Monster voller ironischer Einblendungen und blinkender Lichter. Das alles hört sich nach Style over Substance an, aber Newman ist überraschend tiefgründig, auf nicht selten 20 Minuten nimmt er Arthouse, Kultfilme und viele 80er- und 90er- Nostalgie-Trips auseinander. Und auch wenn die Analyse hier sehr oft von einem gewissen Fan-tum begleitet wird, ist sie doch meist sehr klug.
Besondere Empfehlungen sind zB seine liebevoll-gnadenlose Analyse von Carpenters „Big Trouble in Litte China“, zu „Pans Labyrinth“ oder zu „Galaxy Quest“.

 

Honorable Mentions:

Renegade Cut
Ein weiterer Dinosaurier des Video-Essays, dieser Kanal hat nun schon seit 4 oder 5 Jahre seine zehn- bis 15minütige Videos veröffentlicht, um „philosophische, politische und thematische Analysen“ von Filmen zu machen. Die Auswahl ist entsprechend universell, durch die gesamte Filmgeschichte und sogar das große Spektrum von Qualität bis Murks wurden hier bereits hunderte Filme sehr klug und originell analysiert. Leon Thomas‘ Stimme wirkt anfangs etwas monoton, aber das sollte niemanden abschrecken.

The Unloved
Scout Tafoya nimmt sich liebevoll der „ungeliebten“ Werke der Filmgeschichte an, seien es kritisch geflopppte Mainstreamwerke, zu Unrecht vergessene Arthouse-Perlen oder übersehene frühe Filme, die es nicht in den Kanon geschafft haben. Schöne Beispiele: The Village und Fire Walk With Me.

Matthias Storck: Chaos Cinema, Teile 1-3
Ein sehr einflußreicher Video Essay des deutschstämmigen Filmwissenschaftlers, der online kontrovers diskutiert wurde. Er analysiert moderne Schnitt- und Regie-Technik erst im Actionkino (Teil 1), dann aber auch in Dialog-Szenen und anderen Genres (Teil 2) und geht dafür bis an den Anfang der Filmgeschichte. Der Essay zog einen dritten Teil als Antwort auf die Diskussion nach sich. Must-See für Editoren.

CineFix
Eine der ersten Anlaufstellen für Filmliebhaber auf YouTube, hat aktuelle Kritiken, aber auch endlos viele Reihen wie Hintergrunddetails („Things you didn’t know“), Filmlisten, Adaptionsvergleiche zwischen Buch und Film („What’s the difference“), aber auch klug kuratierte und analysierte Essays zu bestimmten narrativen Topoi, die dann auseinandergenommen werden. Die Reihe „Art of the Scene“ analysiert legendäre Einzelszenen sehr exakt auf Inszenierung und Produktion, während die „Movie Lists“ weit mehr sind als pure „Best of“-Liste, sondern zu bestimmten Genres oder Stilmitteln dutzende Beispiele ausgraben und analysieren.

Wisecrack Edition
Eine sehr bunte Mischung aus unterschiedlichen Reihen auf diesem sehr komischen Kanal, wo ein Außerirdischer aus der Zukunft Filmklassiker analysiert („Earthling Cinema“), ein Gangster-Rapper Literaturklassiker im Street Slang analysiert („Thug Notes“) und Fragen nach sozialen oder politischen Themen als Pixel-Videos durchgespielt werden („8-Bit Pholosophy“). Und mittendrin gibt es mit der „Wisecrack Edition“ (eine faszinierende Reihe von erstaunlich ausführlichen und profunden Film- und Fernsehanalysen, die durchaus auf diese Liste gehören.

Lessons from the Screenplay
Ein Kanal eher für Drehbuchautoren und solche, die es gerne werden wollen, wo meist Klassiker der letzten 30 Jahre auf ihre Drehbuch-Kniffe abgeklopft werden, meist mit klaren Fragestellungen, wie man zB Spannung in Dialogszenen erhöht, Twists vorbereitet, Genrekonventionen bricht oder Antihelden erzählt. Mein persönliches Highlight ist die Analyse von 30 Seiten Drehbuch, die im Lauf des Filmens von „American Beauty“ gestrichen wurden.

One Hundred Years of Cinema
Eine nette kleine Idee: Für jedes Jahr seit 1914 wird ein kleines Video mit der bedeutendsten filmgeschichtlichen Entwicklung bzw. dem wichtigsten Film dieses Jahres herausgegeben. Nicht mehr als ein kleiner filmgeschichtlicher Auffrischer, aber durchaus unterhaltsam. Ist allerdings bisher erst bei 1933…

Film Formula
Dieser Kanal wird leider nur selten erweitert, ist aber ein guter Anlaufpunkt für Film Essays zu aktuellen Geheimtips wie „Nocturnal Animals“ oder „The Double“, aber auch zu einigen Arthouse-Klassikern von Filmemachern wie von Trier, Jodorwoski oder Kieslowski.

Folding Ideas
Was „Lessons from the Screenplay“ für Autoren ist „Folding Ideas“ für Editoren. Dan Olson ist ein Cutter, der sich wunderbar in Rage reden kann über die nachlässige Schnittkunst im aktuellen Kino. Nachdem er seit einigen Jahren nicht mehr eine Karton mit Brille als Alter Ego benutzt, sondern sein „Hipster-Sandler“-Selbst vor die Kamera stellt, hat er sehr kluge Analysen zum Gebrauch des Jump Cuts, zu Setup und Payoff, zu Propaganda und zu durchaus komplexen Phänomenen wie dem Kuleshov-Effekt oder der „ludonarrativen Dissonanz“. Aber mein persönliches Highlight ist und bleibt sein epischer, halbstündiger Take-Down von „Suicide Squad“, wo er haarklein (und unglaublich unterhaltsam) analysiert, was beim Schnitt eines modernen Blockbuster-Films alles schieflaufen kann und worin vermutlich die Ursachen zu suchen sind.

 

Berlinale, erste Hälfte

Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen. Unsere Vorfahren waren tolle Kerle, die haben den Kölner Dom gebaut und die Zauberflöte komponiert, wir machen eher so 3-Minuten-Popsongs und bauen kaputte wilhelminische Schlösser wieder auf. So sieht‘s aus. Aber daß es so aussieht, heißt ja noch lange nicht, daß es auch so ist. Könnte ja auch eine perspektivische Illusion sein. In der gelebten Erinnerung wird das Vergangene kleiner, in der Kunst wird es größer. Man kann das am eigenen Leibe beobachten: Letztes Jahr habe ich es irgendwie geschafft, jeden Tag emsig mein Berlinale-Blog vollzuschreiben. Dieses Jahr ist mir komplett schleierhaft, wie ich das eigentlich geschafft haben soll. Wo hab ich verdammt nochmal die Zeit hergenommen? In ehrfürchtigem Staunen stehe ich vor meinem eigenen Werk wie ein Zwerg auf der Schulter eines Riesen, also auf meiner eigenen.

Das ist aber eigentlich immer so. Wenn man irgendwas gemacht hat, das auch nur halbwegs irgendwie anstrengend war, dann würde man auf keinen Fall nochmal machen. Also ich zumindest. Eigentlich bin ich nämlich faul.

Die Berlinale ist schon halb vorbei und ich bin immer noch dabei. Das ist allein schon toll. Man wird immer irgendwann krank. Gnadenlos schlägt die Grippe zu. Die Bären-Verleihung vor drei Jahren habe ich im Fieberdelirium durchschwebt. Es war eine Out-of-Body-Experience, ich sah die Menschenmenge von oben und mich selber da unten irgendwie komatös herumlaufen. Dieses Jahr wird entschlossen dagegen vorgegangen. Erste Maßnahme: Keine Hände mehr schütteln. Stattdessen Ghetto-Faust. Oder gleich Umarmung. Beim Film wird ohnehin viel umarmt. Ich finde das völlig in Ordnung. Griesgrämige Kolumnen könnte man schreiben über die Inflation des Umarmens, die Aushöhlung einer innigen Zuneigungsbekundung, die am Ende gar nix mehr bedeutet, wenn jeder sie bekommt, ich sehe vor meinem geistigen Auge spaltenlange umarmungskritische Glossen im FAZ-Feuilleton und rufe: Haltet ein! Vergeudet nicht eure Lebensenergie auf das Kritisieren der Umarmungsinflation anderer Menschen! Laßt sie sich doch umarmen! Umarmt selber mal wen! Beispielsweise eure abgehärmte Sekretärin, die seit 54 Jahren am selben Schreibtisch sitzt! Ja, so stelle ich mir das FAZ-Feuilleton vor, da sitzen schlechtgelaunte alte weiße Männer und beschweren sich im sauertöpfischen Kulturperssimismus-Klageton über die Bussi-Umarmungs-Schickeria, während die Sekretärin auf ihrer Triumph-Adler Leserzuschriften von Rainer Barzel beantwortet. Das ist natürlich ein schreckliches Klischee, in Wahrheit weiß ich nix vom FAZ-Feuilleton, und außerdem bitte nix gegen alte weiße Männer! Ich werde wohl oder übel mein eigenes Leben als solcher beenden müssen, falls ich nicht fassbindermäßig krass früh abtrete, aber dafür ist es eh zu spät, also würde ich mich ja selbst ins zukünftige Knie schießen, wenn ich jetzt auch noch auf alten weißen Männern herumhacken würde.

Eigentlich wollte ich ja auch gar nicht über die das FAZ-Feuilleton herumspekulieren, sondern nur das Händeschütteln verurteilen – oder vielmehr um Verständnis werben, wenn ich keine Hände mehr schüttle. Es ist kein sozialer Affront, es ist Notwehr gegen den Virenbeschleuniger Berlinale. Wir, also die Gesamtheit der Berlinale-Besucher, sind wie eine Million Hühner in eine dieser gräßlichen großen Tierfabriken. Wenn die Influenza-Subtypen H3N5 und R2D2 eines Tages in irgendeinem nichtsahnenden Organismus die entscheidende Gensequenz austauschen und dabei das Killvervirus herauskommt, das die Menschheit ausrottet und damit sämtliche Probleme dieses Planeten löst, dann wird das vermutlich hier auf der Berlinale geschehen, weil die Leute zu viel Hände geschüttelt haben. Also: Ich plädiere für die sogenannte Ghetto-Faust. Saudämlicher Name, ich weiß keinen besseren, aber es ist eigentlich ein stilvoll-beiläufiges Begrüßungsritual. Vielleicht könnte das so ein allgemein anerkanntes Berlinale-Ritual werden.

Ein anderes Berlinale-Ritual, das ich mir wünsche, wäre der Trailer-Flashmob, die große La-Ola-Welle auf der orgasmischen Bären-Stern-Explosion. Da müßte doch eigentlich der ganze Saal jedesmal aufspringen und Konfetti werfen. Oh ja, das wäre majestätisch: Bevor es losgeht, reißt jeder seine soeben entwertete Eintrittskarte in kleine Stücke, und auf dem Höhepunkt des Trailers werfen alle alles in die Luft. Es wäre der Alptraum der Kinobetreuer. Es würde hinterher aussehen wie Sau. Also vielleicht einfach Hüte hochwerfen. Früher, als die Herren noch Hüte trugen, war es allgemein bekannte Zustimmungspraxis, daß alle gleichzeitig ihre Hüte hochwarfen. Das muß jedesmal toll ausgesehen haben. Wenn dann alle versucht haben, ihren jeweiligen Hut wieder einzufangen, und sich dabei das Nasenbein am Schädel des Nachbarn einrannten, war bestimmt auch toll.

So, was schreibe ich jetzt als nächstes? Kommt er noch, der rote Faden? Das habe ich mich auch schon in diversen Filmen gefragt. Und bei sämtlichen Reden, die immer überall gehalten werden. Ich wünsche mir, daß das Vereinte Königreich uns mal bitte eine Truppe von dreißig oder fünfzig Redenschreibern schickt, die hier für die nächsten dreißig, ach, dreihundert Jahre alles nachhaltig aufmischt und den Leuten beibringt, wie man kurz und knapp und stilvoll und prägnant und witzig und präzise öffentlich redet. Es ist nämlich ein fortdauerndes Grauen. Am Vorabend der Berlinale, letzte Woche, durfte ich Klavier spielen bei einer Gedenkveranstaltung für Carl Laemmle. Also ein bißchen stummfilmbegleiten. Das pasierte eher so nebenher, beim Empfangscocktail, denn hinterher im offiziellen Programm war keine Zeit, da mußten Reden gehalten werden. Ich will die Veranstalter hier auf keinen Fall kritisieren, ich freue mich sehr über jede Stummfilmbegleiterei, die ich machen darf, aber ich kritisiere die Redner in schneidender Schärfe. Und zwar alle. Leute, das geht so nicht. Das ist stillos, formlos und letzten Endes auch respektlos dem Anlaß und dem Publikum gegenüber. Außerdem ein kleiner Hinweis: Ein schlechter Witz ist dann, wenn keiner lacht. Und dann kommt noch hinzu, daß zur Zeit alle aufgeregt herumflattern wie aufgescheuchte Hühner und in einem fort gackern: Rechtspopulismus, Brexit, AfD, Trump! Ja, meine Damen und Herren, gewiß doch. Wir leben in aufregenden Zeiten, um das mal bewußt wertneutral zu formulieren. Da bringt es aber nix, wenn wir alle dauernd „Trump“ gackern und uns gegenseitig bei einem Glas Sekt und gräßlicher lauter Musik ins Ohr schreien, daß wir politischer werden müssen.

Es ist doch eigentlich ganz einfach: Politik will etwas. Mehr Frauen an die Front, mehr Geld für Kitas, Brot statt Böller. Wenn das Ziel erreicht ist, ist das Ziel erreicht. Kunst will nix, oder nur Sachen die nicht erreichbar sind, wie z.B. die Verherrlichung Gottes (Bach, Matthäuspassion) oder besserer Schlaf für irgendeinen Fürsten (Bach, Goldberg-Variationen). Was Kunst will, das ist frei verhandelbar. Kunst reißt die Barriere ein zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Welt, zwischen Mensch und Universum – und letzten Endes auch zwischen dem Menschen und sich selbst. Kunst kann mir helfen, aus mir selbst herauszusteigen und die Welt mit anderen Augen zu sehen und mit anderen Ohren zu hören. Das kann ausgesprochen politisch sein – aber wenn es sich im Politischsein erschöpft, dann ist das eine schlimme Vergewaltigung dessen, was Kunst eigentlich sein kann. Kunst ist nämlich letzten Endes abstrakt. Die zwei Klavierkonzerte von Brahms (oder die vier von Rachmaninov) sagen nichts, beweisen nichts, erklären nichts. Sie sind etwas. Sie haben genausoviel Sinn wie ein Berg oder ein Baum. Sie verbessern nicht die Welt, sie sind ein Stück verbesserte Welt (dieses Argument habe ich tatsächlich von Michael Ende). Und aufgepaßt, jetzt kommt‘s: Film ist im Kern auch abstrakt. Das, was wir im Kino eigentlich suchen, das ist nicht die Handlung oder die Schauspieler oder die Bilder oder die Töne. Nein, es ist das, was sich daraus ergibt, was größer ist als die Summe der Teile. Ein großer Film ist wie ein großer Berg. Er ist ein Stück Welt, und es ist ein Erlebnis, ihn zu besteigen und von neuer Perspektive auf die Welt zu schauen.

Übrigens habe ich das Gefühl, daß das früher besser ging. Deswegen renne ich auch dieses Jahr wieder fortdauernd in die Retrospektive, stelle mich zwergenhaft auf die Schultern von Riesen und genieße die Vergangenheit. Soll die Gegenwart doch erstmal beweisen, daß sie das auch kann, was damals ging. Und übrigens sind die alle zumindest implizit politisch, die Filme, die man da sieht. Weil sie nämlich gut sind und nicht blind für die Welt und Zeit, in der sie entstanden sind. Das reicht ja eigentlich schon.

Schluß jetzt, muß ins Kino. Vielleicht blogge ich weiter. Vielleicht auch nicht. Wer ansonsten was über die Berlinale wissen will, möge das Buch „Zehn Tage im Februar“ von Heike-Melba Fendel lesen, da steht alles drin. Ich bin mit der Autorin befreundet, aber das ist entstanden, weil ich ihre Texte und Gedanken mag, nicht umgekehrt, also kann ich das hier schrankenlos öffentlich feiern. In der FAZ stand über dieses Buch, die Autorin breite da ihren Männerhaß aus. Das ist so blödsinnig, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht muß man sich das FAZ-Feuilleton ja doch so vorstellen wie in meiner obigen Phantasie. Kritiker sind aber ohnehin ein seltsames Volk. Oft rennen sie alle in dieselbe Richtung wie eine Herde Schafe, immer dem Hype hinterher, und merken es nicht einmal. Manchmal sind sie komplett blind fürs Offensichtliche, so wie damals bei „Starship Troopers“. Dann haben sie ihre Vorlieben und Abneigungen, man ist halt entweder Feuilleton-Liebling oder nicht.

Also, das Buch ist gut und ich mag die Autorin. Wäre ersteres nicht der Fall, dann hätte ich jetzt ein arges Problem. Man kommt nämlich in unauflösbare Zwickmühlen, wenn Leute, deren Arbeit man feiert und die man innig liebt, einen in ihrer Arbeit enttäuschen. Das ist schlimm, ich bin da immer ganz hilflos und schweigsam wie ein Kind, dem man das Spielzeug weggenommen hat, aber letzten Endes ist es dann auch egal, man wechselt das Thema und geht feiern – oder führt lange, ehrliche Gespräche. Ersteres ist vielleicht eher die amerikanische Variante, ersteres die deutsche.

Verdammt, ich muß echt los. Ende der Durchsage.

Berlinale, Nachtrag – Das Publikum ist ein aufgesperrtes Riesenmaul

Schon wieder acht Tage vergangen seit der vergangenen Berlinale. Alles vergeht. Was bleibt? Welche Filme haben nach acht Tagen noch Bestand? Oder nach acht Jahren? Was lief auf der Berlinale 2008? Kann sich noch jemand erinnern? Ich für meinen Teil erinnere mich ja beispielsweise gern an die Urania. Als Kino eigentlich gar nicht besonders toll, aber trotzdem irgendwie gemütlich, und in diesen absurd langen Sitzreihen entstand immer so ein lustiges Festivalcampingplatzgefühl. Irgendwann wurde die Urania dann nicht mehr bespielt.
Schade.

Anstatt mit hier aber in Nostalgie zu wälzen, wollte ich eigentlich nur noch was zum Publikum sagen, weil der letzte Berlinaletag ja Publikumstag heißt. Als junger Mensch, vielleicht mit 19 oder 20, las ich Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“, was ohnehin ein ganz großartiges Buch ist, und da fand ich eine Passage, die mich damals sehr beeindruckte und seither beeinflußt hat und das auch heute noch tut. Man kann diese Worte auch heute noch zitieren, also tue ich das jetzt. Alles wesentliche zum Publikum sei damit gesagt.

„Durch die Jahrhunderte klingt die Klage der Verleger, Zeitungsherausgeber, Konzertagenten, Bühnenleiter: man dürfe dem Publikum nun einmal nichts Neues, nichts Tiefes, nichts Ernstes vorsetzen, sein Geschmack sei immer nur auf platte Unterhaltung, auf Kitsch und Konvention gerichtet. Das ist aber ganz einfach eine Umkehrung des wahren Sachverhalts: die rückständigen, ordinären und oberflächlichen Elemente sind die Fachleute. Das Publikum ist nichts als ein aufgesperrtes Riesenmaul, das alles in sich hineinschlingt, was man ihm vorsetzt. Daß es aber lieber Gutes verschlingt als Schlechtes, steht außer allem Zweifel.

Das erweist sich sofort ganz unzweideutig, wenn man den Blick auf größere Zeiträume ausdehnt. Woher kommt es, daß von alle den Moderomanen und Theaterschlagern, die seinerzeit so gierig konsumiert wurden, heute nur noch ein paar Seminaristen etwas zu erzählen wissen? Warum leben die erfolgreichsten Gassenhauer und Schmachtfetzen zwar in aller Munde, aber immer nur eine Saison lang? Und umgekehrt: gibt es eine einzige Zelebrität, die mehr als hundert Jahre alt ist und nicht verdiente, eine Zelebrität zu sein? Sind Homer und Dante denn nicht wirklich die größten Epiker, Plato und Kant die größten Philosophen? Und wenn man eine Theaterstatistik der letzten hundert Jahre aufstellen würde, so würde sich als meistgespielter Dramatiker ganz bestimmt Shakespeare herausstellen.
Wer hat also diesen Männern den ihnen gebührenden Platz mit so untrüglich sicherem Urteil angewiesen? Etwa die Literaturprofessoren? Die nehmen ein Genie doch erst ernst, wenn es schon der letzte Postbeamte verdaut hat. Niemand anders als das Publikum trifft diese kunstsinnigen und verständnisvollen Entscheidungen; man muß ihm nur ein wenig Zeit lassen. Wird ihm von der niedrigen Gesinnung der sogenannten kompetenten Faktoren minderwertige Nahrung geboten, so akzeptiert es auch diese, aber nur weil es keine bessere bekommt; und früher oder später wird es von seinem Instinkt, trotz aller Hemmungen, die ihm die leitenden Kreise bereiten, doch an die richtige Quelle geführt werden.“

Berlinale, Tag 11 – Ende, aus, weitermachen

Schon wieder eine Berlinale vorbei. Das alljährliche Geschimpfe und Gejammmer, es scheint mir nachgelassen zu haben. Gut so! Ist doch eine tolle Sache, die Berlinale. Man möge sich nur mal vorstellen, es gäbe sie nicht – wir schließen die Augen und stellen uns vor: ein Leben ohne Berlinale – – – na, was sehen wir? Winter, Nieselregen und Traurigkeit! Das Berlinale-Genörgel vieler Kritiker scheint mir ähnlich beschaffen zu sein wie das Genörgel, das man oft in sogenannten Liebesbeziehungen findet. Ständig hat man was am Partner auszusetzen, eigentlich nervt er die ganze Zeit, aber warum trennt man sich dann nicht einfach? Nein, das wäre wirklich schrecklich.

Ist aber eh nur ein Kritikerproblem. Das Publikum findet die Berlinale einfach nur super. Heute ist Publikumstag. Der Publikumstag, könnte man denken, ist der einzige Tag, an dem Publikum reingelassen wird. Cannes könnte so einen Tag mal brauchen. In Berlin ist es aber einfach ein Extra-Tag für noch mehr Publikum, nachdem zehn Tage lang schon sehr viel Publikum da war. Man ist alle Jahre wieder geplättet angesichts der Menschenmassen, die sich in sperrigstes Kunstkino wälzen. Wurde schon viel drüber räsoniert. Habe nichts neues beizutragen. Ich will auch heute gar nichts neues gucken, sondern nur altes.

Und zwar als erstes: Es, Ulrich Schamoni, 1966, nach einer Vorlage von Stephen King. Meines Wissens der einzige Fall, in dem ein Roman 20 Jahre vor seinem Erscheinen verfilmt wurde. Entschuldigung, dieser Witz mußte endlich mal gemacht werden, der spukt seit auch mindestens 20 Jahren irgendwo herum. Witz beiseite, toller Film. Wirklich! Welch jugendliche Freiheit! Welch spielerische Verspieltheit! Was für ein eleganter Humor! Und trotzdem ganz nüchterner Ernst im Umgang mit dem Thema! Wieso hat das deutsche Kino nicht in diesem Stil weitergemacht? Übrigens auch ein merkwürdig schizophrener Film. Mann und Frau teilen Wohnung und Bett, ihr ganzes Leben, doch als sie schwanger ist, erzählt sie ihm nichts davon, den ganzen Film hindurch. Sie rennt von Arzt zu Arzt auf der Suche nach Abtreibungsgelegenheit. Er theoretisiert zum selben Thema, redet über Kinder und mutmaßt, wie es wäre, wenn. Das ganze vielleicht ein Symptom für die Beschaffenheit einer ganzen Generation: Theorie und Praxis schlafen in einem Bett, aber wenn es um die Wurst geht, haben sie sich nichts zu sagen. Das gemeinsam gezeugte Kind erblickt noch nicht mal das Licht der Welt, weil die Praxis es nicht haben will. So war das bei euch, ihr 68er.

Danach: Spur der Steine, Frank Beyer, DDR 1966. Den habe ich erstmals im Sommer 2000 gesehen, vorbereitenderweise für die Aufnahmeprüfung an der Babelsberger Filmhochschule. In der Münchner Stadtbibliothek gab es ganze vier Defa-Spielfilme auf VHS. Ich wollte ja mal wissen, wohin ich mich da begebe, also lieh ich sie aus und sah sie mir an. An Ort und Stelle, also in Babelsberg, war man dann einigermaßen beeindruckt. Ein junger Wessi, der in der Aufnahmeprüfung sagt: Ich hab mal einen Blick in eure Tradition geworfen, weil‘s mich interessiert hat. Und dann sagt er noch: Spur der Steine fand ich fantastisch. Vermutlich hat das den Ausschlag gegeben, den jungen Wessi zum Studium zuzulassen. So gesehen hätte ich meine gesamte Laufbahn diesem Film zu verdanken. Und es ist ein toller Film. Was für große, sehnsuchtsvolle Western-Cinemascope-Bilder, was für Schauspieler, was für Texte. Manfred Krug läßt so ungeniert die Sau raus, daß man ihn gleich heiraten will. Und überhaupt, ich will sofort mit diesen Männern und Frauen auf diese dreckige Baustelle in Sachsen und da den Sozialismus aufbauen und mein Feierabendbier trinken und morgens wieder anpacken. Aber am Ende verheddert er sich in Diskussionen und Debatten und auslaufenden Plot-Verästelungen, da geht die Energie ziemlich in den Keller, wenn nicht gerade der große Manfred Krug sie wieder hochzieht. Vielleicht auch dieser Film ein Symptom seiner Zeit und seines Landes: Gestartet mit den besten Absichten und großer Energie (und stalinistischer Leutevernichtung, okay), aber am Ende ist so die Luft raus, da wird nur noch ein Brief verlesen, in dem die weibliche Hauptfigur ungefähr sagt: Äh, Leute, ich mach woanders weiter.

Und dann noch: Berlin um die Ecke, Gerhard Klein, 1965. Inhaltlich dasselbe in grün: Konflikte am industriellen Arbeitsplatz. Überhaupt war die ganze DDR ein einziger Arbeitsplatz. Christian Petzold kann hochspannende Interviews geben. Ich könnte mich tagelang nur mit Christian-Petzold-Interviews beschäftigen und wäre ein glücklicher Leser. Gern würde ich jetzt eines verlinken, aber finde es nicht mehr, in dem er darauf hinweist, daß im DDR-Fernsehen, wenn man Volkes Stimme hören wollte, die Menschen typischerweise am Arbeitsplatz befragt wurden, in der BRD dagegen die Passanten in den Fußgängerzonen. Die DDR war von der Arbeit her gedacht, die BRD vom Konsum. Leider fällt mir der Konsum dieses Films aber deutlich schwerer als bei den vorigen beiden. Große Momente hat er, zwingend ist er nicht. Zu viel Defa-Holzschnitzarbeit für meinen Geschmack. Ist aber nur mein Geschmack. Aber dann immer diese Männer, die Frauen obsessiv hinterherlaufen! Männer, hört auf damit! Es bringt nix! Sei wie ein Hubschrauberpilot: Erkenne, wo du landen kannst. Und wo du nicht landen kannst, da versuche nicht zu landen, sonst wird es allenfalls eine Bruchlandung.

Wir werden in dieser Vorführung Zeuge, wie sich ein faszinierender Kreis schließt bzw. nicht schließt. Vor uns sitzt nämlich ein Mensch, der mit Nachnamen tatsächlich Defa heißt, also genauso wie das DDR-Filmstudio, der aber kein Wort vom Film versteht. Es handelt sich nämlich um den amerikanischen Filmemacher Dustin Defa. Der wollte sich mal einen Defa-Film angucken. Aber da der Film keine Untertitel hat, kann Defa mit dem Defa-Film beim besten Willen nix anfangen.

Und das ist jetzt ein Sinnbild genau wofür?
Verehrte Leser, ich sag‘s mit Brecht: Vorhang zu, Fragen offen.
Oder, wie die Sesamstraße es formulierte: Denkt euch selber mal was aus. Zum Beispiel das große, besinnliche Schlußwort, das ich jetzt hier nicht halte.

Weil heute Publikumstag ist, zum Schluß noch ein bedenkenswertes Zitat übers Publikum – ach nee, das gibt‘s morgen. Ich bin ja jetzt als Klatschkolumnistin so eine Art Social-Media-Schlampe geworden, da muß man seine Goodies häppchenweise unter die Crowd bringen, um die Follower bei der Stange zu halten, und nicht alles auf einmal rausballern (also anders als Hans Balla, der Brigadeführer aus Spur der Steine).

Berlinale, Tag 10 – Jetzt wird wieder in den Bücherstand gerutscht

Heute hier, morgen dort. Gestern lang, heute kurz. Gestern Jugendstil, heute Telegrammstil. Also: Preisverleihung. Roter Teppich. Bin kein Freund dieses Rituals. So wie Tschechien und die Slovakei sich irgendwann getrennt haben, sollte man auch mal die Filmfestivalwelt aufspalten in Filmfestivals und Roter-Teppich-Festivals. Bei den einen werden nur Filme gezeigt, bei den anderen gehen nur Leute über rote Teppiche. Vor lauter Dämlichfinden macht man (=ich) dann immer irgendwelchen Quatsch. Den sieht man hinterher wiederum auf Fotos und denkt: Oh Gott! Resultat: Teufelskreis. Sehe zum Glück fast nie welche von den tausend Fotos, die da entstehen. Können meinetwegen alle gelöscht werden. Bärenverleihung dieses Jahr auch im zackigen Eiltempo. Engelke moderiert in tadelloser Haltung, soweit in diesem Kleid erkennbar. Preisverteilung wirkt OK (sofern Filme selbst gesehen). Großer Jurypreis für „Tod in Sarajevo“, der nie ganz das Kataloghafte vieler festivalorientierter Balkanfilme abstreifen kann? Na gut, meinetwegen. Hauptpreisträger wie erwartet. Wird direkt danach gezeigt. Bin beeindruckt.

Hinterher: Herumstehen im Foyer. Ins Gespräch mit einem Uraltfreund mischt sich ein bizarrer Fremder. Redet fortwährend Blödsinn und sagt Sachen wie „ja toll, daß man sich hier einfach so gegenseitig kennenlernt“. Läßt sich ums Verrecken nicht abschütteln. Wir gehen rauchen, er kommt mit. Wir gehen wieder rein, er kommt mit. Renne nach 25min davon, weil ich Freundin versprochen habe, sie vorm Kino abzuholen. Dort: Warten. Ist nämlich ein Forumsfilm. Im Forum wird nach dem Film geredet. Lang und extensiv. „Intensiv“ hieße vertiefend, „extensiv“ heißt verlängernd. Filmgespräche sind fast immer extensiv. Allein die Fragen dauern schon irre lang. Und dann erst die Antworten. Dann Schlußwort, alle stehen auf, Moderator ruft: Stop! Do I see one more question? Ja, jemand hatte noch die Hand gehoben und fängt mit seiner Frage vorsichtshalber erstmal bei Adam und Eva an. Also alle erstmal wieder hinsetzen. Sowas passiert vermutlich gerade im Saal. Ich sitze ja draußen auf der Treppe und warte. Dämmere langsam weg. Der Berlinale-Bücherstand, der hier war, ist auch weggedämmert. Schon seit Jahren frage ich mich, was diese Rutsch-Röhre im Cinemaxx eigentlich zu bedeuten hat. So eine Art Notausgang für Filme, aus denen man besonders schnell fliehen will? Dann würde man bei der Landung aber den Bücherstand zum Einsturz bringen. Wäre schade.

Bin weggepennt. Filmgespräch scheint vorbei zu sein. Treppe weiterhin unbequem. Stehe auf. Bin um Jahre gealtert. Party? Was für ne Party? Irgendwer weiß irgendwas in Neukölln. Oder die Bärenfeier im Crackers. Crackers hieß früher mal Cookies. Davor vermutlich Bahlsens. Als nächstes heißt es dann Hustenbonbons. Es regnet. Zum Glück nur draußen. Nicht auszudenken, wenn es drinnen regnen würde. Auf Spiegel Online steht, der polnische Film, der fürs Drehbuch gewonnen hat, sei frauenfeindlich. Ich kenne den Regisseur. Das ist ein irrsinnig netter, freundlicher, schwuler – verdammt, darf ich jetzt hier schreiben, daß der schwul ist? Also, wenn jemand außerstande ist, einen frauenfeindlichen Film zu machen, dann der. Vielleicht wollte er nur was sehr dramatisches machen und irgendwer hat das dann in den falschen Hals gekriegt. Ach herrje, man kann so viel falsch machen und so wenig richtig, und dann wird man auch noch falsch verstanden.

Allerdings, andererseits: Wenn man was falsch macht und selbiges dann falsch verstanden wird – ist dann im Resultat alles wieder richtig?

Frage zu kompliziert. Zurück zum Telegrammstil.
Entscheidung: Keine Party.
Stattdessen: Pennen.

Berlinale, Tag 9 – Ich bin ein Marsmensch, Madame

Vorneweg eine Warnung: Dieser Text ist lang, und die hammerwichtigen Polit-Themen kommen erst am Ende. Wenn Sie Mann, Frau oder Feminist sind, dann scrollen Sie am besten gleich runter ins letzte Drittel. Für alle anderen: Zur Sache.

Aufmerksame Leser werden sich fragen: Wo ist der achte Tag geblieben? Ja, liebe aufmerksame Leser, das weiß ich auch nicht. Er kam mir irgendwie abhanden. Vermutlich, weil ich schon seit 28 Stunden vor dieser Bar stehe und sich nichts bewegt. Vor mir steht eine Mauer aus Menschen. Alle kehren mir den Rücken zu. Hinter der Bar, da bewegt es sich, aber nur sehr langsam, da werden meterweise Gurken geschnitten und Limetten gevierteilt und Petersilie gehäckselt und ellenlage Cocktailkochrezepte abgearbeitet. Dauert jedesmal Stunden. Ich will doch nur ´ne Flasche Bier, so wie einst Gerhard Schröder. Das würde fünf Sekunden dauern. Aber die Menschenmauer vor mir besteht aus Liebhabern kompliziert zuzubereitender Cocktails. Unter den Luxusproblemen, von denen wir in Mitteleuropa ja zahlreiche haben, ist dies eins der brennendsten. Führt doch mal getrennte Theken ein für Freunde der Flasche und Liebhaber des Longdrinks. Ein Luxusproblem weniger, mehr Zeit für echte Probleme.

Überhaupt, was mache ich hier eigentlich? Man möchte sich geistvoll unterhalten, versteht aber sein eigenes Wort nicht, man kann sich nur geistlos anbrüllen. Die Musik nervt, es ist einer dieser DJs, die nicht ausschließlich entseelten Tanzfunktionsmüll spielen, sondern alle sechs oder sieben Stücke mal was beschwingt-einladendes daruntermischen, so daß man denkt: Hey, jetzt wird‘s besser. Wird es aber nicht. Ständige Enttäuschung frustriert mehr als ein zuverlässig andauerndes Qualitätstief. Alle, die ich treffe, sind gerade am Gehen oder gerade am Kommen oder oder gerade am Anstehen oder hauen mich, weil ich sie nicht erkenne, oder hauen mich, weil sie mich erkennen, oder hauen mich, weil ich was lustiges gesagt habe (darüber sollte man auch mal eine Kolumne schreiben: Frauen, die einen hauen, wenn man Witze macht, ja, es sind leider Frauen, zumindest mich hat noch nie ein Mann wegen eines Scherzes scherzhaft geschlagen, andererseits muß ich natürlich hinzusetzen, daß ganz bestimmt nur ein oder zwei Prozent aller Frauen so drauf sind, die allermeisten sind nett und zivilisiert). Die Hälfte der Leute raucht, die andere Hälfte läuft blau an und kriegt Asthmaanfälle. Schrecklich stinken werden sie alle, wenn sie nach Hause kommen, genau wie ich, dann werden sie ihre nach Aschenbecher duftenden Pullover über die Heizung legen, damit man selbige morgen nochmal anziehen kann, und werden sagen:
War wieder geil.

Ich habe diesen Ort freiwillig betreten und wußte ungefähr, was mich erwartet (auch wenn das mit den Gemüseschnipselwartezeiten an der Bar nicht absehbar war) – warum also tat ich es? Meine Theorie zum Attraktionswert von Partys ist, daß sie Bergtouren gleichen, die ihren emotionalen Wert auch erst in der Rückschau erhalten, im zufriedenen Blick auf gemeisterte Strapazen. Wenn man stundenlang durch Forststraßen bergauf latscht und dann durch Latschenkiefern und dann über Felsen und noch mehr Felsen und noch mehr Felsen, dann denkt man sich, und zwar stundenlang: Ich Vollidiot, wie konnte ich nur? Wenn man dann mit weichen Knien bei sinkender Sonne tausend Höhenmeter absteigt und vor lauter Überanstrengung nur noch hysterisch kichern kann, denkt man ähnliches. Aber am Abend, da sitzt man dann mit einem Bier in der Hand vor irgendeiner Hütte, blickt mit angenehm leerem Kopf auf leuchtende Gipfel und denkt das, was die Partybesucher am nächsten Morgen auch denken: Mann, was waren wir durch den Wind/im Eimer/besoffen, und hey, was haben wir mit nacktem Hintern getanzt/Gipfel gestürmt/uns auf der Herrentoilette die Kante gegeben/den Vorstoß in spirituelle Dimensionen gewagt. Letzteres geht in beiden Fällen, also auf Partys und Bergtouren. Es gibt ja Leute, die behaupten, in der Einsamkeit der menschenleeren Natur auf Gott zu treffen. Und ich finde das gut, denn es ist ein Gott, der nichts von mir will.

Eigentlich wollen Götter ja immer irgendwas. Zumindest fällt mir keine Religion ein, deren Gott zum Menschen sagt: Macht, was ihr wollt, es ist mir gepflegt egal. Götter machen Vorschriften. Immer soll man irgendwas anziehen oder nicht anziehen oder sich einen Bart wachsen lassen oder die Beine rasieren oder irgendein Körperteil abschneiden oder irgendwo hinfahren und sich da in den Staub werfen oder zu einer bestimmten Tages- oder Jahreszeit irgendwas nicht essen oder ein Tier schlachten oder weiß der Geier was. Wenn man sich mal in das subjektive Empfinden der anderen Seite versetzt (als Filmemacher und als Mensch sollte man das können), dann offenbart sich eine gewisse Lächerlichkeit solcher Götter. Da bist du also Gott, hast vor 20 Milliarden Jahren ein ganzes unendliches Universum mit Millionen Milliarden von Sternen erschaffen (oder meinetwegen vor 4000 Jahren intelligent designt), dann ist da auf diesem winzigen Planeten diese eine Spezies, die in tausende Völker und Religionen zerfällt, und du bestehst darauf, daß eine dieser Splittergruppen donnerstags keine Brezeln ißt oder siebenmal am Tag im Kopfstand betet, während alle anderen Splittergruppen sich leider irren und einen Gott anbeten, den es gar nicht gibt? Im Ernst? Nix besseres zu tun? Dann doch lieber der schweigende Gott der Bergwelt oder des Party-Deliriums. Natürlich geben Religionen auch ganz lebenspraktische Hinweise zum zwischenmenschlichen Verhalten, die sind aber auch ohne Religion zu haben, das nennt sich dann „Ethik“, da kommt man mit etwas Nachdenken auch selber drauf. Aber wenn sinnfreie Vorschriften zu irgendwelchen Ritualen und heiligen Handlungen gemacht werden, kann man fast sicher sein, daß da irgendein Gott im Raum steht, ob man ihn nun so nennt oder nicht. Also sollte man ihn identifizieren und dann ganz in Ruhe entscheiden, ob man ihn okay findet oder nicht.

Mein Gott! Was schwafle ich hier von Gott! Muß wohl an der Grippe liegen. Die Grippe schlägt in der zweiten Berlinale-Hälfte so sicher zu wie das Amen in der Kirche. Kann man die Uhr nach stellen. Bin zuhause geblieben, heute also keine Meinungen zu Filmen oder Kapitulationen vor der Inhaltswiedergabe. Der Berlinale-Aspekt diese Blogs wird zugegebenermaßen heute stark verwässert. Ich habe furchtbar viel Zeit, dieser Text wird furchtbar lang. Die Filme, die ich heute gucke, sind dafür eher kurz. Das Internet ist mittlerweile voller toller Video-Essays, in denen Filmliebhaber, meistens Amerikaner, kenntnisreich und unterhaltsam über alle denkbaren Aspekte der Filmkunst berichten. Hier zum Beispiel einer, der sagt: Computeranimation sieht beileibe nicht immer scheiße aus, sie sieht vielmehr oft so gut aus, daß sie völlig unbemerkt an uns vorbeizieht, wir erkennen nur die schlechte und denken darob, sie sei immer schlecht. Oder, auch toll auf Youtube: Dokumentarische Filmschnipsel aus allen Teilen der Welt, in denen irgendwas schrecklich schiefgeht oder spektakulär gelingt. Der Kenner kennt sie unter dem Namen „Failvideos“, das Genre genießt einen zweifelhaften Ruf, irgendwo zwischen Ballerspiel und aufblasbarem Todesstern, aber ich finde es großartig. Diese schnellen, unsentimentalen Einblicke in das, was mir der gleichnamige Film nicht so richtig gezeigt hat, nämlich das Leben der anderen! Und dieser gnadenlos funktionale Schnitt! Es geht immer nur um den entscheidenden Moment und die paar Sekunden davor, die man braucht, um zu kapieren, wo man ist. Und dann noch den Aufprall und den Schmerzensschrei. So muß man Filme machen.

Da habe ich mich jetzt frei an einen Punkt assoziiert, von dem es gar nicht so leicht ist, sich irgendwohin weiterzuassoziieren. Macht nix, denn auch wenn man sich in die Sackgasse manövriert hat, kann man notfalls immer da weitermachen, wo man sowieso schon ist, nämlich beim deutschen Film. Es wird in diesen Tagen allenthalben geklagt über die mangelnde Präsenz deutscher Filme in der Festivalwelt, jetzt sogar bei der Berlinale. Gleichermaßen wird geklagt über die mangelnde Präsenz von Frauen in der Filmwelt. Finde ich beides gut. Also die Klagen. Vielleicht könnte man beides mit einer Quote regeln. Oder mit einer Qualitätsoffensive. Oder sowohl als auch. Du Zyniker, du Arsch, höre ich sie schon anheben, die innere Frauenstimme, doch mit männlicher Entschlossenheit verbiete ich ihr sogleich den Mund und erwidere: Laß mich doch erstmal ausreden! Das einzige, was mich wirklich interessiert, sind die wirklich radikalen Filme (dazu gehören auch die radikal guten Mainstreamfilme), und um solche hierzulande herzustellen, also gegen die Trägheit der Apparate und die eingerosteten erprobten Rezepte, dazu kann jede Hilfestellung nur willkommen sein, und sei es ein amerikanischer Kritiker, der uns alle in Bausch und Bogen ins Mittelmaß schreibt. Ob die Filmemacher dann Männer oder Frauen sind, ist mir egal, denn der Künstler oder die Künstlerin hat gefälligst seine bzw. ihre Biologie zu transzendieren und das Universelle in Stein und Marmor zu meißeln. Amen. Und wenn nur Männer Filme machen, heißt das ja offensichtlich, daß die Weiber einen Tritt in den Hintern, nein, Verzeihung, jede Form von Unterstützung benötigen, daß der Apparat, der Frauen am Fortkommen hindert, also einen Tritt in die Eier verdient hat.

Ha! Schon wieder dieses Kokettieren mit der Sprache des Sexismus! Und sich gleich darauf die Hände in Unschuld waschen! – Ja, verehrte Leserschaft, anders geht‘s nicht! Wenn Sie es politisch korrekt wollen, dann lesen Sie doch den „Freitag“! Bei der politischen Korrektheit haben wir die unschöne Situation, daß eine fragwürdige Sache übertroffen wird von der Schlimmheit ihrer Feinde. Der von mir innigst verehrte Max Goldt sagte mal, die „Anti-PC-Giftknilche“ seien das allerschlimmste, und recht hat er, wie immer. Als Mensch, der wie ich in einer politisch korrekten Filterblase lebt, kennt man natürlich längst das Argumentationsmodell „ich bin ja kein, aber“. Auch wenn man niemanden kennt, der so argumentiert, dann kennt man es aus seinen zahlreichen öffentlichen Schlachtungen. Ich habe da nichts hinzuzufügen, nur umzudrehen, ich sage jetzt hiermit feierlich:
Ich bin ja kein Feminist, aber.

Also, ich bin ja kein Feminist. Ich habe etwas gegen hysterische Shitstorms, gegen Symbolpolitik, generell gegen die strunzdumme Lagerbildung in den „sozialen Medien“, wo Leute sich gegenseitig ihre ohnehin übereinstimmenden Meinungen in die Timeline schreien und sich wahrhaftig einbilden, damit ließe sich irgendwas erreichen. Und vor allem habe ich ganz entschieden etwas dagegen, wenn Leute die Kunst in ihre politische Agenda zwängen und beschneiden und zensieren wollen. Kunst muß Dämonen heraufbeschwören und den Konsens hinterfragen dürfen. Kunst ist keine Bauanleitung fürs Leben. Oft eher im Gegenteil. Wenn irgendwer von feministischer Seite beshitstormt wird, beispielsweise die Band Wanda oder die Autorin Ronja von Rönne oder das Zusammenwirken der beiden in einem Musikvideo, dann ist das für mich oft überhaupt erst ein Hinweis, daß da irgendwas interessant sein könnte. Schlachtet mich jetzt meinetwegen, ich erwidere mit Wanda: Es ist egal, ob wir heute in die Kirche gehen oder ins Spital.

Aber!

Alles, was man sagt, bevor man „aber“ sagt, ist irrelevant, das habe ich mal aus irgendeinem Film gelernt. Hinter dem „aber“ kommt nämlich erst das, was man eigentlich sagen wollte. Also, ich hole erstmal etwas weiter aus: Ich bin kein Mann, sondern ein Marsmensch. Klingt komisch, ist aber so. Wenn irgendwer mich als „Mann“ bezeichnet, möchte ich immer impulsiv protestieren. Nicht weil ich mich für eine Frau halten würde, sondern weil ich das als primäres Merkmal irgendwie entwürdigend finde. Dabei stehe ich keineswegs auf dem Standpunkt, das sei alles nur ein soziales Konstrukt, so wie ein Reisepaß oder der Bundestag. Nö, wir sind schon Säugetiere. Aber wir haben da dieses Ding namens Zivilisation, das besteht größtenteils darin, unsere Säugetiernatur in ihre Schranken zu weisen. Jeder, wirklich jeder halbwegs interessante Mensch, den ich kenne, hat zahllose interessante Eigenschaften und Facetten, und die Eigenschaft Mann bzw. Frau kommt da immer eher weit hinten. Seine Geschlechtsidentität in den Vordergrund spielen, den Mann rauskehren oder die Frau raushängen lassen, das ist wie Nationalstolz, also was für Leute, die sonst nicht so viel zu bieten haben. Es reicht schon, wenn man Mann oder Frau oder Deutscher ist, man muß nicht noch darauf herumreiten. Hinzu kommt, daß man, wenn man sich im Schlamm der Künste suhlt, eigentlich nie Mann oder Frau ist, sondern vor allem Kind. Und außerdem bin ich ein Marsmensch. Das basiert auf einer Empfehlung des amerikanischen Psychologen Eric Berne, der in der 60er Jahren ein paar hochspannende Bücher schrieb. Der schrieb, man solle die Dinge vom „martian view“ aus betrachten, also vom Standpunkt eines Marsmenschen, der von den ungeschriebenen Regeln und Ritualen unserer Gesellschaft keine Ahnung hat und dadurch einfach das wahrnimmt, was sich tatsächlich meßbar abspielt. Die Empfehlung fiel bei mir auf fruchtbaren Boden, denn so hatte ich mich sowieso schon immer gefühlt.

Wenn man also ein Filmfestival mit den Augen eines Marsmenschen betrachtet, dann wird einem auffallen, daß die eine Hälfte der Teilnehmer sich unauffällig schwarz kleidet und Pinguinen gleicht, während die andere Hälfte sich in fragiles, funktional fragwürdiges Schuhwerk zwängt, sich in alle Arten von kostbaren Gewändern kleidet, auf den roten Teppichen auf- und abstolziert und im Extremfall aussieht wie ein Bonbon, das ausgepackt werden möchte. Machen die das freiwillig? Oder ist da irgendein unsichtbarer Gott, der das von ihnen verlangt?

Hurra, da hätten wir ihn endlich geschlagen, den Bogen. Eigentlich habe ich den ganzen Exkurs zu Gott vorhin ja nur gemacht, um jetzt darauf zurückzukommen. Im folgenden werde ich jetzt ein wenig mansplainen. „Mansplaining“ ist ein feministischer Kampfbegriff, ein Konstrukt aus „man“ und „explaining“, es beschreibt also Männer, die Frauen von oben herab irgendwelche Sachverhalte erläutern. Als Wortspiel finde ich es handwerklich ziemlich mißglückt, vom Sachverhalt aber gerechtfertigt, auch wenn es wie alle Kampfbegriffe zum Mißbrauch verleitet, denn im Zweifelsfall kann man jeden, der überhaupt irgendeine Meinung äußert, des „mansplainings“ beschuldigen, sofern er ein Mann ist. Jammern ist da natürlich die verkehrte Antwort, man muß sich den Vorwurf kreativ aneignen, daher wird jetzt voller Stolz gemansplaint.

Also, wir befinden uns auf dem Empfang einer großen deutschen Filmförderungsgesellschaft. Neben mir sitzt Lea van Acken, für die ich, seit wir miteinander „Kreuzweg“ gedreht haben, nicht nur große Freundschaft hege, sondern auch ein wenig väterliches Verantwortungsgefühl, selbst wenn das vielleicht doof und unnötig sein sollte. Ist halt so. Lea berichtet über die Unbequemheit ihrer Schuhe und daß sie die jetzt ausgezogen habe. Ich streiche mir daraufhin gravitätisch durch meinen Karl-Marx-Patriarchenbart, falte gütig die Hände über meiner respektablen Wampe und sage: Mädel, jetzt hör mir mal gut zu, du naives junges Ding, ich erklär dir jetzt die Welt. Der Blick des Kinos auf selbige ist nämlich immer noch ein primär männlicher. In der Überzahl der Filme ist der Mann die aktive Person, das Subjekt zum Andocken und Mitgehen, und die Frau ist die Trophäe. Also das, was erobert wird. Der Preis, den der Held am Ende erringt. Und das spiegelt sich in den Ritualen der Festivals. Jede Festivität ist letztendlich wie ein Theaterstück, das für einen imaginären Zuschauer aufgeführt wird. Im Theater glaubt ja keiner daran, daß das Geschehen auf der Bühne wirklich stattfindet. Es gibt eine unsichtbare Zuschauerinstanz, deren Blick man symbolisch einnimmt. Und dieser Blick ist hier und jetzt männlich, denn er richtet sich auf die Frauen. Frauen brezeln sich auf und präsentieren sich und lassen sich angucken, weil sie denken, es würde von ihnen erwartet. Wird es auch, aber weißte was? Scheiß drauf. Wenn du zwölf Zentimeter hohe Schuhe und Seidenkleider und irgendwas glitzerndes anziehen willst, kein Problem, laß es krachen. Wenn nicht, dann geh in Turnschuhen. Es gibt hier keinen unsichtbaren Gott, der sagt, daß Frauen irgendwie herumzulaufen haben. Oder vielmehr: Es gibt ihn, aber er ist so menschengemacht wie jeder Gott, wir schulden ihm weder Anbetung noch Gehorsam, wir können ihn modifizieren und neu erfinden. Denn es geht ja übrigens gar nicht darum, den männlichen Blick auszulöschen oder zu neutralisieren. Nein, es geht darum, ihn zu ergänzen, zu konterkarieren, auf den Kopf zu stellen oder zum Tanzen zu bringen. Der Blick eines Films kann noch so männlich sein, es ist trotzdem schon viel gewonnen, wenn die Frauenfiguren gefühlvoll zu Ende gedacht sind und ein würdevolles Eigenleben haben, anstatt nur Babes aus der Schablone zu sein. Die wirklich coolen Männer respektieren Frauen als Menschen, nicht als Kleiderständer auf wackligem Schuhwerk, also bilde dir nicht ein, von dir würde irgendwas erwartet, sondern definier deine eigene Version von großer Abendgarderobe, und wenn es ein Faß ohne Boden ist. Ich als hoffnungslos in 60er-Jahre-Psychologiebüchern steckengebliebener „Mann“ freue mich über wirklich jede Frau, die in Sneakers auf Filmpremieren herumhüpft. Denn es ist jedesmal ein kleiner Tritt in den Hintern oder vielmehr in die Eier des imaginären Gottes, der hier die Regeln macht und der ein sexistischer alter Sack mit einem komischen High-Heels-Fetisch ist. Außerdem sehen Turnschuhe doch oft viel besser aus. Finde ich persönlich. Es geht es ja nicht darum, scheiße auszusehen und in Sack und Asche und Burka aufzutreten. Au contraire, Mademoiselle. Und schließlich sind die wirklich coolen Leute weder Mann noch Frau, sondern erstmal Marsmensch.

Soweit mein Mansplaining-Monolog. Hinterherschieben könnte man noch die Geschichte von einer Freundin meiner Freundin, die sich bei der Servicefirma bewarb, die das Einlasspersonal im Berlinale-Palast stellt. Der Chef besah sich das junge Gemüse und sagte zu ihr: Bei dir müssen wir noch was machen. Entweder hohe Schuhe oder Hochsteckfrisur. Man muß dazu wissen, daß die Person, um die es hier geht, nicht nur unfaßbar hübsch ist, sondern auch zahlreiche Sprachen spricht und nicht auf den Mund gefallen ist. Also erwiderte sie, sinngemäß: Ich soll hier zwölf Stunden am Tag dekorativ herumstehen, und du verlangst von mir, daß ich das in unbequemen Schuhen tue?
Der Chef erwiderte: Die Berlinale ist ein Bilderfestival.
Daraufhin die erwähnte Person: Sie können mich mal, ich kündige.

Ein Hoch auf diese Person! Sie lebe hoch, und zwar in flachen Schuhen.

Später spricht sich dann herum, daß auf der Party einer Produktionsfirma, die so heißt wie der römische Kaiser, der das Christentum erstmals tolerierte, eine Stripperin aufgetreten sei, also eine Dame, die ihren Lebensunterhalt damit verdient, vor den Augen anderer Stück für Stück ihre Oberbekleidung abzulegen. Diese bewußt sachliche Formulierung möge meiner Irritation Ausdruck verleihen. Ich persönlich finde keinen großen Gewinn in der Betrachtung solcher Darbietungen, und ich finde Männer, die es tun, immer ein bißchen eklig. Warum eigentlich? Vor Jahren, als ich noch Musikvideoregieassistent war, erschien auf einer Musikvideoproduktionsfirmenfeier, die in einer großen Autowerkstatthalle stattfand, auch eine Stripperin. Ein Musikvideoregisseur, dessen Durchbruch mit Bushido-Videos damals noch bevorstand, drehte sich zu mir um und lallte, denn er war schon ein wenig betrunken, sinngemäß ungefähr folgendes: Ich finde, wer sich das nicht anschaut, ist doof, das ist doch einfach ästhetisch, Mann ey.
Habe ich also keinen Sinn für Ästhetik?
Was man auch oft findet, ist das Argument der Uneigentlichkeit. Zahlreiche Musikvideokonzepte oder Werbespotideen habe ich schon gelesen, die verkündeten, man werde sich charmant-ironisch über Geschlechterklischees lustig machen, es werde überspitzt und gebrochen, aber wenn man hinterher das fertige Produkt sah, war es einfach nur sexistischer Müll, wo Frauen in weltweit verständlicher Körpersprache sagten: Fick mich. Von Überspitzung oder Brechung keine Spur.
Oder habe ich einfach keinen Sinn für Ironie?

Oft hilft es ja, die Betroffenen einfach selber zu fragen, ob sie sich betroffen fühlen. Wäre ich auf einer Party mit einem männlichen Stripper konfrontiert und der unvermeidlichen Horde an kreischenden Frauen, zu der das führt, dann würde ich aus bereits erwähnten Gründen das Weite und angenehmere Gesellschaft suchen, mich persönlich aber nicht besonders destabilisiert fühlen. Aber weil Männer eben keine Frauen sind, was man auch in der Kriminalstatistik unter „Vergewaltigung“ nachlesen kann, ist es doch noch was anderes. Kurze Spontanumfrage unter Menschen, deren Urteil ich respektiere und die nebenher Frauen sind. Meine (leider längst verstorbene) Oma kreischt: Ne Stripperin? Geil! Wieso war ich da nicht? Aber da ist sie die einzige, alle anderen sind irritiert. Meine Freundin macht ein ungeniertes Gedankenexperiment: Ihr würdet doch auch nicht zehn kleine Negerlein im Baströckchen auf der Theke tanzen lassen, oder? Und dann den Leuten, die sich beschweren, auf die Schulter hauen und ins Ohr schreien, sie sollen sich mal locker machen?

Ich finde diesen Vergleich sehr gut, denn wie jedes gute Gedankenexperiment umzingelt er das Problem. Also mansplaine ich noch ein bißchen weiter und erkläre meiner Freundin, warum sie recht hat. Ich folge da zunächst der Argumentation des weißen, männlichen, höchstwahrscheinlich heterosexuellen Philosophen Robert Pfaller, der sagt: Es gibt beim Feiern ein unausgesprochenes Gebot. Pfeif auf die erwachsene Vernunft und feiere mit! Wer mit einem Mineralwasser und sauertöpfischem Blick in der Ecke steht, ist ein Spielverderber. Kombiniert man das mit dem anonymen Betrachter (ebenfalls bei Pfaller geklaut), für den hier ein Schauspiel namens „Party“ aufgeführt wird, dann hat man (glaube ich) den Übeltäter am Kragen gepackt. Also, wenn auf einer Feierlichkeit eine Darbietung geboten wird, dann ist es verdammt nochmal geboten, sich daran zu erfreuen. Wer es verweigert, ist ein doofer Spielverderber. Ich bin verpflichtet, die Perspektive des imaginären Zuschauers einzunehmen, für den das Schauspiel aufgeführt wird. Das heißt in diesem Fall, daß ich mich in die Menge zu stellen und zu denken habe: Scharfe Alte, heißes Gerät, geile Titten! Andernfalls bin ich halt ein spaßfeindlicher Spielverderber. Und wie immer, wenn man vor eine unmögliche Wahl gestellt wird, bei der man nur verlieren kann, sollte man dem Gegenüber mit männlicher Tatkraft eine reinhauen und abhauen. Oder gar nicht erst hingehen! Ich war ja auch gar nicht da! Ich war ja noch nicht mal eingeladen. Wahrscheinlich werde ich da auch nie eingeladen. Jetzt erst recht nicht mehr. Ist mir aber egal. Als Marsmensch habe ich da eh nix zu suchen.

Anscheinend bin ich doch Feminist, zumindest wenn ich diese Checkliste lese. Komisch, ich dachte immer, das hieße „Gentleman“. Ein echter Gentleman behandelt Frauen einfach auch nur wie Menschen und kann nonchalant die verschiedenen Stockwerke des Menschseins parallel bespielen. Er hat Humor, redet sich nicht in Rage, haut nicht auf den Tisch und bricht keinen Atomkrieg vom Zaun. So sollten wir alle sein. Nebenher können wir dann ja immer noch Männer oder Frauen sein. Oder, idealerweise, Marsmenschen.

Berlinale, Tag 7 – Mein Kino ist kaputt

Vor ungefähr 16 Jahren hatte ich mal eine Idee für einen Kurzfilm: Zwei Leute finden heraus, daß die ganzen Windmühlen, mit denen Deutschland so nach und nach vollgestellt wird, in Wahrheit gar nicht vom Wind angetrieben werden, sondern vielmehr umgekehrt. Es handelt sich da um eine Verschwörung. Die Windräder funktionieren wie Propeller, die ein Flugzeug antreiben, sie beschleunigen die Erdrotation, woraufhin die Erde sich immer schneller dreht und wir alle immer weniger Zeit haben. Unsere zwei Helden ziehen also in einen Kampf gegen Windmühlenflügel, während ihnen buchstäblich die Zeit davonläuft. Den Film habe ich dann nie gemacht, aber was mir an der Idee immer noch gefällt, ist die Verwechslung von Ursache und Wirkung und der darin wohnende Wahnsinn.

Nach einer Woche Berlinale weiß ich auch nicht mehr so genau, was Ursache und was Wirkung ist, und irgendwo wohnt der Wahnsinn. Man sieht ja normalerweise nicht das, was man sieht, sondern das, was man weiß, weil der Kopf von vornherein einen Filter auf die Wahrnehmungen legt, und das ist auch gut so. Ich treffe meinen lieben Freund Andrew Bird, genannt Birdy, der einen Film für einen Regisseur namens Omer Fast geschnitten hat, und stelle die wahnsinnig naheliegende Frage: Is it a fast film? Birdy ist auf diese Koinzidenz tatsächlich noch gar nicht gekommen, bei ihm funktioniert der Filter noch, meiner ist im Eimer. Ich sehe, daß an der Tafel hinter irgendeiner Bar „Erdinger“ steht, und lese: Eidinger. Ich unterhalte mich mit Fernsehredakteuren über einen Kollegen, der mit Vornamen Burkhardt heißt, und höre mich sagen: Eigentlich interessant, daß dieser ehrwürdige deutsche Vorname klingt wie ein afghanisches Vollverschleierungskleidungsstück. Die Wahrnehmungen, sie zerfallen mir im Kopf wie modrige Pilze. Und ich erkenne niemanden mehr. Also wirklich niemanden. Auf einer Party steht plötzlich eine gutaussehende Dame im besten Alter vor mir und begrüßt mich mit großer Herzlichkeit. Ich komme kurz ins Grübeln: Wir sollten uns kennen, nicht wahr? Ja, erwidert die Dame, ich bin deine Mutter. Dann spricht mich eine wunderhübsche blonde junge Frau an und behauptet, sie wäre meine Schwester Anna. Ich kann mich dunkel an sie erinnern. Sie erzählt von zahlreichen Schauspielkollegen, die zu ihr kommen und sagen: Du, sag mal, dein Bruder, der mag mich nicht, oder? Doch, ich mag euch alle heiß und innig, ich habe nur einfach keine Ahnung, wer ihr seid. Nehmt es als Kompliment, denn den Glöckner von Notre Dame, den Sänger von Rammstein oder den Elefantenmensch würde ich jederzeit wiedererkennen. Der Sänger von Rammstein lief übrigens auf der gestrigen Party herum, hat mich aber nicht erkannt, obwohl ich vor 12 Jahren mal Regieassistent bei einem Rammstein-Video war. Ich bin ihm nicht böse. Aber mir sind sie böse. Tolle Leute, mit denen ich schon bestens zusammengearbeitet habe, stehen vor mir wie Fremde und gucken mich vorwurfsvoll an. Und wenn sie dann noch stark zu- oder beträchlich abgenommen oder sich irgendwelche Frisurvarianten zugelegt haben. Da hat man doch gleich gar keine Chance mehr. Es ist ein Grauen. Wenigstens weiß ich noch, wovon meine eigene Arbeit handelt:

My work explores the relationship between gender politics and copycat violence. With influences as diverse as Wittgenstein and John Lennon, new tensions are created from both orderly and random discourse. Ever since I was a teenager I have been fascinated by the ephemeral nature of relationships. What starts out as triumph soon becomes corroded into a manifesto of distress, leaving only a sense of chaos and the chance of a new understanding. As subtle forms become reconfigured through boundaried and critical practice, the viewer is left with a clue to the darkness of our culture.

Das habe ich allerdings nicht selber geschrieben, so etwas kann man sich im Internet automatisch generieren lassen. Bis vor wenigen Jahren war ja das herrschende Narrativ, also das allgemeine Gequatsche, in das Kulturschaffende verfallen, wenn man sie nach ihrer Arbeit fragt, vorwiegend geprägt von Begriffen wie Zersplitterung, Fragmentierung, Risse, Brüche, Spalten, Löcher, Ende der großen Erzählungen. Das hat sich für mein Gefühl in den letzten Jahren ein wenig geändert, das typische Künstlerbekenntnis handelt heute eher von ich, ich und ich, Transformation des Selbst, Metamorphosen, fluiden Identitäten und derlei mehr. Ich kann mich mit beidem komplett identifizieren, meine großen Erzählungen sind auch beendet, die Wahrnehmungen sind zersplittert, und meine Identität fließt mal hierhin, mal dorthin. Übrigens wurde bei der Erzählung vom Ende der großen Erzählungen ja immer verschwiegen, wie sie denn nun eigentlich enden, die Erzählungen. Ist es ein trauriges, ein fröhliches oder gar ein offenes Ende? Oder eher so wie das Nicht-Ende, das sich ergibt, wenn man den Film vorzeitig verläßt?

Ich gehe mal wieder in der Retrospektive: „Preis der Freiheit“, ein Fernsehfilm von 1966. Es geht irgendwie um Grenzsoldaten auf beiden Seiten der Grenze. Ich kapiere: Nichts. Wer sind jetzt die Ossis und wer die Wessis? Warum fährt die NVA mit einem Jeep herum? Wer will was von wem? Irgendwo lauert da eine große Erzählung, ich beende sie und gehe raus, weil ich schon wieder eine Karte für einen anderen Film habe: Zero Days, ein Dokumentarfilm über einen Computervirus, läuft im Wettbewerb. Auch hier wieder eine Welt, die in digitale Fragmente zerfällt. Der Film knallt ordentlich. Amerikanische Dokumentarfilme scheren sich einen Dreck um das Ende der großen Erzählungen, die machen aus jedem Sujet einen Thriller. Ich muß aber auch hier leider wieder früher raus, weil ich schon wieder woandershin muß. Die Berlinale geht in den Kiez. Im Union Kino in Friedrichshagen läuft das Fragebuch der Anne Tank, nee, umgekehrt, Verzeihung, und da spielt die entzückende Lea van Acken die Hauptrolle. Ich habe Lea seinerzeit „entdeckt“ und darf deswegen eine kleine Einführungsrede halten. Das Kino ist wunderschön. Ich möchte in ruhigeren Zeiten mal eine kleine Rundreise durch Berliner Kiezkinos machen. Es gibt hier sogar eine Raucherkabine im Kinosaal: Zwei alte Sofas, davor eine Glaswand. Der Anblick erinnert ein bißchen an diese Hinrichtungszuschauerkabinen in Filmen, in denen man drinsitzt und dem Tod bei der Arbeit zusieht. Auch hier im Kiezkino haben wir es wieder mit postmoderner Zersplitterung zu tun: Ich bin da, Lea ist ganz woanders, die mußte nämlich wieder zur Schule gehen. Auf die Lea-van-Acken-Entdeckung bilde ich mir übrigens nicht so wahnsinnig viel ein, Lea hat sich selber entdeckt, ich mußte nur zugreifen. Wenn ich jemanden entdeckt habe, dann zum Beispiel Heiner Hardt, der war nämlich schon 50, als ich ihn kennenlernte, und den besetze ich stur und gnadenlos in jedem Film, bis Deutschland endlich mal merkt, was für ein toller Schauspieler das ist. Schauspielerkarrieren sind mir sowieso ein völliges Rätsel. Am Anfang sehe ich gute und schlechte Leute, die gehen dann in eine Art Black Box hinein, was in dieser Box passiert, ist völlig unklar, heraus kommen erfolgreiche und erfolglose Schauspieler, die gleichmäßig aus den guten und schlechten, den interessanten und den langweiligen durchmischt sind. Einige werden irgendwann „entdeckt“, andere nicht. Wer, warum und wie? Keine Ahnung.

Hergekommen bin ich mit einem Berlinale-Fahrer in einem makellos nagelneuen Audi, bei dem die Sitze so computeranimiert sauber sind, daß man Angst hat, sich draufzusetzen. Wohl aufgrund der allgemeinen Fragmentierung ist der Fahrer dann aber versehentlich ohne mich wieder weggefahren, also geht es mit dem Taxi zurück. Die Taxifahrerin fährt seelenruhig über eine knallrote Ampel. Ich sage: Das war ja knallrot. Sie erweist sich ebenfalls als Expertin für Ursache-Wirkungs-Vertauschung und erwidert: Nee, ich fahr nur bei Grün, also war die Ampel grün.

Abends dann eine persönliche Premiere. Alle gehen immer ins Borchardt. Ich war noch nie im Borchardt. Eine gleichermaßen große und sympathische Produktionsfirma (doch, das gibt es) lädt zum Essen ein, und zwar ins Borchardt, also gehe ich endlich mal ins Borchardt. Im Borchardt sitzen schon sehr viele Leute, das sind wahrscheinlich alles Promis, aber ich erkenne sie nicht, weil ich ja eh niemanden erkenne. Außerdem ist es irre laut im Borchardt. Solche Läden sind auf visuelle Beeindruckung angelegt, majestätische Blickachsen und raumgreifendes Raumgefühl, das führt dann andererseits zu Bahnhofshallenakustik. Wir schreien uns die ganze Zeit an. WAS MACHEN SIE BERUFLICH? brülle ich meiner Nachbarin ins Ohr. ALLERDINGS! brüllt sie zurück. MAGST DU NOCH EINE AUSTER? kreischt es von gegenüber über den Tisch. SEHR GERN! schreie ich. Das ist natürlich maßlos übertrieben. Ohnehin darf man den Wahrheitsgehalt dieses Tagebuchs nicht überschätzen. Ich bin jetzt so eine Art Klatschkolumnistin geworden, das ist eine Rolle, die ich mir gern anziehe, aber ich muß darauf hinweisen, daß ich eigentlich die ganze Zeit nur über mich selber schreibe. Wenn doch mal andere Leute auftauchen, dann habe ich sie zu literarische Figuren verfremdet (außer den Gregors im gestrigen Beitrag, die sind unverfremdbar). Auch meine Freundin, die hier gelegentlich auftaucht, die habe ich mir eigentlich nur ausgedacht, und die echte hat mit der ausgedachten nix zu tun.

Meine beiden Freundinnen, also die echte und die ausgedachte, haben vor einiger Zeit mal auf der Berlinale gearbeitet und Tickets gescannt, und eines Tages sagten sie den unsterblich schönen Satz:
Mein Kino ist kaputt.

Ja, das Kino, vor dem sie stand und Karten kontrollierte, war kaputt. Und so etwas geht überhaupt erst seit einiger Zeit. Früher, da konnte vielleicht mal ein Film reißen, eine Lampe durchbrennen oder eine Filmkopie in den Orkus fahren, aber das ganze Kino ging kaum kaputt. Mein bisher bleibendster Beitrag zur Filmgeschichte ist, daß ich als Vorführer beim Filmfest München 1999 eine Kopie eines Films namens „Pola X“ vernichtete. Es war nachts um drei, ich baute den Film ab, wie man damals sagte, also ich spulte im Halbschlaf die einzelnen Akte vom Teller, anscheinend fuhr ich etwas zu schnell, dann geriet der Teller ins Vibrieren, es tat einen Schlag, und drei Kilometer Film flogen mir um die Ohren. Filme konnten also schon immer kaputtgehen, Kinos erst neuerdings. Da kommt der Vorführer morgens an den Arbeitsplatz und will sich in den DCP-Server einloggen, geht aber nicht, keine Zugriffsrechte, nix zu machen. Anscheinend hat sich nachts irgendwer mit höheren Zugriffsrechten eingeloggt und die Möbel umgestellt. Oder es war der Computervirus aus dem amerikanischen Wettbewerbsfilm. Oder die Heinzelmännchen. Oder irgendwas. Dann setzt sich in London ein Techniker ins Flugzeug und in München ein Spezialist in den Zug und man schafft ein Ersatzteil aus Los Angeles herbei und schleppt einen Ersatzserver in den Vorführraum und muß dafür erstmal die Tür ausbauen. Das war früher einfacher. So richtig postmodern zersplittert ist die Welt erst, seit alles digital ist.

Ich bin ja übrigens kein Zelluloid-Nostalgiker. Steven Soderbergh erwiderte mal auf die Frage, ob er 35mm vermißt: In den 60ern und 70ern, da gab es eine kreative Freiheit und einen Enthusiasmus und Aufbruchsstimmung, das ist heute alles verschwunden, das vermisse ich schmerzlich, aber doch nicht diese alten Filmbüchsen. Ich finde, das hat er gut gesagt. Letzten Endes ist es egal, und in 1000 Jahren ist eh alles weg. Was nicht egal ist, sind die Leute, die daran hängen. Wenn an jedem DCP-Server ein Nerd sitzen würde, der komische Klamotten trägt und sich seltsame Scherzpostkarten in den Vorführraum hängt und alle Filme kennt und Witze macht, die nur er versteht, dann fände ich das toll. Aber genau dieses Soziotop wurde von der Digitalisierung weggefegt, und das finde ich schade. Genau wie die Videotheken, das waren greifbare Orte, an denen Film als Alltagskultur stattfand. Der Zelluloid-Nostalgiker Quentin Tarantino war vor seiner Regiekarriere Videothekar, und wenn aus den Millionen Videotheken der Welt alle zehn Jahre ein Tarantino entspränge, dann hätte sich die Sache doch gelohnt. Dabei bin ich ja selber noch nicht mal ein besonderer Tarantino-Fan, aber ohne ihn würde was fehlen, und ohne Videotheken und Vorführraum-Nerds fehlt auch was.
Also: Schade.

Aber Nostalgie-Trip war ja gestern, heute geht es um postmoderne Zersplitterung und das Ende der großen Erzählungen. Dementsprechend ist auch dieser Text ganz und gar zersplittert. Das Wort „dementsprechend“ kann man schön falsch trennen, dann heißt es „dement sprechend“, und ungefähr so komme ich mir die ganze Zeit schon vor. Heinz Rudolf Kunze sagte, nee, sang mal: Auf der Leinwand steht nicht Ende, sondern Schluß. Ich sage: Mein Kino ist kaputt. Aber vielleicht wird ja morgen schon das Ersatzteil geliefert. Also bis morgen, liebe Leser innen und außen.

Berlinale, Tag 6 – Früher war alles früher

Alles ist in den letzten Jahren unglaublich angeschwollen beim Film. Nicht finanziell, im Gegenteil. Auch die Leute selbst, zumindest in meinem Umfeld, sind nicht wahrnehmbar dicker geworden. Aber die Gesamtmenge an Filmen, die ist angeschwollen. Tausende Filme (und acht Milliarden Kurzfilme) werden produziert, tausende von Festivals verteilen sich übers Jahr, für jedes Festival arbeiten nicht etwa tausende, sondern vergleichsweise wenige Leute, die sich Monate im Vorfeld durch die tausenden eingereichten Filme wühlen und ackern und schuften und wie in einem riesengroßen Heuhaufen nicht nach einer Stecknadel suchen, sondern nach einer ganz bestimmten Sorte von Grashalm, was bedeutet, daß man jeden einzelnen Halm ganz genau angucken muß. Es ist ein Job, den ich niemals machen könnte. Selbst wenn man die Filme bei Desinteresse nach einer Vierstelstunde herauswirft, was man natürlich tut, bleibt es eine Siysphosarbeit mit Tantalusqualen und der Frage, ob man jetzt wirklich das richtige herausgefischt hat. Man kennt ja diese Geschichten von Börsenprofis, die gegen einen Affen antreten, und am Ende hat der Affe sein Geld besser vermehrt als die Experten. Ähnlich macht es das „Random Film Festival“. Aus genau diesem Gefühl heraus, daß man der Flut des Filmschaffens mit so etwas wie „Auswahl“ nicht mehr beikommen kann, stellt dieses Festival sein Programm per Zufall aus den eingereichten Filmen zusammen und verleiht auch die Preise per Zufallsgenerator. Sogar Ort und Termin des Festivals werden ausgewürfelt. Ich war nie da, aber es muß eine tolle Veranstaltung sein. Für mich ist die Berlinale aber ohnehin eine Art Random Film Festival. Unmöglich, sich angesichts der Katalogtexte einen Reim zu machen, also guckt man irgendwas oder geht einfach nach Namen: Leute, die man schon mal gut fand, und Filme von Freunden. Der Rest ist Zufall und Retrospektive. Retro geht immer. Alte Filme sind sogar dann interessant, wenn sie eigentlich schlecht sind.

Heute ergibt sich für mich ein Retrospektivag, also eigentlich gestern, aber ich schreibe mal weiter in der Gegenwartsform. Darf man das als „Abschied von Gestern“ bezeichnen, wenn man das Gestern einfach als Heute umetikettiert? Oder wie hat Alexander Kluge das gemeint? Spricht es nicht Bände, daß meine Generation (also ich, aber es fühlt sich so toll an, „meine Generation“ zu sagen) der inhaltlichen Dringlichkeit der damaligen Generation nichts als solche postmodern-hohlen Sprachspiele entgegenzusetzen hat? Hat man nicht eigentlich die Verpflichtung, sich so quer wie nur möglich gegen die eigene Generation zu stellen, denn Kind seiner Zeit ist man ja sowieso schon, aus der Nummer kommt man im Leben nicht raus? Schweife ich ab? Ist der deutsche Film noch so toll wie damals? Damals, ja damals, da konnte man noch, da war man noch ein toller Kerl. Mein Verhältnis zu den Helden alter Tage ist zwiespältig: Wenn Leute in epischer Breite Anekdoten zum besten geben und wenn die Anekdoten am Ende nur noch aus den Namen längst vergessener Produzenten und Redakteure und Kritiker bestehen und wenn die Länge der Anekdote ins Endlose ausufert und die Fallhöhe der Schlußpointe im umgekehrten Verhältnis dazu schrumpft und das ganze dann noch im selbstgefälligen Altherrentonfall stattfindet und auf einer Bühne vor einem Auditorium, aus dem zu fliehen jetzt wirklich übelster Affront wäre, dann schaue ich in meine eigene Zukunft und rufe voll Schrecken aus: Dietrich, mir graut vor dir! Es gibt aber auch Leute, die ganz genauso auf denselben Bühnen stehen und von früher erzählen, und man will sie einfach nur liebhaben. Beim Preis der deutschen Filmkritik wurde ein Ehrenpreis an Joachim von Mengershausen verliehen. Das war so einer. Den wollte ich aus dem Publikum heraus mit zehn Meter langen Armen umarmen und habe ihn beneidet um seine Vergangenheit.

Alte Filme sind immer ein Blick auf die andere Seite, sie sind die fünfte Dimension unserer zweidimensionalen Kunst (die vierte ist natürlich der Ton, und die dritte ist natürlich 3D), sie sind ein Bick in eine andere Zeit, in andere Denkstrukturen, das finde ich ganz ganz ganz toll und könnte es mir tage- und wochenlang „reinziehen“, wie die Jugend es heute formuliert. Ein toller Zehnminüter von Michael Klier, in dem ein junger Mann über seine Autoleidenschaft räsoniert und wie das mit der Zuneigung der Damenwelt zusammenhängt und ob die reiche Tante nach dem Jaguar möglicherweise auch noch einen Ferrari finanzieren wird. Ein toller Animationsfilm, in dem ein Mann zwischen zahlreichen Linien eine Maschine baut, was als politische Parabel gemeint ist, die sich mir aber erst nach Lektüre des Begleittextes erschließt. „Katz und Maus“ von Hansjürgen Pohland, Günter-Grass-Verfilmung, in der Hauptrolle die beiden anderen Söhne von Willy Brandt, ziemlich sperrig und ziemlich lustig und von einer Freiheit des Denkens und Bildererfindes, die mich weghaut. Und die Macher dieser Filme, die sind alle eine ganze Ecke jünger als ich. Wenders drehte „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ mit 25 Jahren, also in einem Alter, in dem man sich heute an der Filmhochschule bewirbt. Godard war bei „Außer Atem“ 31. Früher war alles früher.

Abends ist dann der zweite Teil meines privaten kleinen Nostalgie-Festivals. Der Kameramann des eben erwähnten Animationsfilms lädt zum Abendessen. Der heißt nämlich Heinz Badewitz und schmeißt jedes Jahr zur Berlinale einen Abend in einer Weinhandlung im Westend, wo die Veteranen nur so herumwuseln, stundenlang könnte man jetzt namedroppen, ich droppe aber nur ein paar names, zum Beispiel Thomas Mauch, der Kameramann, der mit Werner Herzog das sagenumwobene Schiff über den ebensolchen Berg zog. Der ist immer da und ist das Gegenteil der oben beschriebenen Altherrenanekdotenschleuder, der ist trocken und knapp und lustig. Und dann meine ganz persönlichen Helden: Erika und Ulrich Gregor. Die waren schon immer dabei. Die haben alles miterlebt. Die stecken so voller toller Anekdoten (denn ich bin ja kein prinzipieller Feind der Anekdote, genausowenig wie ich ein Feind der Filmkunst bin), da sitzt die personifizierte Geschichte vor einem, die haben noch Sachen erlebt, zum Beispiel den Kulturattaché der deutschen Botschaft in Paris oder sonstwo, der bei Schlöndorffs „Der junge Törless“ empört aufstand und rief: Das ist kein deutscher Film! Oder irgendein anderer Diplomat, der zu Ulrich Gregor sagte: Ich würde sie jetzt ja zum Duell fordern, aber leider sind Sie nicht satisfaktionsfähig! Oder die frühen Tage des Berlinale-Forums, als man endlos diskutierte und im Zweifelsfall den Film ein zweites Mal sichtete. Ich, also meine Generation, also ich würde gern das gesamte erlebte Wissen dieses wunderbaren Paares irgendwie herunterladen und für die Nachwelt retten. Im „Schnitt“ hatten die Gregors mal eine Kolumne, die nur aus Anekdoten bestand, aber ach, der „Schnitt“ ging auch den Bach herunter, genau wie die Kudamm-Kinos und der Royal-Palast und 35mm und überhaupt alles und demnächst auch wir selbst, es ist so schlimm und schrecklich. Nostalgie ist andererseits völliger Mist, denn die Zeit, die man selber damit verbringt, in Nostalgie zu schwelgen, die ist ja in doppelter Hinsicht verloren, an die kann man sich später nämlich noch nicht mal nostalgisch erinnern. Ach, was waren wir damals nostalgisch, weißt du noch, im Jahr 1998, als wir von den guten alten 70er Jahren schwärmten? Eben, völliger Quatsch.

Ich bin jetzt, am folgenden Morgen, da ich den Abschied von gestern unter anderem darin zelebriere, daß ich diese Worte auf einem (auch schon wieder fünf Jahre alten) Laptop schreibe und nicht auf einer Triumph-Adler-Olivetti-Olympia, trotzdem schon wieder nostalgisch, und zwar in Bezug auf die allerjüngste Vergangenheit, also den gestrigen Abend. Das letzte Bild, das in meinem Kopf bleibt, ist die Silhouette des Ehepaars Gregor, wie sie nachts um zwei die Straße hinuntergehen, allmählich weg von unserer Gruppe, mit den langsamen Schritten, die man macht, wenn man schon seit 83 Jahren auf diesem Planeten wandelt. Eine Straßenlaterne wirft ihren Schatten zu uns hin, und je näher sie der Laterne kommen, desto größer wird der Schatten. Es sieht schon wieder aus wie ein Filmbild. Die beiden werfen ihren Schatten nicht voraus, sondern ziehen ihn hinter sich her, ein Schatten aus Jahrzehnten voller Geschichten und Menschen und längst und gefeierten und vergessenen Filmen, die wie stumme Schatten immer noch in irgendwelchen Archiven liegen, bis irgendjemand sie vielleicht eines Tages wieder herausholt und in den Projektor einlegt und das Licht ausgeht und die Schatten zum Leben erwachen.

Ach, wäre das ein tolles Ende für einen tollen Text, der Herzen öffnet und Emotionsfeelings abruft! Wie herrlich wäre es! Geneigter Leser, Sie können jetzt hier eigentlich aufhören, dann nehmen Sie wenigstens ein warmes Herz mit in die kalte Welt und schätzen mich für meine Menschlichkeit.

Immer noch da?

Okay, selber schuld. Es gibt nämlich leider noch das krasse nostalgiefreie Kontrastprogramm, auf genau derselben Veranstaltung, zwei Tische neben den großartigen Gregors. Eine geschätzte Regiekollegin schilt und schmäht mich für meine öffentliche Beschreibung des sogenannten „Lolasaufens“. Ich zeihe sie im Gegenzug der Humorlosigkeit. Mache ich natürlich nicht, ich weise nur darauf hin, daß man dann dem „Random Film Festival“ dieselben Vorwürfe machen könnte. Oder sogar den Berlinale-Sichtungsleuten, die garantiert nicht jeden Film bis zum Ende gucken. Was für eine Respektlosigkeit den Filmen gegenüber! Und den beteiligten Einzelleistungen! Nee, so schlagfertig bin ich leider auch nicht. Ich lande doch wieder bei der Humorlosigkeit. Das ganze ist doch erstens eine Parodie auf Auswahl- und Bewertungsprozesse, eine karnevalistisch-ausgelassene Feier dessen, was eigentlich verboten ist. Und darin ein Gegenmodell zum staatstragenden Ernst der Akademie, zum Durchdrungensein von der eigenen Bedeutung. Gelegenheit macht Diebe, und Pathos macht Verarschung, das sind nun mal zwei Naturgesetze. Und schließlich ist es ohnehin der Modus, in dem fast alle es machen. Zumindest weiß ich nicht, wie die Leute 30 ganze Filme in ihren ohnehin vollgepackten Alltag quetschen wollen. Jeder kickt halb geguckte Filme raus, keiner gibt es zu, aber wenn es einer zugibt und es dann sogar noch mit kreativem Mehrwert in ein lustiges Ritual verwandelt, dann muß man den natürlich aufs schärfste kritisieren. Und dann heißt es noch, ich würde mich selber drüberstellen oder rausnehmen. Da erblicke ich mal wieder eine Wortspielsteilvorlage, denn rausnehmen muß ich mich aus der Kiste nun wirklich nicht, und auch das, was gemeint ist, ist falsch, denn ich nehme mich nirgendwo raus. Jeder kann sich in meinen Filmen so langweilen oder empören, wie er will, und sie nach zwei Sekunden empört in die Ecke pfeffern. Jeder darf mit meinem Gesamtwerk Brüggemanngesamtwerksaufen spielen. Das fände ich sogar ziemlich lustig. Ja, ich fände saulustig, und zwar mit gänzlich reinem Herzen, ohne Koketterie, Tand und Eitelkeit. Soviel gesunde Distanz zum kläglichen eigenen Streben muß man als souveräner Mensch doch haben. Wenn ich die Akademie wäre, dann fände ich auch das Lolasaufen sehr lustig und würde es in den ständigen Veranstaltungskalender übernehmen. Na gut, letzteres vielleicht nicht, aber soviel gesunde Distanz zu sich selbst muß man als souveräne Institution doch haben. Wenn nicht, dann auweia.

Uff, immer diese hammerschweren Themen. Weg damit. Zurück zu Nostalgie. War schön jewesen jestern. Wird heute wieder schön. Und jetzt mal ab ins Kino.

 

Berlinale, Tag 5 – Der Film als Briefmarke auf Kniehöhe

Kino ist Heimat.
Oder, schmalziger: Kino ist ein Rückfahrticket ins verlorene Paradies. Amerikanische Hirnforscher haben nämlich herausgefunden, daß die Erinnerung an einen Film exakt in denselben Gehirnregionen abgespeichert wird wie Erinnerung an eigene Erlebnisse. Deutsche Hirnforscher haben zwar gleich danach herausgefunden, daß ich mir das nur ausgedacht habe, aber es klingt doch ganz überzeugend. Allerdings gibt es auch Filme, bei denen die Erinnerung an den Film sich deutlich von echten Erinnerungen an Selbsterlebtes unterscheidet.
Einige davon sind bei mir:

Any Given Sunday (Oliver Stone, 2000).
Der Felsen (Dominik Graf, 2002).
Unknown Identity (Jaume Collet-Serra, 2011).
Victoria (Sebastian Schipper, 2015).

Diese vier Filme (und einige andere) sind in meiner Erinnerung klein, verzerrt und auf Kniehöhe. Das liegt daran, daß ich sie im Berlinale-Palast vom zweiten Rang aus gesehen habe. Man sitzt ganz oben, der Film ist ganz unten, was eine skandalöse Umkehrung der Verhältnisse ist, denn der Film soll gefälligst auf mich herabschauen, nicht umgekehrt, und die Leinwandgöttinnen und -Götter, sie müssen überlebensgroß auf mich herabstrahlen und nicht als kleine perspektivisch verzeichnete Briefmarke irgendwo im Tiefparterre herumzappeln. Also war es mir ein Herzensanliegen, bei der Premiere von „Kreuzweg“ vor zwei Jahren fröhlich hinaufzugrüßen in den zweiten Rang und den Leuten zuzurufen: Ich weiß, wie es euch geht, ich war auch sehr oft dort oben, es ist nicht toll dort, wo ihr seid, aber um so toller, daß ihr trotzdem da seid!

Hach, ich werde nostalgisch. Ein Jahr später sitzt man dann wieder ganz oben. Oder auch ganz links außen. Nämlich da, wo sie im Friedrichstadtpalast die Zuspätkommer hinschicken. Dort guckt man dann schräg von außen auf die Leinwand, wo Julia Jentsch und Bjarne Mädel ihr zweites Kind erwarten. Wenn sie links im Bild steht, ist sie riesengroß und er winzig klein. Wenn umgekehrt, dann umgekehrt. Das halte ich nicht lange aus, ich raffe meine Sachen zusammen, hoffe, daß keine Aufpasserin mich maßregeln wird, überklettere ein Absperrseil und begebe mich ins Parkett. Dort sind zwar die Sitze steinhart und die Reihen enger als bei Ryanair, man kann hier am eigenen Leibe den medizinisch seltenen und spannenden Fall erleben, daß einem nicht nur die Füße einschlafen, sondern gleich alles vom Hintern abwärts, dafür ist wenigstens der Film schön groß, und ich bin ziemlich nah dran.

Ziemlich nah dran ist der Film aber ohnehin an seinen Leuten. Vorgestern habe ich die kategorische Forderung nach emotionaler Andock- und Mitfahrgelegenheit ja noch scharf kritisiert, heute fallen alle Schranken, und es wird nach Herzenslust angedockt und mitgegangen. Das klingt jetzt sarkastischer, als es gemeint ist. Der Film ist gut. Ich bin nicht der größte Andocker der Welt – ich möchte zwar vorn sitzen, aber emotional sitze ich nicht so weit vorn wie viele andere Leute. Ich weine auch fast nie im Kino. Ich komme nicht aus Filmen raus und bin total krass fix und alle und dehydriert und erschossen. Aber ich mag diesen Film (er heißt „24 Wochen“) trotzdem. Das wird einem ja oft nicht geglaubt. Es gibt Leute, die finden, man müsse die Wertschätzung für ein Kunstwerk durch körperliche Extremzustände unter Beweis stellen. All diesen Menschen rufe ich hiermit zu: Seid gnädig! Nicht jeder, der weniger heult als du, ist herzlos! So mancher hat nicht nah am, sondern fern vom Wasser gebaut, und doch wird ihm der Keller überschwemmt. Man sieht das dem Haus nur von außen nicht an.

Im Saal bin ich aber wohl in der Minderzahl. Die Leute kippen um. Und zwar wirklich. Irgendwann werden Rufe nach einem Arzt laut. Tumult und Getuschel. Dann geht das Licht an. War der Film so ergreifend? Oder ist vielleicht jemandem auf dem stahlharten Friedrichstadtpalastsitzen der Hintern so tief eingeschlafen, daß ein Arzt gerufen werden muß? Der Film läuft jedenfalls erstmal weiter, ziemlich lang sogar, bevor sie ihn irgendwann stoppen. Und jetzt zeigt sich ein Vorteil meiner entspannt-distanzierten Rezeptionshaltung. Die ganzen nah am Wasser gebauten Emotions-Mitgeher, die sind nämlich schlagartig weg, wenn im Saal irgendwas passiert, das noch emotionaler ist als der Film. Die drehen sich alle auf ihren Sitzen um und gucken oder machen aufgeregte Geräusche oder sind aufgewühlt und betroffen. Ich dagegen denke mir: Alles, was hier getan werden kann, wird bereits ohne mein Zutun getan. Das sinn- und respektvollste, was ich tun kann, ist einfach dem Film weiter folgen. Also tue ich das.

Im Film geht es um die späte Abtreibung eines Kindes mit Down-Syndrom und Herzfehler. Fast alle Eltern, deren Kind mit Down diagnostiziert wird, treiben ab, schon ganz ohne Herzfehler, Trisomie 21 allein reicht völlig. In meiner Verwandtschaft gab es einen Fall, bei dem die Diagnose sehr wahrscheinlich war, und die Mutter wurde von der Ärtzeschaft fast schon zum Abbruch genötigt. Sie weigerte sich, das Kind ist jetzt elf Jahre alt, will dauernd irgendwelche dämlichen Computerspiele spielen, erfreut sich aber ansonsten bester Gesundheit. Heißt alles gar nix, kann man sich ewig argumentativ dran aufreiben, bin selber mit einer behinderten Schwester aufgewachsen und finde, das muß eine Gesellschaft eigentlich hinkriegen, interessant ist aber ohnehin ein anderer Punkt, den der Film eher nebenbei abhandelt: Die wenigsten Leute, die ein Kind wegen Behinderung abtreiben, geben das hinterher zu. Die behaupten fast immer, es wäre von selber passiert. Ich finde, da liegt ein interessanter Hase im Pfeffer, den man eigentlich mal separat herausholen und braten müßte: Die Diskrepanz zwischen dem eigenen Handeln und der Erzählung, die man hinterher daraus macht.

Unser medizinischer Notfall endet dann auch mit einer Erzählung. Nach dem Film tritt jemand auf die Bühne und gibt bekannt, der Dame, die vorhin herausgetragen wurde, gehe es gut, das sei nur ein Schwächeanfall gewesen. Und ich kann mir nicht helfen, ich frage mich:  Mal angenommen, die Frau sei verstorben – würde man das auch so verkünden? Verehrte Zuschauer, die Zuschauerin, wegen der wir den Film kurz anhalten mußten, ist jetzt leider tot. Sorry. Wir haben draußen ein bißchen psychologische Betreuung organisiert. Jetzt machen wir mal eben eine Schweigeminute.

Wenn ich einen Kinosaal managen würde, in dem jemand stirbt, dann würde ich abtreiben, und wenn mein Kind behindert wäre, dann würde ich die Zuschauer anlügen. Diese doofe Vertauschung der Elemente sei ein Hinweis auf die letztendliche Sinnlosigkeit solcher Denkanstöße. Sie taugen als Anstoß für lange, tiefe, gute Lagerfeuergespräche im Pfadfinderlager. Mit anderen Worten: Als Gesellschaftsspiel. Im echten Leben ist dann eh immer alles ganz anders, viel verwirrender und irgendwas zwischen kafkaesk und bekloppt. Deswegen gehen wir ja ins Kino, da ist Erinnerung, da ist Heimat, da ist es gemütlich, ganz egal, was für schreckliche Dinge der Film schildert.

Zum Abschluß noch ein Witz, den ich aus dem heutigen Wettbewerbsbeitrag „Death in Sarajevo“ mitgebracht habe.
Ein kleiner Wurm fragt seinen Vater:
–Papa, gibt es tatsächlich Würmer, die in Äpfeln wohnen?
–Ja, mein Sohn, die gibt es.
–Papa, aber gibt es auch Würmer, die in Fleisch wohnen?
–Ja, auch die gibt es.
–Aber Papa, warum wohnen wir dann in einem Stück Scheiße?
–Mein Sohn, das ist unsere Heimat.

Berlinale, Tag 4 – Ich bin ein Dichter, ihr lieben Mäusegesichter

Ich komme nach Hause, greife zum schärfsten Küchenmesser, setze es an mein Handgelenk, direkt an die Pulsader, und ziehe einmal energisch durch. Fühlt sich jedesmal an wie Selbstmord, ist aber nur das Abschneiden des sogenannten Bändchens. Das Bändchen ist der Eintrittsausweis für die Party, und das Bändchen trennt die Leute zweimal in zwei Gruppen: Einerseits die Eingeladenen und die Uneingeladenen, andererseits die Feiernden und die Arbeitenden (und dann nochmal die Normalos und die VIPs, aber das hatten wir ja schon).

Wer wie ich in den 80er Jahren ein Kind war, der kam an Frederick nicht vorbei. Frederick war ein Kinderbuch über eine faule Maus, die keinen Bock auf Arbeit hat, sich von den anderen Mäusen durchfüttern läßt und ihnen im Gegenzug irgendwas von Sonnenstrahlen und Farben vorfaselt, woraufhin die anderen Mäuse ihn nicht etwa davonjagen, sondern als Künstler feiern. Im Buch ist Frederick allerdings der Held. Die arbeitenden Mäuse sind eher so Komparsen und haben keine höheren geistigen Interessen. Frederick muß ihnen erst die Augen öffnen. Die Botschaft war klar: Man sollte so sein wie Frederick. Unsere Kindergärtnerinnen, die damals noch nicht Erzieherinnen hießen, lasen uns das Buch vor, und am Ende, wenn es auf die Pointe zulief, verlangsamten die Kindergärtnerinnen ihre Stimme und wurden im Tonfall ganz bedeutsam, denn am Ende sind die doofen Körnersammelspießermäuse sehr ergriffen, nachdem Frederick seinen Sonnenstrahlenmonolog beendet hat, und das Buch endet mit folgendem Schlagabtausch:

Frederick, du bist ja ein Dichter!
Ich weiß es, ihr lieben Mäusegesichter.

Ich kann mich erinnern, daß ich das schon als Kind ziemlich mies fand. Erst läßt Frederick die anderen arbeiten und macht keinen Finger krumm, dann quittiert er das Lob mit einem blasierten „weiß ich längst“, und dann kommt noch so ein Reim aus der Brechstangenabteilung. Wenn Kunst, dann bitte nicht so.

Es gibt ja im Volke dieses stets köchelnde Ressentiment, daß Künstler eigentlich nur Parasiten seien, Schmarotzer am kraftstrotzenden Körper der wahren Wirtschaft, wo wahre Hände in wahrer Arbeit wahre Werte schöpfen. Wollte man Belege für diese These suchen, so würde man auf Berlinale-Partys einige finden. Die einen betrinken sich mit Freibier, die anderen schleppen die dazugehörigen Bierkästen über die Köpfe der Menge, stehen sich am Einlaß die Beine in den Bauch, lächeln stets freundlich und haben Anweisung, das Bändchen auch schön festzuziehen, damit es nicht an Unbefugte weitergereicht wird. Hätte ich einen dieser Jobs, dann hätte ich nichts als Verachtung im Herzen. Trinkgeld gibt es eh keins, dafür garstige Wortgefechte mit Leuten, die nicht auf der Liste stehen, dann kommen sie alle nach und nach wieder hinausgewankt, beschweren sich über ihre unbequemen Schuhe, kreischen sich gegenseitig irgendwas zu, fallen einander um den Hals und dann in die bereitstehenden Taxis, zur nächsten Party oder nach Hause in den Prenzlauer Berg, wo ihnen keiner sagen wird: Du bist ja ein Dichter.

Ich selber falle immerhin nicht kreischend in Taxis, sondern schwinge mich schweigend aufs Fahrrad, aber von der oben beschriebenen Fremdscham fällt dann wieder ein Stück auf mich selber ab, denn ich bin ja selber Teil der freibiertrinkenden Bändchen-Crowd, und auf die Radfahrerei sollte ich mir auch nix einbilden, denn Taxifahrer wollen doch nur ein bißchen Geld verdienen, bevor das selbstfahrende Google-Auto sie demnächst ins Jobcenter schickt. Sind wir also Parasiten beziehungsweise so wie Frederick, die Maus? Sollten die normalen Mäuse uns verachten? Oder bewundern?

Eins an der Geschichte von Frederick ist jedenfalls völlig falsch. Ob J.S. Bach jede Woche eine Kantate komponiert oder ein deutsches Filmteam in 22 Tagen einen „Tatort“ raushaut oder Michelangelo ein Schiff über den Berg zieht oder Werner Herzog 12 Stunden pro Tag, auf einem Gerüst auf dem Rücken liegend die sixtinische Kapelle ausmalt – Kunst (zählen wir den Tatort mal dazu) macht einen Haufen Arbeit. Indem sie das verschweigt, befördert die Geschichte von Frederick genau das, was sie bekämpfen will, nämlich das Ressentiment vom parasitären Künstler. Wäre die Geschichte realistischer, dann würde Frederick den ganzen Sommer 12 Stunden täglich am Schreibtisch sitzen und sich gelegentlich die Haare raufen, am Ende des Herbstes hätte er dann eine Tragödie in fünf Akten fertiggestellt und würde sie selbst uraufführen, die Reaktion der anderen Mäuse auf die Uraufführung wäre zwiespältig, es gäbe ein paar saftige Verrisse und ein paar wohlmeinende Worte, drei Tage später würde keiner mehr drüber reden, und Frederick würde sich auf der Berlinale-Party einer erfolgreichen Produktionsfirma frustriert die Kante geben. Aber sowas kann man Fünfjährigen ja nicht erzählen.

Die Arbeit ist ja auch nicht identisch mit der Kunst. Sie zerfällt in jede Menge Scheißjobs, die eigentlich unerträglich wären, wenn sie nicht für die Kunst wären. Teppiche schrubben ist ein Scheißjob (den ich auch schon gemacht habe, oh ja, das muß man als Kulturschaffender erwähnen, um dem Parasiten-Ressentiment etwas entgegenzusetzen) – Teppiche schrubben, weil sie Teil eines Filmsets werden sollen, ist dagegen vergleichsweise okay, denn man ist Teil eines größeren Ganzen. Und das ist keine Illusion, das ist wirklich so. Ist ja auch gar nicht so schlimm. Ohne Arbeit kein Feierabend, und Feierabend ist doch eine der prächtigsten Sachen, die der Alltag so zu bieten hat.

Was es aber auch gibt, es ist mittlerweile ein eigenes kleines Genre geworden: Der Scheißjobfilm. Im Forum läuft ein sehr schöner Scheißjobfilm, „Yarden“ von Måns Månsson. Ein erfolgloser Schriftsteller arbeitet auf einem riesenhaften Auto-Verschiebe-Parkplatz im Hafen von Malmö. Bis zum Horizont fabrikneue Audi und VW mit weißen Klebefolien und Schonbezügen. Es folgen die klassischen Elemente der Scheißjobfilmdramaturgie: Miese Bezahlung, kafkaeskes Reglement, der Mensch wird zur Nummer, Denunziation wird belohnt, irgendwann steht man vorm Pförtner und kriegt mitgeteilt, daß man gefeuert wurde, Klamotten bitte sofort ausziehen und hierlassen. Das mag alles nicht brandneu sein, aber ich mochte den Film sehr, denn ihn treibt ein bohrendes Interesse und eine ästhetische Unbedingtheit, die auch wieder sehr klar „Kunstkino“ sagt, aber egal, ich mochte ihn sehr, denn er war gut verdichtete Zeit (siehe gestern). Audi, also einer der Hersteller der Autos, aus denen der Film besteht, ist ja übrigens auch Berlinale-Sponsor und hat sich gegenüber vom Berlinale-Palast einen eigenen kleinen Palast errichtet. Ehrengäste werden in nagelneuen Audis zum roten Teppich kutschiert, dafür steht überall Audi drauf. Irgendeiner muß halt die Rechnung zahlen für die vielen Fredericks, die keine Vorräte anlegen, sondern Sonnenstrahlen sammeln. Es ist ja letztendlich nur ein Austausch von Waren: Wir produzieren „Glamour“, Audi produziert Autos, und beide Seiten des Handels geben sich gegenseitig was davon ab, weil sie jeweils mehr produzieren, als sie selber brauchen. Die Ware würde sonst nur vergammeln, also auf Autohalden in Malmö bzw. zwischen dem achten und neunten Cocktail auf Berlinale-Partys. Das ist einfach Marktwirtschaft. Also Kapitalismus. Soweit okay.

Nicht okay ist, wenn der Kapitalismus sich ganze Stadtviertel baut, die in denen er dann noch nicht mal selber wohnen will. Meine erste Berlinale im Jahr 2000 war auch die erste am Potsdamer Platz. Damals war alles nagelneu, die Berlinale-Veteranen fremdelten, aber heute, 15 Jahre später, redet keiner mehr davon, heute ist der Potsdamer Platz längst ein pulsierendes Stadtviertel, kleine Gemüsehändler sitzen vor ihren Läden, paffen ein Zigarettchen und blinzeln zufrieden in die Nachmittagssonne, im Sommer spielen die Kinder auf der Straße, aus den offenen Fenstern hört man strebsame 15jährige Cello üben, sympathische Kultur-Hipster sitzen scharenweise in irre netten Cafés – haha, saulustig, in Wahrheit ist hier: Nix. Die Hochhäuser stehen überwiegend leer. Wer in die Berlinale-Büros im 4. Stock geht und aus dem Fenster guckt, der guckt gegenüber in große leere Etagen. Die ganzen Wirtschaftsprüfer und Anwaltskanzleien und Architekturbüros, die hier mal als Mieter gedacht waren, sind anscheinend woanders. Und da wird es interessant. Denn daß der gräßliche globale Shareholder-Investoren-Kapitalismus die Fähigkeit verloren hat, lebenswerte Orte herzustellen, wie es der personengebunde Großkapitalisten-Kapitalismus vergangener Tage wohl noch konnte, das ist ja ein alter Hut. Aber daß der Kapitalismus sich in seinen Palästen noch nicht mal selber wohlfühlt, das scheint mir ein vergleichsweise neuer Hut zu sein.

Allerdings weiß ich nicht so genau, auf welchen Kopf man diesen Hut setzen sollte. Möglicherweise sollte man mit dem Kapitalismus umgehen wie mit einem Kind, dem man sagt: Tu dir nicht so viel auf den Teller, iß das erstmal auf, dann kannste dir immer noch mehr nehmen. Also, Kapitalismus, bau dir nicht so riesige Paläste, die du hinterher nicht vollmachen kannst, bau erstmal kleinere, dann kannst du die Mieten auch niedriger halten und so weiter und so fort.

Ach, schon wieder in allgemeinen Betrachtungen versackt. Gestern nochmal im Kino gewesen, „L‘Avenir“, mit Mutter und Freundin. Mutter mochte ihn, Freundin nicht, ich sitze so dazwischen. Dieser Film ist wie Frederick, die Maus. Er ist zu nichts nutze, er macht lauter feinsinnige Beobachtungen, eine nach der anderen, er ist wie Gespräch mit einer klugen Freundin, die bei jeder hochinteressanten Seitenbemerkung ständig vom Thema abkommt, er mäandert so durch seine hundert Minuten, eigentlich finde ich ihn im Rückblick doch ziemlich gut und rufe hiermit: Frederick, du bist ja ein Dichter! Und als solcher mußt du jetzt leider einen Scheißjob auf einem Autoverschiebebahnhof in Malmö annehmen.

Berlinale, Tag 3 – Guckst du Filme?

Leute begegnen mir und freuen sich über meine Bloggerei. Das freut mich hinwiederum. Dankeschön. Man sollte es aber nicht überbewerten, die meisten kenne ich und hätte es ihnen auch einfach per Mail rüberschicken können. Außerdem, wie jeder Dramaturg weiß, ist das allein schon Grund genug, irgendwas anders zu machen, denn sobald das Muster erkennbar ist, muß man es brechen.

Schluß jetzt also mit der Filmpolitik. Hinfort, Sarkasmus und eitle Wortspielerei. Stattdessen heute ein paar besinnliche Betrachtungen zum Thema:

Zeit.

Letztes Jahr fand ich bei Seneca einen Gedanken, der mich nicht mehr losließ. Nein, ich lese nicht ständig römische Philosophen. Eigentlich lese ich nie römische Philosophen. Aber da war diese Büchlein, meine Freundin hatte es angeschleppt, ich entwendete es ihr, und darin stand sinngemäß: Die Leute unternehmen enorme Anstrengungen, ziehen Mauern und Gräben und Stacheldracht, um Fremde von ihren Besitztümern fernzuhalten. Das wertvollste aller Besitztümer, die Lebenszeit, verschenken sie aber freigiebig. Jeder darf sich ein Stück nehmen, Stück für Stück wirft man sie hierhin und dorthin und weiß noch nicht einmal, wieviel man eigentlich hat. Irgendwann ist dann plötzlich Schluß. Und dann ist das Geschrei groß.

Soweit Seneca.
Man merkt das nur nicht so, setze ich jetzt selber hinzu, weil man sich der Illusion hingibt, die Zeit sei irgendwie ein Kreis – die Jahreszeiten kommen immer wieder, die Berlinale kommt immer wieder, der Medienboard-Empfang kommt jedes Jahr wieder. Vermutlich braucht man diese Illusion zum Leben, aber wenn man es sich mal nüchtern anschaut, wird man feststellen, daß die Zeit kein Kreis ist, sondern gnadenlos und brutal linear. Der doofe Spruch „Live every day as if it were your last“ stimmt insofern, als daß jeder Tag tatsächlich der letzte ist. Gestern zum Beispiel war der letzte 13. Februar 2016. Er wird nie wiederkommen. Er ist vorbei. Für immer. Tschüs, dreizehnter Februar 2016.

Und sie vergeht leider auch, die Zeit, wenn man nicht an sie denkt. Kurz mal Facebook runtergescrollt: Zack, schon wieder 30 unwiderbringliche Minuten vom Lebensfaden abgeschnitten. Kurz mal auf dem Medienboard-Empfang geschätzte fünfzig Zigaretten geraucht und einfach so auf den Teppich geworfen, weil das jeder macht – kawumm, schon wieder drei Stunden weg. Und währenddesen man da so vor sich hinvernichtet, kommt gelegentlich die Smalltalkfrage:
Guckst du Filme?
Oh ja, ich gucke Filme, denn das ist eine der wenigen Methoden, die Zeit nicht nur zu vernichten, sondern dabei wenigstens auch zu verdichten, damit man mehr rauskriegt, als man hergibt. Der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter beispielsweise hat Monate damit zugebracht, in alle möglichen Gegenden der Welt zu fahren und dort einen Film über von Menschen verlassene Orte zu drehen. Der Film heißt „Homo Sapiens“, hunderte oder tausende Stunden von Arbeit zahlreicher Menschen sind in diese neunzig Minuten geflossen, die ich mir heute ansehen durfte, und besser läßt die Zeit sich kaum verdichten. Es war eine Reise, die ich in der Realität wohl nicht in neunzig Minuten hätte machen konnen. Vielmehr hätte ich Wochen und Monate meines Lebens drangeben müssen.

Ansonsten waren heute die Empfänge der Schauspielagenturen. Seltsame Sache. Da stehen sie alle herum und wissen nicht so genau, was von ihnen erwartet wird. Ich liebe Schauspieler. Sie sind Helden, und sie sind tragische Helden. Es gibt kaum eine Art, sich selbst so zum Abschuß freizugeben, wie vor einer Filmkamera. Jeder darf dich angucken und dich scheiße finden. Immer muß du irgendwie aussehen. Aber du wolltest es ja so. Keiner hat dich gezwungen. Was natürlich nicht stimmt, denn die Kunst kam einfach so herbeispaziert und hat im Befehlston gesagt: Du! Du machst das jetzt. Zack-zack, keine Widerrede.
Wie hält man das aus? Es gibt tausend Strategien, keine funktioniert garantiert. Die meisten Kompensationsmanöver für die seelische Dauerüberhitzung des Schauspielerberufs bewegen sich irgendwo entlang einer Spannbreite, an deren einem Ende „Saufen“ steht und am anderen Ende „Yoga“.

Doch wenn ich meine Lebenszeit sowieso mit jedem Atemzug vernichte, dann doch gern in Gesellschaft meiner liebsten Schauspieler. Man muß da gar nicht viel reden. Es gibt Schauspieler, die ich liebe und mit denen ich mich nächtelang bestens unterhalten kann.  Andere liebe ich ganz genauso, weiß aber eigentlich gar nicht, was ich mit ihnen reden soll. Das macht aber gar nichts, man liebt sich einfach so. Es gibt ja gelegentlich auch Frauen bzw. Männner, mit denen man ganz wunderbar tanzen kann, obwohl man sich nicht richtig viel zu sagen hat. Man steht einfach beieinander, vernichtet in aller Gemütsruhe schweigend ein wenig Zeit miteinander und weiß: Es könnte jederzeit Musik einsetzen, und dann würde man tanzen. Im Rahmen der gewählten Metapher hieße das natürlich: Drehen. Also miteinander unerhörte Mengen von Zeit vernichten und verdichten, damit irgendjemand anders, den man vermutlich nie kennenlernen wird, damit wieder anderthalb Stunden seines Leben auffächern kann in ein Vielfaches.

Eigentlich ein ganz fairer Deal.

Berlinale, Tag 2 – Ich brauche was zum Andocken

Gegen Mittag besuche ich meine Freundin, die ein wenig auf der Berlinale arbeitet. Meine Freundin ist eine Powerfrau, energisch und liebenswert. Danach kurz zu Roland, dem Schrauber, der soeben mein uraltes Auto durch den Tüv schraubt. Roland ist ein ehrlicher Kumpeltyp und ebenfalls liebenswert. Danach Kaffee mit Carola, einer uralten Freundin aus München, die zur Berlinale in der Stadt ist. Carola ist eine toughe, aber verletzliche, äh, ebenfalls Powerfrau, und außerdem auch liebenswert. Warum diese bescheuerten Phrasen? Habe ich noch alle Tassen im Schrank?

Stellen wir die Frage mal kurz zurück und gehen ins nächste Meeting. Ich habe jetzt nämlich die einmalige Chance, einigen Top-Entscheidern der deutschen Filmbranche mein nächstes Projekt zu präsentieren. Es wird diesmal ein Genrefilm. Und den stelle ich mir folgendermaßen vor: Der personifizierte Tod kommt in eine kleine Stadt, pachtet ein Grundstück direkt neben dem Friedhof, baut sich da ein Haus und umgibt es mit einer unendlich hohen Mauer (wir zeigen im Film niemals die obere Mauerkante, also ist sie unendlich hoch). Dann setzt der Tod sich neben ein verliebtes Pärchen in eine Gaststätte, und als die Dame kurz mal aufs Klo verschwindet, ist ihr Mann mit dem Tod fortgegangen. Sie geht ihm nach, landet vor der riesenhaften Mauer und sieht auf einmal eine Prozession von Geistern auf sich zukommen, die durch die Mauer hindurchgehen. Der Tod läßt auch sie ein und führt sie in eine Halle voller brennender Kerzen. Jede Kerze ist ein Lebenslicht. Jedes wird irgendwann verlöschen. Wenn die Frau ihren Geliebten vom Tod zurückhaben möchte, dann darf sie dreimal versuchen, einen Todgeweihten zu retten. Wird sie es schaffen?

Weil die drei Versuche im Morgenland, in Venedig und in China spielen, wird der Film recht teuer, aber zum Glück sind all meine Gesprächspartner mit Begeisterung dabei, nee, Schmarrn, der Film existiert längst, er ist von 1921 und heißt „Der müde Tod“. Damals fand man ihn angeblich nicht so gut, sagt zumindest Wikipedia, den Kritikern war er nicht deutsch genug, was immer das heißen mag, dafür ist es längst ein Klassiker, der weltweit Spuren hinterließ, zum Beispiel in den Köpfen von Alfred Hitchcock, Douglas Fairbanks und Luis Bunuel. Und überhaupt: Dämonische Leinwand! Das Weimarer Kino! Was für großartige Filme entstanden damals hierzulande! Wo ist sie hin, diese Tradition?

Stellen wir auch diese Frage einstweilen zurück und eilen weiter in den nächsten Film. „Midnight Special“ von Jeff Nichols im Wettbewerb. Ein unglaubliches Ding. Ein unglaublicher Sog. Die reale amerikanische Tristesse abseits der großen Städte, das Land der einsamen Tankstellen, wo man in der Tiefe der Nacht einen geschmacklosen Kaffee und etwas Chemie-Junkfood mitnimmt, um dann weiter stundenlang durchs Nichts zu fahren, das Land der öden Vorstädte mit ihren öden Gemeindezentren und Versammlungshallen, seltsam verschränkt mit einer seltsamen Fantasy-Geschichte: Ein Vater fährt mit seinem Sohn übers Land, fort von der gruseligen Sekte, bei der sie gelebt haben, der Sohn hat übersinnliche Kräfte, manchmal leuchten seine Augen, das FBI nimmt die gesamte Sekte fest und fragt sie aus, der Vater wird verfolgt, der Junge ist krank und darf das Tageslicht nicht sehen. Klingt alles exakt genauso seltsam wie „Der müde Tod“, wirkt genauso unheimlich und zwingend und seltsam.

Da ist sie also hin, die dämonische Leinwand. Und noch während der Film läuft, überlege ich: Was ist so toll an diesen Charakteren mit ihren zerfurchten Gesichtern und der stoischen Unbeirrbarkeit, mit der sie durch den Film wandeln?
Vielleicht folgendes:
Sie sind nicht liebenswert.
Sie sind erwachsen.
Sie sind einfach das, was sie sind.

Vor einigen Tagen richtete ich ja an dieser Stelle einen Appell ans deutsche Kino: Hör auf, so ernst zu sein. Aber das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Es gibt den öden Alltags-Ernst. Ein Brief von der Stadtverwaltung ist ernst. Und es gibt den heiligen Ernst. Eine Wagner-Oper oder ein WM-Finale sind ernst. Andererseits gibt es den Unernst, und auch den gibt es zweimal. Es gibt den großen, existenziellen Unernst eines Billy Wilder oder Woody Allen oder der Coen-Brüder. Und es gibt den gräßlichen Unernst einer bestimmten Sorte von Film, die ihren Figuren und auch den Zuschauern fortwährend auf die Schulter klopfen und sagen: Alles nicht so schlimm. Wenn irgendwann mal jemand so einen Film macht und sich dabei auf meinen Appell zum Unernst beruft, dann muß ich mir leider die Kugel geben.

Leider sind wir in Deutschland ziemlich weit vorn, was diese infantile Sorte Film angeht. Wohin man schaut, sieht man liebenswert-patente Senioren, die sich nicht unterkriegen lassen, liebenswert schrullige Kumpeltypen, die sich nicht unterkriegen lassen, liebenswerte zwanghafte Beamtentypen, die in ein exotisches Land fahren und dort  total crazy Leuten begegnen und das Leben zu schätzen lernen und sich natürlich auch nicht unterkriegen lassen. Und damit wären wir wieder beim Anfang dieses Textes. Wenn ich die Menschen um mich herum in diesem Vokabular beschreiben würde, dann wäre ich ein Vollidiot. Es gibt also keine Rechtfertigung, seine Filmfiguren so zu behandeln. Dieses infantilisierende, pädagogisch wohlmeinende, betuliche, drollige, niedliche, dem vermeintlichen Publikumswunsch eilfertig hinterherlaufende, das kann man gar nicht ausführlich genug beschimpfen. Es ist eine doppelte Entmündigung, nämlich des Zuschauers und der Filmfiguren. Und nein, es ist natürlich kein rein deutsches Phänomen, ich habe sowas auch schon aus Frankreich gesehen, und zwar im offiziellen Programm von Cannes.

Jedenfalls widerspreche ich mir jetzt selbst und rufe lautstark: Hört auf, so liebenswert zu sein! Her mit dem heiligen Ernst!

Richtig schlimm wird es dann aber, wenn Leute aus so tollen, vielschichtigen, unterschiedlichen Filmen wie „Midnight Special“ oder „Hail Caesar“ kommen und dasselbe sagen, nämlich: Mir hat irgendwie was zum Andocken gefehlt. Ich wußte nicht, bei welcher Figur ich mitgehen sollte. Eigentlich müßte man darauf erwidern: Dann geh doch heim zu deiner Mami, da hast du eine Figur zum Andocken. Ein Film ist nicht dafür da, dich an der Hand zu nehmen und mit dir auf den Spielplatz zu gehen und dich auf der Schaukel anzuschubsen. Werd erwachsen. Im Idealfall kannst du dann irgendwann sogar auf erwachsene Art erwachsen sein, nämlich nicht wie ein altkluger Jugendlicher, der alles besser weiß, sondern wie ein Erwachsener, der weiß, daß nicht alle Widersprüche aufzulösen sind und man auch mal auf das eigene Erwachsensein pfeifen muß.

Zack, schon wieder mittendrin in filmpolitischen Pauschalaussagen. Wollte ich ja eigentlich gar nicht. Vielmehr wollte ich zart-impressionistisch-feinsinnig von meiner persönlichen Berlinale berichten. Also, weiter ging es zu einer Veranstaltung namens „Blue Hour“. Die Stunde um Sonnenuntergang, wenn das Licht aus allen Richtungen zugleich zu kommen scheint und die Dinge von innen leuchten, nennt man die „blaue Stunde“. Ein toller Ausdruck. Im Englischen sagt man „Magic Hour“. Auch ein toller Ausdruck. Aber „Blue Hour“? Na ja. Heißt halt so. Anwesend unter anderem: Der liebenswert-jugendliche Produzent Jochen Laube. Der liebenswert-knorrige Verleiher Torsten Frehse. Der liebenswerte Programmdirektor der ARD, der liebenswert-energische Produzent Michael Lehmann und die liebenswert-ätherische Schauspielerin Odine Johne. Eigentlich wollte ich ja spät nachts betrunken bloggen, letzte Nacht hat meine Freundin protestiert, also bin ich ihrem Wunsch gefolgt und habe diesen Text morgens geschrieben. Schließlich brauche ich ja was zum Andocken, nee, das klingt zu dämlich, ich brauche was zum Mitgehen, und außerdem bin ich liebenswert.

Berlinale, erster Tag – I am very important

Alzheimerpatienten denken meistens, sie wären um die 30 Jahre alt. Daher wundern sie sich fortwährend darüber, wie sie von ihrer Umwelt behandelt werden, und erschrecken vor ihrem eigenen Spiegelbild. Ich selber fühle mich kein Stück anders als ein 21-jähriger, der sich planlos an Filmhochschulen bewirbt, erschrecke immer öfter auch vor meinem eigenen Spiegelbild, bin aber, wie ich aus dem Verhalten meiner Umwelt erschließen kann, keine 21 mehr, sondern VIP, zumindest heute, denn ich sitze in der Sponsoren-Lounge der Berlinale-Eröffnung und unterhalte mich mit meinem geschätzten ehemaligen Regieprofessor von der Filmhochschule, der heute einen rosafarbenen Plüschhasen als Hut auf dem Kopfe trägt und ebenfalls VIP ist. VIP steht für „very important person“ und ist die todsichere Methode, eine Party zu killen, denn es zerstört die Illusion der aufgehobenen Unterschiede, von denen jede gute Party lebt, denn die einen sind draußen und fühlen sich doof, weil sie nicht very important sind, die anderen sind drin und bilden sich ein, sie hätten das verdientermaßen verdient, oder haben ein schlechtes Gewissen, weil andere draußen sind. Ist nicht Europa eigentlich ein einziger großer VIP-Bereich? Welch naheliegender Gedanke! Sagt aber so niemand, obwohl auf der Bühne wirklich jeder was zur Flüchtlingsthematik sagt. Es würde sich auch einfach zu doof anfühlen, ein Filmfestival zu feiern, ohne den brennenden Problemen der Tagespolitik wenigstens kurz zuzunicken.  Dann wird der Eröffnungsfilm gezeigt, „Hail Caesar“ von den Coen Brüdern, ein unfaßbar hemmungsloser, hochintelligenter Spaß und zugleich der politischste Film, den ich je gesehen habe, denn er nennt die Probleme kurz und klar beim Namen, zeigt sich zugleich aber völlig illusionslos, was deren etwaige Lösung anbetrifft. Allgemeine Begeisterung, nee, von wegen, hinterher wird gemäkelt, viele Leute haben irgendwas vermißt. Kulturloses Fußvolk! Banausen! Was hab ich mit euch zu schaffen, ich begebe mich lieber mal weg von euch in den VIP-Bereich, wo die Coen-Brüder und George Clooney und Humphrey Bogart mit Selma Lagerlöf den Jitterbug tanzen. An der Tür dann allerdings Ernüchterung: Man läßt mich nicht rein, ich bin also doch keine VIP, sondern nur eine P. War ja auch klar, ich bin ja nur ein 21jähriger, der sich planlos an Filmhochschulen bewirbt – nee, Moment mal. Versuchen wir es doch mal, wie wir es sonst aus Gründen der Selbstachtung nicht versuchen, also ungefähr so: Tschuldijung, Brüggemann mein Name, ick hab hier mal vor zwee Jahren so‘n silbernet Tier jewonnen, so‘n Wurfjeschoß, dürfte ick eventuell…? Aha. Moment bitte. Frau in Uniform geht ab. Frau in Uniform tritt wieder auf. Nee, kommen Sie in ner halben Stunde wieder. Okay. Fairer Deal. (An dieser Stelle kurzes Hohelied auf die ganzen Einlasser-Garderoben-Nachtschichten-Menschen. Die sind die wahren VIPs. Gebt ihnen Trinkgeld. Hab ich heute an der Garderobe einer Veranstaltung mit 800 Anzugträgern einfach mal gemacht. Fühlte sich etwas komisch an. Wurde mit ungläubiger Freude quittiert.) Also zurück zum Non-VIP-Fußvolk, dort erleichterte Feststellung: Ist doch total nett hier. Anwesend unter anderem die Non-VIPs Sebastian Schipper, Christian Petzold, Hans-Christian Schmid und Tom Tykwer. Moment mal, wenn diese Titanen für die Berlinale keine Sehr Wichtigen Personen sind, wer denn dann? Lassen wir die Frage einstweilen unbeantwortet im Raum herumstehen und unterhalten uns mit Tom Tykwer. Der erzählt, warum sein neuer Film nicht auf der Berlinale läuft. Es lag am fehlenden Armbändchen. Sie haben ihn nicht reingelassen. Diese Quatsch-Erklärung ist natürlich nur Platzhalter für den wahren Grund, der interessant ist, aber nur in VIP-Kreisen verbreitet werden darf. Halbe Stunde später, nüscht wie rin ins VIP-Areal, und da tummelt sich:
Niemand.
Gähnende Leere.
Wenn die demografische Entwicklung so weitergeht, dann wird das Betreten unserer schönen VIP-Area namens Deutschland in ein paar Jahrzehnten genauso vonstatten gehen. Man denkt: Hurra, geil, endlich lassense mich rein, dann kommt man rein, und da sind gerade noch zwei Leute, die den Müll zusammenfegen und die Lichter ausmachen.
Weil man aber nicht gleich immer die große Deutschland-Metapher aufmachen muß, nochmal eine Nummer kleiner. Irgendwie ist das auch ganz toll. Ein Moment von abstrakter Schönheit. Verweile doch, du bist so schön.
Und drittens: Ey Männo, get real! Das ist doch immer so, Mähäänsch! Sponsoren müssen bei Laune gehalten werden und Finanziers und Geld und überhaupt und werd erstmal erwachsen und komm mal klar, du Pappnase!
Okay, ich bin ja eigentlich erst 21 und etcetera, ich halte jetzt den Mund.
Epilog: Bei den VIP-Rauchern, da ist dann doch noch was los. Kleine VIP-Fachsimpelei mit einer befreundeten Berlinale-Insiderin, die mir sagt: Schreib das aber nicht auf deinen Blog, sonst wirste nie wieder eingeladen.
Na klar. Immer gern.
Dieser Text versteht sich als Anfang einer sportlichen Übung: Jede Nacht vorm Schlafengehen und selbstverständlich stocknüchtern ungefiltert aufschreiben, was mir vom Berlinale-Tag hängenblieb, und sofort ohne nochmaliges Lesen veröffentlichen. Wenn mir nix mehr einfällt oder ich feststelle, daß ich einfach zu nüchtern bin, lasse ich es halt wieder bleiben.

Lolasaufen

Die „Kiste“ ist mal wieder da. Die „Kiste“ ist in Wahrheit eine Mappe mit sehr vielen DVDs. Auf den DVDs sind die Filme, die für den Deutschen Filmpreis vornominiert wurden. Also von geschätzten achthundert deutschen Spielfilmen des letzten Jahres die besten 30. Was sind die besten? Wie immer in der Kunst sind die Kriterien subjektiv. Am anderen Ende der Skala, bei den schlechtesten, da herrscht meist mehr Einigkeit. Man könnte die schönen Künste vergleichen mit dem 100-Meter-Lauf der Männer ohne Orientierungssinn bei Monty Python: Alle kauern auf der gleichen Startlinie, dann erklingt der Startschuß, und zehn Leute rennen in zehn verschiedene Richtungen davon. Unmöglich, am Ende einen Sieger zu bestimmen, aber wenn einer nach zehn Metern versackt, dann läßt sich das doch recht klar konstatieren. Sollte man denken. Aber manchmal regen sich Zweifel. Durchaus auch bei Betrachtung der „Kiste“.

(Ich selber habe mit der Kiste übrigens nichts zu tun, ich bin nicht in der Filmakademie, und meine Filme liegen nie in der Kiste. Ist mir auch egal, wobei, wenn man mal an die obszönen Geldbeträge denkt, die die Branche sich da austeilt, äh, ich schweife ab, aber mal ehrlich, „Kreuzweg“ ging ja so’n bißchen um die Welt, blamiert sich die Filmakademie da möglicherweise doch ein wenig, wenn sie den noch nicht mal unter die brauchbaren 30 wählt? Nein, denn man muß fairerweise dazusagen, daß die Vorauswahlkommission schon tagte, als die Berlinale ihr Programm noch nicht bekanntgegeben hatte, die Kommission mußte also ganz allein entscheiden, ob der Film gut oder schlecht ist. Keiner half ihnen. Das ist wie Weinprobe mit verbundenen Augen und ohne Geschmacksnerven.) (EDIT: Ich wurde von einer Regiekollegin scharf kritisiert und der Lüge bezichtigt, denn anscheinend war diese Information falsch, sie wußten es doch. Na gut. So gefährliche Worte wie „Lüge“ sollte man da nicht gleich aus der Garage fahren. Mir lagen einfach andere Informationen vor. Was das jetzt am Sachverhalt ändert und wie man den Weinprobenvergleich modifizieren müßte, kann sich jeder selber zusammenbauen.)

Eher per Zufall habe ich nun vor zwei Jahren mit einem guten Freund, der seinerseits Kistenbesitzer ist, eine gar herrliche Art entdeckt, sich mit der Kiste einen netten Abend zu machen. Es ist ein Spiel für zwei oder mehr Mitspieler, und es geht so: Man stelle eine Flasche Schnaps bereit (Wodka, Whisky, irgendwas, was knallt) sowie für jeden Spieler ein Gläslein. Dann legt man irgendeinen Film ein und läßt ihn in stiller Größe auf sich einwirken. Wer es als erstes nicht mehr aushält, schreit „Stop!“ und muß zur Strafe ein Glas Schnaps trinken. Wenn ein anderer Spieler den Film auch nicht gut fand, darf er sich solidarisieren und ein Glas mittrinken. Auf diese Weise schafft man zehn bis fünfzehn Filme an einem Abend, ist hinterher anständig blau und hat a gscheit verbotne Fetzngaudi. Das Spiel nennt sich „Lolasaufen“, und jeder Kistenbesitzer kann es zuhause nachspielen. (EDIT: Dieselbe Kollegin, die mich schon im letzten Absatz tadelte, findet auch dieses Spiel nicht lustig. Mehr dazu hier.)

Also, verehrte Zuschauer, wir haben uns hier mal wieder eingefunden zu einer Aufführung eines alten bürgerlichen Trauerspiels namens: Der Deutsche Film.

Stop! Hört auf mit dem Bashing! Diese Selbstgeißelung, das ist so furchtbar deutsch! – Ja, auch diese Zwischenrufe aus dem Publikum sind mittlerweile Bestandteil des Dramas. Und nichts läge mir ferner, als zu bashen. Ich kam mit Liebe im Herzen. Ich floh aus der grauen, bösen Welt und entdeckte das Kino. Dieses Glück, sich in einem dunklen Raum zu verkriechen und dort von einem Film aufsaugen zu lassen. Doch die andere Seite dieses Glückes ist eben das Unglück, wenn ein Film so finsterlich mißraten ist, daß man aus dem dunklen Saal wieder fliehen möchte hinaus in die graue, böse Welt. Ich fände es großartig, wenn die Filme aus meinem Land großartig wären. Ich würde singend und jubilierend dreimal die Woche in deutsche Filme rennen. Stattdessen denkt man zu oft beim Gucken: Echt jetzt? Soll ich euch das glauben? Haben diese Dialogsätze, diese Dramaturgieschablonen, diese Bilder, haben die nicht schon meterlange Bärte, Bärte aus den Tiefen des vorigen Jahrhunderts? Bärte, die schon damals, als sie kürzer waren, nicht gut aussahen? Ich fürchte also, daß wir es hier keineswegs nur mit einer verzerrten Wahrnehmung zu tun haben. Die Freude, die man beim Gucken nicht hat, ist schon ein ganz verläßlicher Indikator für die Qualität, die der Film nicht hat. Die Bestandsaufnahme wäre niederschmetternd, wenn man nicht ohnehin schon seit Jahren niedergeschmettert wäre.

Das haben auch andere erkannt, nämlich zahlreiche internationale Festivals, auf denen das deutsche Kino derzeit keine besondere Rolle mehr spielt. Und das hat wiederum der Verband der Deutschen Filmkritik erkannt und schmeißt aus diesem Anlaß einen lustigen Diskussionsabend unter dem beschwingten Titel: „Kino machen andere – warum der deutsche Film einem toten Elch gleicht, den selbst die Geier naserümpfend verschmähen.“ Den zweiten Teil des Titels habe ich mir leider nur ausgedacht. Die Veranstaltung ist heute abend. Ich würde normalerweise hingehen, zuhören und wissend nicken. Bin aber schon länger woanders verplant. Werde also nicht hingehen. Eigentlich sehr schade. Eigentlich egal.

Zunächst aber ein ernstgemeintes Kompliment. Endlich sagt‘s mal einer. Es war überfällig. Uns fehlt nicht nur Qualität, sondern auch eine qualitätvolle Debatte über selbige. Gespräche unter Filmschaffenden in Deutschland drehen sich allesamt, immer, jedesmal nach spätestens achteinhalb Minuten in eine einzige Richtung: Geld. MBB, BKM, NRW, FFF, FFHSH, die FFA schmeißt Til Schweiger fünf Fantastilliarden hinterher, wegen MDM müssen wir fünf Wochen in Halle herumsitzen, der WDR würde uns mehr Geld geben, aber das will der NDR nicht, weil dann der BR nicht mehr federführend wäre und die Frau vom SWR mit dem vom HR gut klarkommt, aber nicht mit dem Pförtner von Radio Bremen. Alle Beispiele sind verfremdet und außerdem ausgedacht. Nie würde ich in die Hand beißen, die mich füttert. (Ähnlich dämlich sind übrigens die Fachsimpeleien, in die man unter internationalen Filmemachern gerät, da geht es nur um Cannes und Toronto und nordamerikanische Premiere und wenn Sofia, dann nicht San Sebastian, man wirft sich Festivalorte an den Kopf, als wären es Automarken, und es ist genauso hirnlähmend.) Also, wo sind sie, die begeisterten Runden, die sich wenigstens mal in Euphorie und Rage reden angesichts einer unbedingt zu erzählenden Geschichte, eines filmischen Glücksmoments, der die Leinwände der Welt zum Beben bringen wird? Oder die diesen Glücksmoment dann sogar herstellen? Deutscher Film, du fauler Sack, was ist los?

Die Probleme sind schnell aufgezählt und wurden oft schon von klügeren, zumindest aber ernsteren Leuten als mir benannt. Zuviel Fernsehen in den Fördergremien, überhaupt zu viele Leute in den Fördergremien, überhaupt die Fördergremien, überhaupt alles. An dieser Stelle ein kleiner Ausflug nach Dänemark:

Die Filmförderung ist zweigeteilt: Einmal künstlerisch, einmal kommerziell.
Über kommerzielle Filmprojekte entscheidet ein kleines Gremium.
Über die künstlerische Förderung entscheidet EINER ALLEIN.
Der muß dann auch hinterher dafür geradestehen.
Weil jeder mal einen blinden Fleck haben kann, ist die Stelle doppelt besetzt.
Und nach fünf Jahren ist Schluß, dann kommt jemand anders.

So macht man das, Deutschland.

Und jetzt eine kleine Anekdote aus der eigenen Lebenserfahrung. Es wird ja immer gern auf Redakteure geschimpft. Ich selber kann da nicht mitschimpfen. Hatte nur gute Erfahrungen mit denen. Bis auf die, mit denen ich gar keine Erfahrungen habe, weil wir nie zusammenkamen. Und das kam so. Zu Filmhochschulzeiten drehte ich in fröhlicher Autistik (Wort soeben erfunden) recht seltsame Filme. Einer hieß „Warum läuft Herr V. Amok?“ und handelte von einem Paar, das sich im Kino „Alien V“ ansehen will, aber vom Vordermann daran gehindert wird, der seinen Hut nicht abnehmen will, weil er Fassbinder-Imitator ist, und behauptet, der Film sei gar nicht „Alien V“, sondern „Angst essen Seele auf“. Der Film lief auf der Berlinale, dann auf keinem weiteren deutschen Festival, aber ein bißchen im Rest der Welt. Dann gab es an der HFF immer den Besuchs- und  Kontakteinfädelungstag für Produzenten und Redakteure. Da lief mein Film. Und dann wurden links und rechts von mir Kontakte eingefädelt, kleine Fernsehspiele eingetütet, die Redakteure schlugen ein, daß die Heide wackelte, nur bei mir nicht. Ich fühlte mich klein und einsam. Und irgendwann sagte ich mir: Okay, dann mache ich jetzt halt mal einen deutschen Film. Menschen reden in zehn Minuten langen Einstellungen über ihre Familienprobleme. Ätsch, ich kann das auch. Das Resultat war „Neun Szenen“, der hätte dann deutlich besser laufen können, wenn er weniger lustig gewesen wäre und wir die Farben mehr in Richtung Berliner-Schule-Blässe gedreht hätten, aber er lief gut genug, um alles nachfolgende zu ermöglichen. Den Quatsch mit Alien V gegen Fassbinder hätte ich mir jedenfalls sparen können.

Was lernen wir daraus? Es gibt keine zu beschimpfenden Individuen, aber einen zu beschimpfenden Geist. Anstatt also Gruppen wie Redakteuren, Förderern, Festivals, Kritikern oder sich selbst die Schuld zuzuschieben, sollte man lieber den gemeinsamen Grund finden. Und der ist in den Köpfen. Da sitzt er, der deutsche Film, in all unseren Köpfen. Man muß ihn sich vorstellen wie einen durchaus freundlichen, leider ziemlich unattraktiven, etwas umständlichen, nicht übermäßig intelligenten kleinen grauen Beamten, über dessen Schreibtisch jede Idee geht, und der dann, wenn es gar zu aufregend wird, bedauernd den Kopf schüttelt und sagt: Nee. Geht nicht. Das ist kein deutscher Film. Und zum Spielen gehnse bitte rüber in die Kinderabteilung.

Dieser kleine Beamte, der gehört totgeschlagen und aus dem Fenster geworfen.
Das ist der notwendige erste Schritt.
Danach kommt alles andere.

So sehr ich die heutige kritische Veranstaltung begrüße, so habe ich doch auch Kritik daran anzumelden. Ich fürchte nämlich erstens, daß man da versucht, das Problem im gleichen Tonfall zu lösen, in dem es entsteht, nämlich mit den gravitätischen Stirnfalten des ernstelnden deutschen Kulturmenschen. („Ernsteln“ ist ein Wort, das Robert Gernhardt mal als Pendant zum ihm vorgeworfenen „Blödeln“ vorgeschlagen hat und das ich hiermit freudig begrüße). Zweitens darf auch die Gegenwelt, die da aufgemacht wird, nämlich die internationalen Festivals, nicht unhinterfragt im Raum stehen bleiben. Dieser gläubige Blick nach Cannes, wo angeblich das Wahre, Gute und Edle stattfindet, den mache ich nicht so ohne weiteres mit. (Und drittens steckt da auch so eine kleine Portion Wichtigtuerei drin: Je kränker der Patient, desto wichtiger der Arzt. Das aber nur in Klammern. Klammer zu.)

Also, erstens: Deutsche Podiumsdebatten sind wie deutsche Drehbuchgespräche. Ritualisiert, zu lang, zu wenig Energie, irgendwas kommt am Ende schon rum, aber kaum je ein entscheidender Durchbruch. Man problematisiert sich so durch den Nachmittag und wäre gern woanders. Großartigerweise hat man sich aber internationale Gäste eingeladen. In England und Amerika, da ist es nämlich anders. Da kommt vielleicht am Ende auch nichts rum, aber in England, meine Güte, da machen die Leute selbst bei todernsten Anlässen erstmal Witze, und die sind dann auch noch meistens richtig gut. In so einer Geisteshaltung ließe sich vielleicht auch der deutsche Film effektiv in den Hintern treten.
Ließe.
Konjunktiv.

Zweitens: Das internationale Kino zerfällt doch auch immer mehr in zwei Kontinente, nämlich den zunehmend dämlichen Mainstream und das zunehmend sektiererische Festivalkino. Es sollte ja eigentlich so sein, daß die Festivals einfach das spielen, was gerade irre aufregend und total neu oder einfach sehr gut ist, aber so ist es halt nicht. War in früheren Jahrzehnten ein Film noch ein Kommunikationsangebot, eine ausgestreckte Hand, die der Filmemacher dem Zuschauer aus seiner Welt herüberreichte, war das Filmemachen eine Herausforderung, die eigene künstlerische Position verständlich zu machen (was eine Aussage mit zwei gleichwertigen Teilen ist, nämlich „Position“ und „verständlich“), so scheint es mir heute mehr und mehr darum zu gehen, die eigene Idiosynkrasie und den eigenen Narzißmus möglichst ungefiltert auszustellen, wie auch immer sie und er aussehen mögen, und wenn man Glück hat, wird man dafür aufs Podest gehoben. Außerdem haben die Festivals selber auch so einen kleinen Beamten im Kopf, der hat einen Stempel namens „Kunst“ in der Hand, der hat nicht immer, aber oft eine Abneigung gegen alles Komische, der mag es gern still und meditativ und ein bißchen abweisend. Das merken natürlich auch die Filmemacher und machen ihre Filme für diesen Beamten. So kriegt man dann lauter Filme, die sich von vornherein in die Kunst-Pose werfen. Was hinten runterfällt, sind einerseits Filme, die stilistisch nicht in die gerade herrschende Mode passen, und andererseits ganz einfach Filme, die sehr gut sind, ohne in irgendeine Richtung spektakulär zu sein. Die einfach die guten alten Tugenden besitzen, die in der Beschreibung ihrer Welt und ihrer Figuren extrem präzise und treffsicher sind, ohne sich in irgendeine Pose zu werfen. (So einen im besten Sinne normalen Film habe ich übrigens vor wenigen Tagen gesehen, nämlich Micha Lewinskys „Nichts passiert“, und ich finde es äußerst betrüblich, daß die Berlinale für so etwas anscheinend keinen Platz mehr hat. Ist mir selber aber auch schon passiert, und „Kreuzweg“ war bei aller Ernsthaftigkeit auch eine Reaktion darauf, daß die Festivals anscheinend blind für die Qualität des Unspektakulären sind.)

Exkurs beiseite, Fazit: Man kann nicht die Festivalabwesenheit des deutschen Films problematisieren, ohne dabei die Probleme des Festivalbetriebs mitzuproblematisieren.

Hinzu kommen ein paar Denkfallen, in die auch kluge Leute immer wieder rennen. Das eine ist die angenommene Höherwertigkeit des Künstlerischen und Experimentellen über das Handwerkliche und Erzählerische. In vielen Kritikerköpfen ist ein System drin, nach dem „eigenwillig“ automatisch besser ist. Ist es aber nicht. Sind alles erstmal nur verschiedene Disziplinen, in denen man jeweils gut oder schlecht sein kann. Dann die Vorliebe der Kritik für das Unverständliche, ist aber andererseits klar, denn je obskurer das Werk, desto bedeutsamer der Exeget. Auch nicht selten ist die Geringschätzung als vorgefertigte Geisteshaltung. Läuft kaum ein deutscher Film auf der Berlinale, dann ist das schlimm, laufen viele, dann sind die halt erbärmlich. Und dann noch diese nicht auszurottende Marotte, „Wellen“ und „Schulen“ und „Bewegungen“ zu proklamieren. Da nimmt man irgendeine oberflächliche Gemeinsamkeit zum Anlaß, eine Strömung auszurufen, in die man lauter unterschiedliche Leute packt, die in Wahrheit nicht viel miteinander zu tun haben. Frédéric Jaeger hat es kürzlich mal wieder versucht, und ich würde mich totlachen, wenn tatsächlich eine Generation als „Freischwimmer“ in den Sprachgebrauch einginge. Dann doch lieber Seepferdchen. Der von mir durchaus geschätzte Rüdiger Suchsland schimpft auf hohem Nivau und fragt sich, ob die Erlösung vielleicht vom „Berliner Flow“, auch bekannt als „German Mumblecore“ kommen wird, und liefert die Antwort gleich mit: Nein. Ich pflichte bei, aber nur deswegen, weil Qualität ohnehin nicht von bekloppten Bandnamen kommt, sondern von Köpfen, und der Kopf ist ein Einzelphänomen. Wenn ich von irgendjemand hierzulande Großes erwarte, dann vielleicht am ehesten von den Lass-Brüdern, aber doch nicht von irgendeiner „Schule“.

Und jetzt mal zum Positiven. Dieser Text ist jetzt schon verdammt lang. Mein verdammt kluger Kollege Christoph Hochhäusler hat auf seinem Blog was verdammt kurzes geschrieben und damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich finde das so gut und richtig, daß ich es jetzt zitieren muß:

Aber wir haben eine Filmkultur, die in ihren besten Momenten bescheiden ist, während das Unbescheidene fast immer ohne Ambition bleibt. Kurz: der deutsche Film hat ein „protestantisches” Problem. Anders als die Autorengeneration der 70er Jahre, für die ein „katholisches” (performativ-polarisierendes) Verhältnis zur Öffentlichkeit eine Selbstverständlichkeit war, haben wir es heute meist mit Filmemachern zu tun, die versuchen, in gutem Einvernehmen zu leben sowohl mit der eigenen Szene, als auch den Mächten, die ihre Filme finanzieren.

Besser kann man es nicht sagen. Man könnte nur noch fragen: Wer sind eigentlich die Filmemacher in Deutschland? Was sind das für Menschen? Es ist ja unmodern geworden, Menschen mit Eigenschaften zu bezeichnen, es ist irgendwie diskriminierend, jeder ist schließlich schön. Ich mach‘s trotzdem, ich schaue mich um und sehe vor allem drei Typen, die hierzulande Filme machen:

Intellektuelle
Sozialpädagogen
und Proleten.

Hinzu kommen noch die Sachbearbeiter, aber die findet man eher im Fernsehen.
Und verstehnse mich mal nicht falsch: Nix gegen Intellektuelle, nix gegen Sozialpädagogen, und auch nix gegen Proleten. Es gibt großartige Proletenfilme! Und großartige Filmproleten! Aber wo sind die Spieler? Die Künstler? Die Abentheurer? Die Bonvivants? Die Tyrannen? Oder all die anderen Charaktere, die der große deutsche Filmemacher J.W. Goethe hier ausgebreitet hat? Warum werden Leute wie Max Goldt oder Bernd Begemann nicht Filmemacher? Vielleicht gibt es sie, aber vielleicht werfen sie irgendwann zwischen der achten und neunten Drehbuchfassung des seit fünfeinhalb Jahren geplanten Diplomfilms genervt das Handtuch.

Wenn sich was ändern soll, dann kann das also nur von uns selber kommen, also von den Filmemachern, womit nicht nur Regisseure gemeint sind, sondern auch Autoren und Produzenten. Es ist unsere Aufgabe, etwas herzustellen, das bestehen kann, und es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gegen alle, die es „verbessern“ wollen und damit umbringen. Mein Lieblingszitat ist von Nicholas Winding Refn, der gesagt hat: Künstlerische Freiheit wird einem nicht gegeben, man muß sie sich nehmen.

Nochmal zum Mitschreiben:
Künstlerische Freiheit wird einem nicht gegeben, man muß sie sich nehmen.

Also, schlagt den deutschen Film im Kopf tot. Macht, was ihr wollt. Zieht es durch. Und zuletzt das allerwichtigste (das geht jetzt vor allem an die Sozialpädagogen und die Intellektuellen): Hört auf, so furchtbar ernst zu sein. Ich treffe in Deutschland lauter interessante, humorvolle, mehrdimensionale, spannende Menschen, dann gucke ich mir Filme von denen an, und die sind entsetzlich dröge oder furchtbar brav oder beides, und ich möchte sie packen und schütteln und schreien: Warum? Was fällt dir ein, einen Film zu machen, der weniger spannend und vielschichtig und ja, UNTERHALTSAM ist als du selber? Gibt es da irgendeine Rechtfertigung? Nein, gibt es nicht. Den Langweilern ist nicht zu helfen, die sollen mal weiter langweilig sein, aber von den Nichtlangweilern erwarte ich Nichtlangeweile. Akzeptiert die Komplexität und Widersprüchlichkeit, Schrecklichkeit und Banalität der Welt. Sie führt zwangsläufig zu Komik, zu Interesse, zu Unterhaltsamkeit. Get over it. Das Leben ist trotzdem immer noch schlimm genug. Aber nicht so schlimm wie ein schlechter Film.

–––

Zum besinnlichen Ausklang hier noch ein Blick in den deutschen Kulturbegriff, gefunden in einem Studentenwohnheim in Stuttgart.

2010-08-1583

Kritik der Kritik (2)

Meine kürzlich veröffentlichte Kritik der Kritik bezog sich auf Gemeinsamkeiten in diversen Rezensionen zu „Heil“. Eingehende Textanalyse war es damit keine, denn die müßte sich ja mit einzelnen Texten befassen. Also reiche ich hiermit eine nach. Beispielhaft erscheint mir da die Kritik von Matthias Dell, die in der taz erschien. Im Anfangsteil referiert er vor allem die Handlung, ab dem Mittelteil fängt er an zu werten, und damit werde ich mich jetzt Stück für Stück auseinandersetzen. Wenn man das eingehend machen will, wird man allerdings ungefähr zehnmal so lang wie der Ausgangstext. Das als Warnung vorneweg. Los geht‘s.

In dieser Runde sitzt auch eine Regisseursfigur namens Dietrich Brüggemann (gespielt vom Regisseur Tom Lass), der prophylaktisch die Frage gestellt wird, die „Heil“ als Problem auf sich zukommen sieht: „Darf man über Nazis Witze machen?“ Die Antwort: „Ja, aber das Lachen muss im Halse stecken bleiben.“ Und wem das zu ironisch ist,

Erstens: Im Film heißt es nicht Nazis, sondern Neonazis. Der Unterschied ist mir wichtig. Nicht weil Neonazis keine Nazis wären, sondern weil der Film heute spielt. Zweitens: Prophylaktisch hieße, daß man irgendetwas am Eintreten hindern will. Ich gebe mich aber nun kaum der Illusion hin, daß nach diesem Dialogsatz jemand sagen wird: Darf man das? Aha, das hat er im Film ja schon beantwortet, okay, man darf also. Es geht also eher um die Abbildung von Diskursen, die ohnehin stattfinden werden. Und drittens ist das nicht ironisch, sondern die Position, die man in Deutschland zu diesem Thema am meisten hört. Die ich auch nicht für falsch halte. Nur für etwas abgedroschen. Schon Robert Gernhardt, auf den ich im letzten Text schon hinwies, bemerkte einst, daß wir Deutschen Komik nicht dann am höchsten schätzen, wenn sie saukomisch ist, sondern dann, wenn sie die Tragödie streift. Bei dem Thema muß es aber leider oft genug wirklich im Hals steckenbleiben (bei Nazis noch mehr als bei Neonazis). Wenn man Komik aber nicht vom Effekt, sondern von der anderen Seite, vom Mechanismus her betrachtet, was sowieso der bessere Ansatz ist, dann war mein Ansatz ein anderer, ich habe ihn schon sehr oft benannt, aber meinetwegen nochmal: Witze nur über Akte des freien Willens. Und nur über das, was in unserer eigenen räumlichen und zeitlichen Nähe ist. Deswegen auch nix mit der NS-Zeit. Da geht es nämlich um Millionen Tote. Wir reden dagegen von Deutschland, hier und jetzt.

der kriegt noch den selbstbezüglichen Satz hinterher: „Ich finde deutsche Filme eigentlich nie witzig.“ Derart imprägniert sich der Film gegen eine Kritik, die nur ihre Humorlosigkeit beweisen kann, wenn sie ihm vorwirft, er nehme nichts ernst. Genau, grinst „Heil“ dann, ich mach mich über alles lustig, sogar über mich selbst.

Nee, das war mir schon klar, daß der halbsmarte taz-Kritiker genau das denken und bemäkeln wird. Der Satz ist auch eher resignativ: Man weiß schon, was auf einen zukommt. Und übrigens bezieht sich dieser Satz weniger auf mögliche einzelne Kritiken, schon gar nicht auf den Vorwurf, nichts ernstzunehmen, sondern auf das pauschale Geschimpfe aufs deutsche Kino, das man aus Teilen der Journaille, aber vor allem aus der Youtube-Kommentarhölle kennt. Das rollt jedesmal unvermeidbar heran wie ein Eisenbahnzug. Der Fahrplan am Bahnhof macht sich ja auch nicht über sich selbst lustig, auch nicht über den Zug, sondern sagt einfach, wann der Zug kommt.

Diskursiv tritt Brüggemann mit seinem Rundumschlag gegen alle möglichen medialen Sprecherpositionen scheinbar die Flucht nach vorn an, tatsächlich ist das eine Bewegung aus der Defensive.

„Flucht nach vorn“ sagt man gemeinhin, wenn jemand bedroht ist und sich in einen Angriff flüchtet bzw. bewußt in die Bedrohung hineinrennt. Das ist ohnehin schon eine Bewegung aus der Defensive. Der behauptete Gegensatz ist somit keiner. Den beabsichtigen Sinn dieser Aussage kann ich aber ohnehin nicht klar identifizieren. Ich sehe es eher als Kreisbewegung. Whatever.

Denn relevant ist nicht die Frage, ob man über Nazis Witze machen darf, sondern wozu.

Die Frage, ob die Witze dann eigentlich lustig sind, finde ich auch nicht ganz unwichtig, aber prinzipiell stimme ich zu.

Und darauf hat der Film keine Antwort.

Doch. Es geht bei der Auseinandersetzung mit Deutschland im NS-Kontext immer um die Frage: Ist er noch da? Haben wir Gemeinsamkeiten mit Nazis? Inhaltliche, strukturelle, ästhetische, tonfallbedingte? Welche Anteile der deutschen Geistesverfassung, die Hitler ermöglicht haben, sind heute noch wach? Diesen Fragen widmet sich der Film. Und zwar in Form eines Plots, in dem Neonazis ungehindert bzw. mit Unterstützung zahlreicher Deutscher nach Polen marschieren. Jede Szene (na gut, fast jede Szene) folgt dieser Fragestellung. Für die Antworten, die der Film da findet, lasse ich mich gern kritisieren. Aber der Autor ist hier so sehr mit pauschalem Abtun beschäftigt, daß er sich selber die Sicht auf den Film verbaut.

Er ist das quengelnde Kind, dem die ernsten Gespräche der Erwachsenen zu langweilig sind, weil es lieber spielen möchte.

Inhaltlich habe ich das schon kommentiert, die verwendete Metapher nötigt mich zu einem kurzen Ausflug in den Sarkasmus. Jawohl, Herr Studienrat! Die ernsten Gespräche der Erwachsenen zu so einem ernsten Thema wie Deutschland darf man natürlich nicht mit Gequengel stören. Und Spielen ist sowieso verboten.

Das zeigt sich schon im Vorspann, der die Titelcredits zu dynamischer Musik und einem entsprechenden Nachrichtenbilderpotpourri in alle möglichen Schriften deutscher Nachkriegsgeschichte montiert: Da wird also ein Schauspieler im ikonischen Stil des RAF-Bilds vom entführten Arbeitergeberpräsidenten Schleyer annonciert. Grafisch betrachtet eine Mordsgaudi, bildpolitisch völlig hohl.

Ja, der gesamte Vorspann ist in diesem Stil gehalten. Wir verwandeln unsere Namen in Willy-Brandt-Plakate, Kristina-Söderbaum-Vorspanntitel und Volkswagen-Werbung. Bildpolitisch ist das nicht völlig hohl, sondern sagt: Dieser Film reitet durch alles, was einem zum Thema „Deutschland“ so um die Ohren und durchs Hirn fliegt, und wir, also unsere Namen, stehen nicht in einer zweiten Ebene davor, sondern sind Teil der ganzen Chose. Wir stecken da alle drin. Soviel zur Bildpolitik. Grafisch betrachtet ist es außerdem natürlich eine Mordsgaudi, wofür ich vielmals um Verzeihung bitte.

„Heil“ ist in diesem Sinne höchstens halbsmart. Alles, was der Film durch Tempo, Gags und Überschuss reinholt, geht ihm an Reflexionskraft ab.

Bitte belegen und untermauern. So kann ich nur auf gleichem Niveau erwidern: Stimmt doch gar nicht (oder halbsmarte Retourkutschen fahren, was weiter oben schon erledigt wurde). „Reflexionskraft“ scheint mir aber auf die Suche nach dem „Eigentlichen“, nach der „Aussage“ hinauszulaufen, zu der ich mich zuvor schon geäußert habe.

Intellektuell siedelt er auf dem Niveau seines Rausschmeißersongs „Splitter von Granaten“, in dem Adam Angst unspezifisch-indifferenziert Unbehagen ausdrückt (“Doch worum es gerade geht, wissen wir selbst nicht so genau“).

Falsch, der Song ist ausgesprochen spezifisch – er ist eine Aufzählung von ganz konkreten Dingen, die in der Welt gerade aus dem Ruder laufen, und kontrastiert das mit unserem immer noch ganz beschaulichen deutschen Alltagsleben („der Hunger in der Dritten Welt hat keine Relevanz, aber wichtig sind uns Petitionen gegen Markus Lanz“). Grundgefühl ist der Verdacht, daß es hier auch irgendwann knallen könnte. „Indifferenziert“ ist kein gebräuchliches Wort, man ist entweder indifferent oder undifferenziert. Ich schätze, der Autor meint das letztere, und entgegne: Undifferenziertes Unbehagen ist doch erstmal gar keine so schlechte Sache, sofern man es mit präzise beobachteten Einzelheiten untermauert. Den Zuschauer mit undifferenziertem Unbehagen nach Hause zu schicken scheint mir ehrlicher als ein großes Fazit zu ziehen und als Lösung zu präsentieren. Das fände ich nämlich etwas anmaßend (außerdem, seien wir ehrlich, würde es dafür doch von der Kritik erst recht Kloppe geben).

Brüggemann will wirklich nur spielen, mit „deutschen Befindlichkeiten“ etwa, was für Nazis, die Menschen umbringen, aber eine, vorsichtig gesagt, ulkige Kategorie ist.

Achtung, bodenlos platter Witz: Es handelt sich ja auch um einen Spielfilm. Ich finde, in der Doppelbedeutung dieses Wortes im Deutschen steckt eine gewisse Weisheit. Der abschätzige Vorwurf, man wolle nur spielen, zeugt aber auch von einer gewissen Ahnungslosigkeit zum Thema „Spiel“. Matthias Dell war anscheinend schon lange nicht mehr Kind, sonst wüßte er: Spiel ist existentiell und todernst. Sieht man doch schon jedes Wochenende beim Fußball. Und schließlich will ich gar nicht nur spielen (im Sinne von heiti-teiti-lari-fari-lustig-tralala). Sonst hätte ich das Umbringen von Menschen komplett aus dem Film rausgelassen. Es passiert aber in aller Brutalität. Mitten aus dem Spiel heraus. Und um die Textanalyse mal in aller haarspalterischen Konsequenz zu Ende zu führen: Worauf bezieht sich der Begriff „Kategorie“? Auf deutsche Befindlichkeiten oder auf das Spielen-wollen? Spiel ist keine Kategorie, sondern zum einen soziale Praxis (bei Kindern), zum anderen ein Ritual mit festgelegten Regeln (Gesellschaftsspiele und Sport), drittens ein Modus in der Annäherung an ein Thema. Letzteres dürfte gemeint sein. Der Autor will also vermutlich sagen, daß der Ansatz des Films angesichts der ernsten Materie frivol sei. Kommentar dazu siehe oben. Vielleicht will er aber auch sagen, daß das Lächerlichmachen von „deutschen Befindlichkeiten“ angesichts mordbereiter Nazis ein ulkiger (lies: gefährlich naiver) Ansatz ist. Das sehe ich anders, denn das eine hat mit dem anderen zu tun.

In einer Kritik für das inzwischen eingestellte

Ich geb‘s zu, wir waren nicht stark genug.

Magazin Schnitt lobte der Regisseur als Kritiker 2006 an Armin Völckers Kurzfilm „Leroy räumt auf“, der von ähnlich grobkomödialer Gegensätzlichkeit lebte wie „Heil“ (afrodeutscher Teenager verliebt sich in Frau mit Nazi-Brüdern), „die Nonchalance, mit der er dem sonst oft tonnenschweren Deutsche-Skins-Ausländer-Thema einfach eine lange Nase dreht“.

Endlich haut mir mal einer meine alten Texte um die Ohren. Darauf warte ich schon die ganze Zeit. Ich war jung, und Geld gab‘s eh keins. Es gibt aus dieser Zeit vermutlich Texte, für die ich mich heute in Grund und Boden schämen müßte, aber diesen finde ich weiterhin vertretbar. Der Kurzfilm war gut. Der Langfilm dann nicht mehr so, weil nämlich genau diese die Nonchalance im Kurzfilm bestens funktioniert, während ein Langfilm mehr Schwungmasse benötigt.

Manche mögen‘s leicht.

Das hat er auch als Titel über den ganzen Text gesetzt. Man kann dazu allerhand einwenden.

Mögliche Antwort 1: So ein postpubertäres Filmreferenzwortspiel erscheint mir angesichts mordbereiter Nazis eine, vorsichtig gesagt, ulkige Kategorie.

Spaß beiseite, mögliche Antwort 2: Ja, zum Beispiel Kurt Tucholsky, als er 1931 angesichts des heraufziehenden Naziterrors in Schweden saß und „Schloß Gripsholm“ schrieb. Das führt uns direkt in die….

Mögliche Antwort 3: Hier schwingt wohl mal wieder das fatale deutsche Mißverständnis mit, Komik, und Leichtigkeit immer nur als eine Art Luxusprodukt zu betrachten, das man sich leisten kann, wenn man keinerlei Probleme hat und steinreich ist. Dabei weiß jeder, der auch nur mal ein bißchen über den eigenen Großstadt-Intelligenzia-Tellerrand geguckt hat (dafür reicht schon Zivildienst, meine Güte), daß Humor gerade bei den Benachteiligten, Entrechteten und Geknechteten dieser Welt eine Strategie des Überlebens und der Selbstbehauptung ist.

Mögliche Antwort 4: Der Titel „Some Like it Hot“ ist affirmativ, er fordert auf: Nehmt euch daran ein Beispiel! Traut euch in die Hitze! Der Autor dreht hier (vermutlich unbewußt) die Implikation um, er mag es gern schwer und findet das Leichte zumindest verdächtig. Dem variierten Filmtitel verleiht er damit einen tadelnden Unterton und tut seiner eigenen Sache keinen Gefallen. Wirkt nämlich ein bißchen unsympathisch.

Mögliche Antwort 5: „Heil“ ist nicht leicht. „3 Zimmer Küche Bad“ war leicht.

Sosehr man sich an institutionalisierter Erinnerungsroutine stoßen kann – der Wunsch, dass es mit dem Thema „Nazis – Ausländer“ auch mal locker vom Hocker gehen könnte, ist auf seine Weise naiv.

Was ich dagegen naiv finde, ist erstens die Unfähigkeit, zwischen Signifikant und Signifikat zu unterscheiden. Der Autor erscheint mir die ganze Zeit wie ein Theaterbesucher, der auf die Bühne stürmt, um Macbeth am Morden zu hindern. Und naiv ist zweitens die Weigerung, das Grausige und das Groteske nebeneinander zu ertragen. Was doch einfach eine gesteigerte Variante der Banalität des Bösen ist. (Übrigens, kleiner Gruß aus der Küche, niemand hat diesen Film „locker vom Hocker“ gemacht. Eher schon todernst auf dem Bürostuhl.)

Deutlicher gesprochen: die Nachgeborenenversion des Schlussstrichwunschs.

Oh, das hat ja lang gedauert, aber da kommt er endlich um die Ecke, der gute alte NS-Relativierungs-Vorwurf. Hallo, Deutschland.

Man muss sich „Heil“ deshalb als Verfilmung einer mittelmäßigen Facebook-Debatte vorstellen: Alle möglichen politischen Positionen verwandeln sich in lustiges Geplapper, die vielen Promi-Freunde liken

Das bezieht sich auf die zahlreichen Gastauftritte, für die es aber einen anderen Grund gibt. Es ist derselbe wie bei den Vorspanntiteln: Du bist Deutschland. Wir stecken alle drin. Beispielsweise ein Johnny Haeusler, der in unseren Medien für etwas bestimmtes steht, verleiht der Rolle sowohl symbolisch (durch seinen Namen, falls man ihn denn kennt) als auch auratisch (durch seine Präsenz als Mensch) eine andere Qualität, als wenn es einfach irgendwer gewesen wäre. (Am Rande: Dieser leicht mißgünstige Unterton bei „die vielen Promi-Freunde“, den man auch in anderen Kritiken findet, der ist auch ziemlich, sorry, deutsch. Ich drehe seit Jahren nebenher viele Musikvideos für fast kein Geld, das tue ich aus Liebe und Enthusiasmus, aber ganz bestimmt nicht, weil man dadurch „Promi-Freunde“ bekommt. Und Kunze war ein Vorschlag von einer Schauspielagentur. Ich finde außerdem, daß das den Film reicher und welthaltiger macht, weil das alles ganz prägnante Typen sind. Könnte man sich doch auch mal freuen. Stattdessen läßt man Mißgunst walten.) (Ganz am Rande: Der Vergleich stimmt nicht, denn im typischen Facebook-Thread findet man zumeist nicht alle möglichen politischen Positionen, sondern nur eine einzige, alle stimmen einander zu und echauffieren sich über einen Gegner, der aber gar nicht anwesend ist. Pöbelschlachten gibt es eher in Blogkommentarspalten. Vielleicht meint er auch einen Spaziergang durch die Timeline, aber dann soll er das schreiben.)

und ratzfatz ist man da, worüber sich der Anfang noch lustig machen wollte – bei Hitler.

Was bitteschön soll das heißen? Im Rahmen des gewählten Bildes, also bei Onlinedebatten, ist es ja klar, da landet man schnell bei Hitler, aber im Rahmen der hier behaupteten Analogie zum Film wüßte ich jetzt mal ganz gern, wie  ich den zweiten Teil verstehen darf. Beschuldigen im Film Leute sich gegenseitig, Nazis zu sein (so wie in Onlinedebatten)? Na klar, tun sie dauernd. Oder will Matthias Dell hier den Film selber in die NS-Ecke stellen? Und mir unterstellen, ich würde eine Schlußstrichdebatte fordern und wäre eigentlich wie Hitler?
Hallo?
Geht’s noch?
Wenn ja, dann dankeschön. Von genau dieser Idiotie handelt der Film. Proved my point.

Über Hitler wollte ich mich übrigens nie lustig machen. Nichts im Film deutet darauf hin. Wer das behauptet, ist böswillig oder hat im Film gepennt. Eigentlich wollte ich vor allem, daß alle Deutschen sich totlachen und dann von diesem Land nie wieder eine Gefahr ausgeht, weil alle tot sind. Und weil das wieder so ein Witz aus der Kategorie ist, bei der unser innerer Oberstudienrat gequält das Gesicht verzieht, versuche ich im letzten Absatz jetzt mal ein ernstgemeintes Fazit.

Die Diskussion über den Film erinnert mich an den alten katholischen Witz vom Pfarrer, der seinen Bischof fragt, ob er beim Beten rauchen darf. Die Antwort lautet: Natürlich nicht, das wäre respektlos. Ob man aber beim Rauchen beten darf? Na klar, beten darf man doch immer. Ersetzen wir mal „Beten“ durch „Nazis thematisieren“ und „Rauchen“ durch „Deutschland verarschen“, und schon hätten wir das Dilemma beim Kragen gepackt. Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, was man als primär und was man als sekundär begreift. Beim Thema „Nazis“ stehen wir automatisch stramm, auf eine immer noch ziemlich deutsche Art. Da verbietet sich jeder Witz, weil Witz ja immer mit überraschenden Bedeutungswechseln hantiert, und an so etwas darf man da noch nicht mal denken. Beim Thema „Deutschland“ ist dagegen jeder Modus erlaubt, da kennt der Witz keine Grenzen, da ist auch der hemmungslose Idiotenklamauk eigentlich sogar Pflicht. Ein Film über Nazis muß also strammstehen und die Hacken zusammenknallen vor der Wichtigkeit des Themas. Okay. Aber den wollte ich nie machen. Es ist nämlich ein Film über Deutschland, hier und heute, anhand von Nazis. Und der ging leider nur als schwarze Komödie. Sorry. Was ich dabei nicht bedacht hatte: „Nazis“ ist immer noch so ein Reizwort, daß es automatisch zum Primärreiz wird. Und schon macht es alles mit sich voll und verbietet jeden Witz. Wir sind in der Zwickmühle: Genau das, was bei „Deutschland“ erlaubt bis geboten ist (durch den Kakao ziehen, und zwar mit Respekt vor gar nix), verbietet sich bei „Nazis“. Lösbar ist es nur, wenn man die beiden Felder voneinander separiert, indem man Nazithemen in die dafür vorgesehene Nazischublade legt und bei der Bearbeitung in den Nazimodus schaltet. Und genau das erscheint mir falsch. Denn es ist doch viel relevanter und wichtiger, das Thema eben nicht abgekapselt zu betrachten, als separates „Thema“, das man „thematisiert“, zu dem man die vorgeschriebenen Betroffenheitsgesten absolviert, das man dann wieder beschließt und weiter sein Bier trinkt. Sondern als eine logische Konsequenz des größeren Themas „Deutschland“, die uns nie verlassen wird und immer wieder mal den Kopf hervorstreckt, auch wenn man eigentlich gerade an was anderes denken wollte. Ich finde, das ist das Gegenteil einer Schlußstrichforderung.

Kritik der Kritik

„Der von guten Schauspielern getragene Film attackiert gesellschaftliche Doppelmoral sowie die ,Wiederholbarkeit von Geschichte‘, ohne sonderliche inszenatorische Dichte und dramaturgisches Geschick zu entwickeln. Die Gelegenheit zu einer überzeugenden und entlarvenden Satire bleibt weitgehend ungenutzt.“

Eines meiner liebsten Bücher heißt „Some Like it Not“ und ist eine Kompilation von Verrissen zu Filmklassikern. Die Botschaft ist klar: Kritiker schreiben oft auch ziemlichen Mist. Man kann es aber auch gegen den Strich lesen, dann lautet die Message: So manchen Klassiker kann man auch mal etwas niedriger hängen. Man kann es außerdem, drittens, einfach als Dokument lesen, wie sich mit der Zeit die Blickwinkel verändern. Und man kann sich viertens auf gar keine Seite schlagen, sondern einen Schritt zurücktreten und sozusagen meditativ den Diskurs betrachten, der kein Wahr und kein Falsch kennt,  sondern wo alle nur fortwährend fröhlich aufeinander eindreschen. Dieser Standpunkt ist mir eigentlich sogar von allen der liebste, denn Film ist Diskurs. Drehbücher entwickelt man diskursiv, Dreh und Schnitt sind diskursive Prozesse, auch die Interaktion eines Films mit dem Publikum funktioniert letzten Endes so. Nur ganz am Ende kommt dann der Kritiker, fällt sein Urteil und hat das letzte Wort. Diskurs beendet. Schon als ich selber noch Filme rezensiert habe, fand ich das eigentlich seltsam.

Seit gestern läuft mein neuer Film „Heil“ in den Kinos. Die Reaktionen sind gemischt. Das bedeutet keineswegs, daß sie alle ablehnend sind. Es gibt genügend, die loben, jubeln, preisen oder kritisch würdigen. Ich bin sowieso in der angenehmen Lage, daß der Film schon bei zwei Gelegenheiten (Karlovy Vary und Jerusalem) von internationalem Publikum begeistert aufgenommen wurde, aber ich war natürlich gespannt, was die deutsche Presse dazu sagt, und werde mich im folgenden kurz zu dem äußern, was sie so sagt. Es sind vor allem zwei Punkte: Einerseits ein paar merkwürdig überzogene Wutanfälle, andererseits Dinge, die überhaupt nicht wahrgenommen werden, und zwar nicht in der Interpretation oder Wertung, sondern schon in der Analyse, also beim Inhalt des Films.

Zunächst, wie gesagt, ein paar Verrisse, teils als Wutanfall, teils eher herablassend. Der Tenor ist meistens: Deppenkomödie, Nazis als Witzfiguren, höhö, Schenkelklopfer, tumbe Skinheads im Osten, platt, doof, billig. Diese Sichtweise erscheint mir zum einen sehr verengt – die Komik im Film bespielt eine deutlich größere Bandbreite als das, was da in den Vordergrund behauptet wird. Auch thematisch ist es verengt, der Film handelt nicht nur von Nazis und spielt auch überwiegend nicht im Osten, sondern an Orten und Nicht-Orten in ganz Deutschland – private Eliteuniversitäten, Fernsehstudios, Berlin, Autobahnraststätten, informelle Treffen von Adel, Geldadel, Wirtschaft und Politik und so weiter. Aber selbst wenn man sich auf diese verengte Sicht einläßt, erscheint mir dieser pauschale Ruf nach mehr Niveau immer noch sehr fragwürdig. Lachen ist eine physische Entladung. Laut einem bekannten Spruch gibt es auch keinen niveauvollen Orgasmus. Der vielgepriesene britische Humor ist ja auch keineswegs nur subtil und niveauvoll, sondern pflegt eben ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Intellektualität und ausgesprochener Drastik. Und vor allem finde ich dieses pauschale Platt-Finden selber etwas platt. Im Sinne von: Ungenau. Machen wir doch mal ein Experiment und reden in genau diesem Tonfall über ein paar andere Filme, beispielsweise diesen:

Männer in Frauenkleidern treten einer Damenkapelle bei, höhö, ein alter Sack rafft nicht, daß seine Angebetete eigentlich ein Mann ist, harhar, ein Festival des Schenkelklopfens, und dann muß auch noch die Mafia für abgeschmackte Witze herhalten. (Im eingangs erwähnten Buch finden sich übrigens tatsächlich Rezensionen diesen Inhalts). Oder dieser: Die doofe Masse rennt einem armen Wicht hinterher und hält ihn für den Messias, alle schreien im Chor „wir sind alle Individuen“, harhar! Sind die dämlich! Ich schmeiß mich weg! Die Widerstandsgruppen sind heillos zerstritten! Witz aus der Mottenkiste! Und dann dieser eitel tabubrecherische Gestus – eine Komödie über Jesus – höhö! Der fällt dann auch noch zu Aliens in ein Schrottraumschiff, dem er dann endgültig als Messias entsteigt, platter geht‘s nicht, so kommt man dem Phänomen Religion nicht bei, da ist ja keinerlei Erkenntnisinteresse oder Hintersinn, nichts wird hinterfragt, nur Oberfläche, immer nur das Naheliegende. – Wie wir sehen, klappt das hervorragend. Komik ist nämlich immer kontaminiert. Aus diesem Blickwinkel darf man einfach gar keine Komödien machen (oder sollte keine gucken). Wir brauchen also präzisere Instrumente.

Denn es gibt ja wirklich eine Art von Komik, mit der ich selber nichts zu tun haben will. Es gibt genug deutsche (und französische, amerikanische, sonstige) Komödien, die ich selber als unerträglich platt empfinde. Andere sind wiederum brillant, beispielsweise „Bridesmaids“ (den man aber auch mit dem obigen Vokabular verdammen könnte). Komik ist eben nicht nur Geschmackssache, kann man da durchaus fundiert argumentieren, ich empfehle hier Robert Gernhardts gesammelte Humorkritik, in der er sich auch eingehend mit der Rezeption der von ihm mitverantworteten ersten „Otto“-Filme auseinandersetzt. Also, wo liegen die Qualitäten? Ich schlage mal vor: 1. im Detail, 2. im Material, 3. in einer gewissen Weltoffenheit sowie 4. in thematischer Geschlossenheit. Die Detailarbeit läßt sich kaum beziffern, aber wer nicht böswillig oder vernagelt ist, erkennt sie. Das Material ist dagegen klar erkennbar. Unsere Richtschnur war immer: Witze nur über Dinge, die Leute aus freiem Willen tun. Also keine Scherze über Hautfarbe, sexuelle Orientierung (Sacha Baron Cohens „Brüno“ fand ich schon gleich am Anfang unerträglich), Körperumfang etcetera. Es wäre z.B. wahnsinnig naheliegend gewesen, sich darüber lustig zu machen, daß der sehr ausladende Neonazi Kalle nicht durch die Luke des Panzers paßt, aber wir haben es gelassen und vieles andere auch. Weltoffenheit bedeutet, daß ein Film sich nicht nur auf andere Filme bezieht und Genre-Formeln wiederholt, sondern sich auch für die Dinge interessiert, die da draußen passieren (was z.B. eine Qualität von „Fack ju Göhte“ war). Und thematische Geschlossenheit heißt, daß man nicht wahllos alles abschießt, was einem so einfällt, sondern sich mit einem Thema befaßt und es zu durchdringen versucht. Bei „Bridesmaids“ war das der absurde amerikanische Kult um die Eheschließung. Hier ist es: Deutschland heute. – Diese vier Kriterien wären mal ein Versuch, Instrumente der genaueren Analyse zu entwickeln. Man kann bestimmt auch noch andere finden. Ich kann nur sagen, daß ich mich auf all diesen Gebieten redlich bemüht habe. Da hätte man den Film durchaus kritisch betrachten können, es ist garantiert nicht alles perfekt gelungen, vielleicht ist er sogar nach solch präziseren Kriterien total schlecht, aber einfach nur „platt“ zu schreien erscheint mir platt.

(Edit: Es gibt natürlich noch eine fünfte, ganz grundlegende Kategorie, und das ist das Spiel. Komödienstandard ist hier: Übertreibung, zappeln, grimassieren, dem Affen immer noch ein Stück Zucker geben. Wurde von mir hier alles weitestgehend unterbunden zugunsten von Understatement, alltagsnahem Tonfall, Tempo. Hat erfreulicherweise jemand gemerkt, von dem ich es nicht gedacht hätte, siehe Zitat ganz unten.)

Es gibt dann noch einige Rezensionen, die sich im Ton vergreifen und persönlich werden. Peter Körte argwöhnt in der FAS, ich selber sähe mich da als einzige Instanz mit Durchblick, was ich aber nicht tue, im Gegenteil, und Rainer Gansera giftet in der SZ in einem Tonfall, der sich eigentlich selbst kommentiert, allerdings nicht nur über den Film, sondern vor allem über den Regisseur. Ich kenne Rainer Gansera nicht persönlich, ich habe keine Rechnung mit ihm offen, über den Film soll er schreiben, was er will, aber wenn er mich so persönlich anpöbeln will, dann kann er das gern in gleicher Münze zurückbekommen: Ganseras Text liest sich wie das selbstgerechte Gekeife eines bedauernswerten alten Mannes im Park, der spielende Kinder anschreit und herumschimpft, daß früher alles besser war. Bitteschön. Gern geschehen. War ganz einfach.

Zugleich ist dieser Tonfall aber auch eine merkwürdige Bestätigung. Was mir nämlich seit geraumer Zeit auffällt, ist der grobe Ton, mit dem in diesem Land öffentliche Debatten geführt werden. Der deutsche Feuilletonist, persönlich meist feinsinnig und zurückhaltend, verwandelt sich zuweilen in eine Giftspritze, wenn er zur Feder greift. Im Internet hat sich das nochmal verschärft. Viele der Dialoge des Films wurden direkt davon beeinflußt, wie die Leute im Netz miteinander umspringen. Der „Rant“ (ein schriftlicher Wutanfall) ist mittlerweile eine etablierte Textgattung. Ich finde das problematisch. Ich könnte sogar sagen: Ich finde das strukturell faschistoid. Mache ich aber nicht, denn die Leute, die sich sprachlich so munitionieren, sind Teil des Problems. Aber daß ein Film, der das aufspießt, selbst dann wieder genau dasselbe Geschimpfe auslöst, gibt mir auf traurige Weise recht.

Der zweite große Punkt ist aber ein anderer. In Filmkritiken referiert man ja meist kurz die Handlung und versucht den Film zu beschreiben. Und da gibt es eine Sache, die anscheinend niemandem aufgefallen ist. Man liest da in den Kritiken, und auch in den lobenden kommt es gelegentlich als Einwand: Der Film schießt hemmungslos in alle Richtungen, weiß gar nicht so richtig, was er will, ist eine Nummernrevue, hat am Ende kein sinnvolles Fazit, teilt in alle Richtungen aus und landet keinen Treffer. Und das, mit Verlaub, stimmt nicht. Es ist nämlich eigentlich ganz einfach:

Eine Horde Nazis will in Polen einmarschieren und kriegt Hilfe aus allen Teilen der deutschen Bevölkerung.
Das ist der Plot.
Fertig.

Damit erledigt sich der Vorwurf der Nummernrevue – natürlich ist eine Komödie auch immer eine Nummernrevue, aber jede Szene bringt unsere Leute ihrem Ziel ein Stück näher. Und die Deutschen, die ihnen helfen, sind nicht alles insgeheim noch Nazispießer (manche schon), sondern zu sehr mit sich selbst und ihren zweieinhalb Ideen beschäftigt, an denen sie sich ängstlich festklammern. Oder sie haben keine inhaltlichen, aber strukturelle Gemeinsamkeiten mit den Faschos. Oder sie haben sich eigentlich gar nichts zuschulden kommen lassen, aber stehen für einen Teil der deutschen Seele, der mir erzählenswert erschien. Die zahllosen Figuren stehen also keineswegs beziehungs- und richtungslos nebeneinander, sondern haben jeweils einen Zweck. Witzfiguren sind sie nicht aus Jux und Dollerei, sondern darin, daß sie den Nazis Hilfestellung leisten oder sich ihnen nicht entgegenstellen. Und während all das passiert, läßt die Bundesregierung sich ein neues Logo für „Deutschland als Marke“ designen, das nach Nazischrift aussieht, was aber keinen stört.

Wie gesagt, das ist keine mögliche Interpretation, die ich gern irgendwie gelesen hätte, sondern es sind die handfesten Dinge, die im Film gut sichtbar stattfinden und ineinandergreifen. Was offenbar keiner erkennt. Auf etwas schräge Weise doppelt das sogar die Handlung des Films (Nazis wollen in Polen einmarschieren, aber keiner kriegt es mit). Vielleicht habe ich mir das selbst zuzuschreiben. Vielleicht passiert einfach zu viel. Aber eigentlich liegt die Handlung doch offen zutage, dachte ich.

Interpretieren kann man es dann natürlich immer noch, indem man zum Beispiel Polen als Platzhalter für Griechenland nimmt. Kritisieren könnte man es auch, man kann das falsch finden oder ungehörig oder als bodenlose Spekulation abtun. Aber dafür müßte man es erstmal erkennen. Selbst wenn man es nicht erkennt, sollte man aber die Gewichtung erkennen und mir nicht wahllose Gleichmacherei vorwerfen – die Rechten bereiten einen Krieg vor und bringen reihenweise Leute um, die Linken sind zu sehr mit Terminologiestreitigkeiten und Grabenkämpfen beschäftigt, um sich ihnen in den Weg zu stellen, was ja in der Weimarer Republik nicht ganz anders war. Ich würde den Film auch niemals als präzises, ausgewogenes Portrait eines Landes bezeichnen, genausowenig wie „Funny Games“ eine heitere Landhauskomödie ist. Nein, es ist einfach ein nihilistischer Film über Deutschland als Alptraum.

Und wo bleibt das Positive? Das Fazit? Die große Linie? Der Erkenntnisgewinn? Einige Kritiken scheinen mir auf diese Frage hinauszulaufen. Erkenntnis wird sogar irgendwo wörtlich gefordert. Aber im Alptraum gibt es nichts Positives, kein Fazit, keine Erkenntnis. Vielleicht nach dem Aufwachen. Aber die Idee, daß ein Film sein Fazit eben nur in der Negation enthält, als Leerstelle, als Frage im Kopf des Zuschauers, damit ist anscheinend nicht so leicht klarzukommen (solange der Film nicht von vornherein im salbungsvollen Gestus des Fragestellens daherkommt und dem Kritiker die Interpretation von Anfang an serviert).

Der Rest ist meist Geschmackssache, aber auch nicht nur. Hans-Georg Rodek behauptet in einem ansonsten halbwegs wohlwollenden Text der „Welt“, unser Film nehme anders als „Four Lions“ die Handlungen seiner Figuren nicht ernst, weswegen sie nicht sterben müßten. Da muß ich widersprechen, denn sie sterben bei uns auch, das ist nicht Geschmackssache, sondern im Film deutlich erkennbar. Der Chef erschießt seine eigenen Leute und hält gleich darauf eine Heldenrede auf sie. So funktioniert Krieg nun mal. Der Chef selber überlebt allerdings und haut den Zuschauer zum Abschied ins Gesicht, denn ich hätte es als extrem falsch empfunden, diesen Film mit einem Happy Ending zu beschließen, bei dem die Nazis besiegt sind.

Das kursive Zitat ganz oben bezieht sich übrigens nicht auf „Heil“, sondern stand 1992 über „Schtonk!“ im Filmdienst. Habe es nicht lange gesucht, man findet es auf Wikipedia. So ist es nun mal, das deutsche Feuilleton. Dem Humor prinzipiell aufgeschlossen (wenngleich er in der ganz hohen Kunst natürlich nix verloren hat), aber doch bitte mit etwas mehr Niveau und am Ende einer faßbaren Conclusio. So ist das nun mal in diesem Land, davon handelt der Film, und daß er das am Ende auch wieder hervorruft, liegt in der Natur der Sache, denn Film ist nun mal Diskurs.

Nachtrag: Nebenbei fiel mir noch auf, daß der Film in wirklich sämtlichen Rezensionen komplett auf seinen Inhalt reduziert wird. Nie ein Wort zu den Schauspielern, zur Ästhetik, zu Kamera und Schnitt, zur Musik, zum audiovisuellen Gesamteindruck. Es geht immer nur um das, was nacherzählt werden kann. Finde ich schade, war aber zu erwarten, das Thema selbst macht in den Köpfen alles andere platt.

Nachtrag 2: Die internationale Presse hat einen etwas anderen Blickwinkel. Tom Christie schreibt auf Indiewire: „It’s precisely the sort of comedy Germany needs, not that they will necessarily appreciate it.“

Nachtrag 3: Ekkehard Knörer war nach meinem Berliner-Schule-Brief sauer und lebte das in zwei wütenden Verrissen zu meinen darauffolgenden Filmen aus. Ich dachte, das geht jetzt immer so weiter, aber stattdessen überraschte er mich in einem Kommentar auf Facebook, den ich vor lauter Freude hiermit hierher kopiere und damit konserviere: „…ich habe viel gelacht, hat gute Witze, hat gute schlechte Witze, hat gut bei den Pythons geklaute Witze (Weit Bauer) und ein paar Rohrkrepierer hat er auch. Gegen Ende ist es noch am ehesten doof, weil da plötzlich zu viel Plot noch zuende gebracht werden muss. Toll aber, was er aus den Darstellern rausholt, die sprechen sehr nah am Leben und haben fast ausnahmslos ein verdammt gutes Timing und man muss ja nur andere deutsche Komödien sehen, um zu wissen, was das für eine Kunst ist. Ich verstehe auch die ganzen Kritiken, die Haltung vermissen, nicht wirklich. Ist doch mehr als klar, wogegen das geht, Dummheit ist leider die am besten verteilte Sache der Welt, da muss man auf allen Seiten voll auf die Zwölf gehen, das ist nur konsequent. Am Ende wünschen sich die, die Niveau und Haltung fordern, womöglich sowas wie die „Anstalt“ oder die „heute-show“, gruselig, da ist „Heil“ aber tausendmal besser. Und der beste Brüggemann-Film sowieso.“

Ideenklau

Seit einigen Tagen behaupten zwei Filmemacher aus Leipzig, mein neuer Film „Heil“ beruhte auf einer Idee, die ich ihnen geklaut hätte. Sie haben es nicht für nötig gehalten, sich erstmal bei mir oder den Produzenten zu melden, sondern sind damit gleich an die Öffentlichkeit gegangen. Ich habe ihnen soeben eine Mail geschrieben, und die veröffentliche ich jetzt auch. Hier wäre sie.

Hallo!

Ich mache jetzt mal das, was ihr nicht gemacht habt, und nehme direkten Kontakt auf.
Ihr seid also der Meinung, ich hätte eure Idee geklaut.
Wieso schreibt ihr uns dann nicht erstmal persönlich an, sondern geht stattdessen gleich zur Bildzeitung und ruft auf Facebook zum Shitstorm auf? Wenn ich den Verdacht hätte, daß mir eine Idee geklaut worden sei, dann würde ich das jedenfalls nicht so machen.

Aber erstmal zu den Fakten: Ich hatte von eurem Film bis gestern noch nie gehört. Auch nicht von dem Kurzfilm. Sorry. Eure Kampagne ging 2013 online. Wir haben unsere Idee seit 2012 entwickelt (was wir auch nachweisen können). Wir haben also parallel daran gearbeitet. Wenn mir jetzt jemand sagen würde: Dietrich! Da ist ein Film mit einer ganz ähnlichen Handlung! Die haben bei dir geklaut! – dann würde ich mir keine großen Gedanken machen. Und wenn ihr jetzt sagt: Hey, das ist so eine krasse Übereinstimmung – das ist OFFENSICHTLICH geklaut! – dann sage ich: Nein. Sowas kann tatsächlich passieren. Die Wahrheit ist nämlich: Die Idee ist nicht besonders originell. Weder eure noch meine. So etwas hat es in diversen Abwandlungen immer wieder gegeben. Ob es der schwarze Nazi bei Dave Chapelle ist oder der deutsche Film „Leroy“ von 2007, in dem ein schwarzer Junge sich in ein Mädchen verliebt, das aus einer Nazifamilie kommt und vier Skinhead-Brüder hat. Es geht immer um Gegensätze, die direkt aufeinanderprallen, entweder inmitten einer Person oder halt in einer engen Beziehung. Sowas kann man sich dutzendweise ausdenken. Ein paar Beispiele gefällig? Voila:

-Ein schwarzer Schauspieler, der wegen seiner Hautfarbe wenig Engagements beim Film hat, muß in einem Hörspiel Adolf Hitler sprechen und steigert sich so in die Rolle hinein, daß er am Ende glaubt, er wäre selbst Hitler.
-Eine Nazi geht in ein Dunkelrestaurant, verliebt sich in die Kellnerin, von der er immer nur die Stimme hört, und geht immer wieder in das Restaurant. Als er sie endlich bei Tageslicht sieht, ist sie schwarz. Oder ersatzweise: Radiosprecherin statt Dunkelrestaurantkellnerin.
-Ein Nazi bekommt bei einer Herztransplantation das Herz eines Schwarzen, stürzt in eine Identitätskrise und ist am Ende geläutert. Dann versagt das Herz, er bekommt ein neues, diesmal von einem Nazi, und alles ist wieder beim alten.
-Ein Schwarzer bekommt bei einer Herztransplantation das Herz eines Nazis und stellt auf einmal fest, daß er selber fremdenfeindliche Anwandlungen entwickelt und eine unkontrollierbare Tendenz zum Hitlergruß hat. Er macht das beste daraus, geht nach Afrika und wird Warlord.
-Ein Nazi und ein Schwarzer kriegen einen Stromschlag und erwachen im Körper des jeweils anderen. Der Nazi macht (als fremdenfeindlicher Schwarzer) große Medienkarriere, währen der Schwarze (als Nazi) verzweifelt die Wahrheit erzählen will, die ihm natürlich keiner glaubt.

Fünfeinhalb wahnsinnig originelle Ideen! Habe ich mir allesamt gerade ausgedacht! Hat mich fünfeinhalb Minuten gekostet. Die könnt ihr mir gern alle sofort klauen. Aber soll ich euch was verraten? Ich finde die alle gar nicht so originell. Ebensowenig wie eure oder meine. Meine ist nämlich uralt und tatsächlich nicht von mir: Jemand bekommt einen Schlag auf den Kopf, verliert daraufhin sein Gedächtnis und plappert alles nach. Dann kriegt er einen zweiten Schlag, und schlagartig ist sein Gedächtnis wieder da. Und beim nächsten Schlag wieder weg. Und so weiter. Das ist nicht euer Plot, oder? Wäre ja auch egal, es ist einer der ältesten Slapstick-Witze. Ich weiß nicht, ob ich das bei Laurel & Hardy geklaut habe oder bei Micky Maus oder Asterix oder Pumuckl oder Didi & Stulle, oder wo die das jeweils geklaut haben. Das ist geradezu provokant dämlich und garantiert keine alleinige Basis für einen Film. Die steckt nämlich in der Ausarbeitung und in der Welt, die man erschafft. Ich glaube, das wißt ihr so gut wie ich.

All das wird vielleicht in unserem Trailer nicht so klar. Aber wenn man die beiden Filme nebeneinander sieht (oder vielleicht besser nacheinander), bin ich ganz zuversichtlich, daß da von dem Vorwurf nicht viel übrigbleiben wird, weil sie eben einfach sehr unterschiedlich sein werden. Der eine ist nämlich von euch und der andere von mir.

Als ich 2012 mit meinem Projekt anfing, wußte ich aus Gesprächen mit anderen Filmleuten, daß diverse Projekte unterwegs sind, die irgendwie ähnlich gelagert sind – meistens mit direkt aufeinanderprallenden Gegensätzen, siehe oben. Die Zeit war anscheinend reif für so etwas, aber die Ideen, von denen ich hörte (eure war wie gesagt nicht dabei), die fand ich alles nicht so wahnsinnig sensationell. Was mich an meinem Film viel mehr interessiert hat, war ein Rundumschlag, in dem ganz Deutschland links und rechts geohrfeigt wird. Sowas hatte es noch nicht gegeben. Travestiespiele mit Gegensätzen dagegen genügend. Als Aufhänger für unsere figurenreiche Geschichte war es wunderbar, vor allem auch in der unschuldigen Chaos-Freude, die unsere gedächtnislose Hauptfigur im Film versprüht, aber das, was mich darüberhinaus vor allem interessierte, war eine hemmungslose Gesellschaftssatire. Und deswegen würde ich mich nicht groß aufregen, wenn mir jetzt jemand die Grundidee klauen würde. Auf die bilde ich mir nämlich kein Urheberrecht ein. Gedächtnisverlust ist erstens Comedy-Allgemeingut, eine willenlose Marionettenfigur als Sprachrohr eines Bösewichts ist zweitens auch nicht neu, und der Schlag auf den Kopf, ausgeführt von Nazis, ist drittens leider bittere Realität. Jeder nimmt seine Bausteine irgendwoanders her. Ihr auch. Also hört doch bitte auch mal auf, euch allein auf euren Plot (der sowieso mit meinem nicht identisch ist) so viel einzubilden. Wenn ihr einen tollen Film daraus gemacht habt, dann um so besser, den kann euch dann nämlich sowieso keiner klauen.

Und hört bitte auch auf mit dieser dämlichen David-gegen-Goliath-Nummer, so als wären wir hier das Imperium unter Vorsitz von Darth Vader und ihr das gallische Dorf. Produktionsfirma und Verleih sind mittelständische Unternehmen, also keine Ein-Mann-Buden, aber alles andere als böse Riesenmedienkonzerne. Ich selber mache seit 1997 Filme, habe mich am Set hochgearbeitet, an allen Filmhochschulen beworben, wurde irgendwann genommen, habe zum Geldverdienen nebenher als Regieassistent bei Musikvideos gearbeitet und mich da anschnauzen lassen, dann irgendwann meinen ersten Langfilm für fast kein Geld gedreht, jahrelang am Drehbuch für den nächsten geschraubt, den dann irgendwie gedreht, bis letztes Jahr in WGs gewohnt, weil’s halt billiger war und die Kunst wichtiger ist als das Geld. Und so weiter. All meine Filme und Musikvideos und alles andere, was ich sonst so mache, denke ich mir selbst aus, weil mir nämlich selber schon genug einfällt und ich es verdammt nochmal nicht nötig habe, irgendjemand irgendwelche Ideen zu klauen. Schon gar nicht, wenn sie eher so mitteloriginell sind.

Und daß ihr es nicht hinkriegt, uns einfach mal eine nette Nachricht zu schreiben, sondern gleich zur Bildzeitung geht und dann noch einen Online-Mob zusammentrommelt, darüber komme ich irgendwie nicht hinweg. Ich hätte gedacht, so unabhängige Filmemacher aus Leipzig, die mit wahnsinnig viel Einsatz ihre Sache machen, denen grundsätzlich erstmal meine Sympathie gehört, die eigentlich auf meiner Seite stehen, die wären nicht so drauf. Man könnte doch mal miteinander reden, anstatt gleich öffentlich aufeinander einzuprügeln. Wir werden euch jetzt, zumindest wenn es nach mir geht, nicht den Gefallen tun und öffentlich zurückprügeln mit irgendwelchen Unterlassungserklärungen oder dergleichen, die ihr dann triumphierend in die Höhe halten könnt (das ist allerdings nicht meine private Entscheidung, sondern liegt bei Produktion und Verleih.) Wir halten aber auf alle Fälle mehr davon, offen miteinander zu sprechen. Öffentliches Mobbing (und vorher noch nicht mal versuchen, miteinander zu reden) ist eine Methode, die ich ziemlich nuancenlos scheiße finde.

Zum Abschluß eine Geschichte: Als der amerikanische Autor Vince Gilligan ein Serien-Pitch geschrieben hatte, in dem ein unbescholtener Mann zum Drogenboss wird, erfuhr er, daß genau dasselbe in England schon in Entwicklung war. Nur mit einer Frau als Hauptfigur. Im Nachhinein war er froh, daß er nicht schon früher davon erfahren hatte, denn sonst hätte er sein Projekt vielleicht gar nicht weiterverfolgt. Was dann doch sehr schade gewesen wäre, das britische Projekt war nämlich „Weeds“, und seines hieß „Breaking Bad“. Was lernen wir daraus? Zwei Ideen können auf dem Blatt noch so ähnlich aussehen,  in zwei verschiedenen Köpfen werden trotzdem immer zwei ganz verschiedene Sachen daraus.

Insofern wünsche ich euch trotz eures suboptimalen Kommunikationsverhaltens viel Erfolg, und uns auch. Das sollte problemlos beides möglich sein.

Beste Grüße

Dietrich Brüggemann

Kreuzweg im Kino

Kinostart! Heute! In Deutschland! Zur Feier des Tages eine Rezension aus England. Und dazu eine persönliche Botschaft von mir persönlich. Was mich nämlich besonders freut, ist daß der Schreiber da schreibt: A formidable and frightening Franziska Weisz. Wenn Kritik kommt, hängt die sich ja oft an der Figur der Mutter auf, die sei überzogen, das sei eine Karikatur, und da muß ich leider entschlossen gegenhalten: Nein. Ist sie nicht. Die ist so. Punkt. Unser Kino mildert ja gern die Extreme zwischenmenschlichen Verhaltens ab und macht sie konsumierbar, und wenn doch extrem, dann allenfalls extrem introvertiert, nicht nach außen gerichtet. Und das ging hier leider nicht. Sorry. Und übrigens hat die Figur gerade in der Weise, wie Franziska sie verkörpert, eine performative Qualität, eine gewisse spektakuläre Größe, die schon wieder Spaß macht (also zumindest mir persönlich). In diesem Sinn: Viel Spaß im Kino!

Spaß hatten wir übrigens auch beim Dreh des Kurzfilms ONE SHOT, seinerzeit spontan mit Freunden ohne Geld zur sogenannten Integrationsdebatte gedreht. Eigentlich wollte ich den nur zur Berlinale einreichen, die hat ihn dann abgelehnt, dafür lief er auf ungefähr 50 anderen Festivals und gewann elf Preise. Jetzt steht er endlich im Netz. Man kann ihn anschauen und bei Gefallen weiterverbreiten. Eine Langfilmversion ist in Arbeit, die wird dann aber nicht nur feste Einstellungen haben.

Die ausbleibende Revolution

Eine Analyse, was die Qualität der neuen US-Serien eigentlich ausmacht und warum genau diese Qualität im deutschen Fernsehen auf unbestimmte Zeit nicht zu sehen sein wird.

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich staffelweise Serien reinziehen. Das liegt weniger an der Qualität, sondern an der Quantität. Mad Men und Rome und Game of Thrones und Breaking Bad und Six Feet Under und wie sie alle heißen sind fantastisch, ich kenne immer so ein bißchen davon, aber ich weiß nicht, wo ich die Zeit hernehmen soll, mir eine Staffel nach der anderen anzutun. Ein abendfüllender Film füllt eben doch nur einen Abend und keine zwei Wochen.

Andere Leute haben dieses Problem anscheinend nicht. Alle gucken Serien, und alle sind sich einig: Das ist der Ort, an dem in unserem Metier gerade die Post abgeht. Das ist das, was in der Musik im späten 19. Jahrhundert in Wien los war oder in der Malerei im 17. Jahrhundert in den Niederlanden. Und alle fragen sich: Wäre so etwas auch hierzulande möglich? Kann das deutsche öffentlich-rechtliche oder auch private Fernsehen so etwas schaffen?

Nein, sagt der Autor des Textes, den ich oben verlinkt habe. Es ist ein äußerst detailreicher, 32 Seiten langer Aufsatz, für den man sich etwas Zeit nehmen muß. Der Verfasser zieht es vor, anonym zu bleiben, denn er verdient sein Geld als Drehbuchautor und fürchtet, daß niemals mehr ein deutscher Fernsehredakteur ihm einen Job geben wird, wenn dieser Text mit seinem Namen zirkuliert. Ich sehe das nicht unbedingt so, meine Erfahrungen mit kontroversen Äußerungen sind eigentlich nicht schlecht, aber ich respektiere natürlich den Wunsch nach Anonymität. Ich selber bin übrigens nicht der Verfasser – ich wünschte, ich hätte diese fundierte und enzyklopädische Kenntnis der Materie. Habe ich aber nicht, wie gesagt, ich schätze die neue Serienlandschaft, ohne selbst große Spaziergänge darin zu unternehmen. Ich finde den Aufsatz aber höchst interessant und sehr klug geschrieben, vieles darin scheint mir zuzutreffen, und deswegen stelle ich ihn zum Download und zur Diskussion bereit. Möge er seinen Weg in die Köpfe machen, auf daß vielleicht eines Tages doch das entsteht, was der Autor für nicht möglich hält.

 

Mann und Frau / stehen im Stau.

Man macht beim Film ja so einiges. Man schleppt Kisten und Kabel, fährt Sprinter und LKWs durch die Gegend, baut Zelte in die entlegenste Walachei und stellt Gasheizflaschen hinein, besorgt jedes Kostüm dreimal und wäscht jeden Abend riesige Ladungen Wäsche, schleppt tonnenweise Sperrholz irgendwohin und baut Sets, die nur von vorne echt aussehen, und so weiter. Seit ich beim Film angefangen habe, und das ist jetzt schon unfaßbar lang her, ich bin nämlich länger beim Film, als die Hauptdarstellerin meines letzten Films auf der Welt ist, fiel mir gerade auf, jedenfalls denke ich mir seit 1998: Wenn man schon mal diesen ganzen Apparat aufgebaut hat und die Schauspieler in Kostüm und Maske im eingeleuchteten Set stehen und der Tonangler die Tonangel drüber hält – dann könnte man doch eigentlich schnell noch irgendwas ganz anderes drehen. Irgendeinen Quatsch. Dann hätte man am Ende den ganzen Film zweimal. Und falls der primäre Film sich am Ende als Quatsch herausstellt, was ja zuweilen vorkommt, dann hätte man immer noch den sekundären, der von vornherein als Quatsch gemeint war. Diese Idee unterbreitete ich Jochen Laube, dem Produzenten von „3 Zimmer Küche Bad“, sein Name sei gepriesen, und er sagte: Oh ja, das machen wir. Aber was genau, erwiderte ich, machen wir? Jeden Take nochmal auf Schwäbisch? Nein, wir machen jede Szene nochmal als Gedicht. Ich schreibe einfach das Buch ein zweites Mal. Das ist höchstwahrscheinlich einmalig in der gesamten Filmgeschichte.

So geschah es. Das Schreiben dieser gedichteten Fassung erwies sich als erstaunlich viel Arbeit, ich saß nächtelang brütend am Schreibtisch, doch es ließ mich nicht mehr los, und wir zogen es durch. Der gereimte Film, der hierbei entstand, ist 40 Minuten lang und findet sich als Bonusmaterial auf der DVD. Man kann an diesem Film übrigens auch erkennen, was herausgeschnitten wurde und welche Szenen wir umgestellt haben, denn die Reimfassung enthält alles so, wie es im Drehbuch stand.

Die eigentliche Faszination aber, das wurde mir mittendrin erst klar, liegt darin, daß sämtliche Gemeinheiten und moralischen Bankrotterklärungen, die wir den Filmfiguren angedeihen lassen, im eigentlichen Dialog sorgfältig versteckt sind, während sie in dieser Version offen zutage treten. Man konnte sich Regieanweisungen eigentlich sparen, man mußte den Schauspielern nur die Reimversion in die Hand drücken, und alles war klar. Vielleicht ist es sogar der bessere Film, der hier entstanden ist. Wir haben mal mit dem Gedanken gespielt, ihn als eigenständiges surreales Werk beim Forum oder sonstwo einzureichen. Das machen wir nicht, aber hier kann man sich das Drehbuch herunterladen. Viel Spaß.

(Erst viel später erfuhr ich, daß Uwe Boll sowas in noch größerem Stil macht: Sein Film „Blubberella“ von 2011 ist eine durchgängige Comedy-Version von „BloodRayne – the Third Reich“. Uwe Boll hat mir also noch was voraus, und sei es nur ein Doktor in Germanistik.)

Kreuzweg, erste Station

Mein nächster Film handelt von wildgewordenem Katholizismus, er trägt den Titel „Kreuzweg“, und die erste erste Station dieses Kreuzwegs heißt: Hackescher Markt. Ab Mitte Oktober wird gedreht, wir müssen noch allerhand Rollen besetzen, heute und morgen ist Lea, die Hauptdarstellerin, in Berlin zu Besuch, damit wir die Schauspieler für die anderen Parts im Spiel mit ihr zusammen sehen. Nach Feierabend wollen wir Anna besuchen und steigen in die S-Bahn. Es ist Freitag, 19 Uhr, die Bahn ist voll. Direkt vor uns ein Mann mit einer Mütze in Form eines Tigerkopfes. Fällt nicht weiter auf. Sechs Meter weiter, im nächsten Einstiegsraum, steht ein Kerl mit roten Kleidern und zwei roten Haar-Hörnern auf dem ansonsten kahlen Kopf. Ich sage zu Lea: Guck mal, das paßt zu unserem Thema. Der Satan steht in der S-Bahn wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen könne. Es steigen noch mehr Leute ein, ein alter Mann drängt sich an uns vorbei, ich sehe zunächst nur den alten Metallkoffer, der er mit sich herumträgt. JESUS steht in orangefarbenen Klebebandbuchstaben darauf, und als er den Koffer dreht, lese ich: „Fragen Sie mich, wenn sie über GOTT sprechen wollen“. Der Mann hat einen wallenden weißen Bart und schaut mich freundlich an. Ich schaue ebenso freundlich zurück. Die Freundlichkeit in seinem Blick steigert sich noch. Da will ich mich nicht lumpen lassen, halte seinem Blick stand und lege ebenfalls die ganze Wärme meiner jugendfrischen Frohnatur in mein Lächeln. Er sagt:
-Hast du Jesus im Herzen?
-Klar, sage ich, aber Obacht, da hinten steht der Teufel.
-Nein, sagt er, der Teufel ist nicht sichtbar.
-Doch, erwidere ich, dort hinten, da steht er.
-Nein, sagt er, der Teufel manifestiert sich nicht auf der Erde, aber mit Gottes Liebe können wir ihm widerstehen.
-Na ja, gucken Sie doch mal, er fährt gerade mit der S-Bahn Richtung Friedrichstraße.
Ich deute auf den Satan, aber der Mann Gottes, vielleicht ist es auch Gott selber, ignoriert meinen Hinweis. Er scheint ihn gar nicht wahrzunehmen. Er lächelt mir weiter selig zu, und sein freundliche Ausstrahlung zaubert auch ein Lächeln auf die Gesichter der Umstehenden, vielleicht ist es auch nur unsere subtil bekloppte Konversation, wer weiß. Ich unterbreche das Gespräch, weil wir aussteigen müssen und hinabfahren in das Reich der Toten, das da Tiefbahnsteig zur S1 Richtung Potsdam heißt, doch wir haben schon alles gesehen, was wir für diesen Film brauchen:
Gott selbst.
Gottes Widersacher, den gefallenen Engel Luzifer.
Die restliche Schöpfung, vertreten durch den Mann mit der Plüschtigermütze.
Und der heilige Geist war auch zugegen, denn der ist ja immer dort, wo zwei wildfremde Menschen schräg aneinander vorbeireden und zufällige Passanten sich darob erfreuen. Es kann losgehen, unsere Unternehmung hat den Segen von ganz oben.

 

 

Schulabschluß

Jetzt hätte ich beinahe „Hurra, die Schule brennt“ über diesen Artikel geschrieben, aber ich möchte nicht noch weiter polarisieren und polemisieren, denn darum geht’s wirklich nicht. Mein kurzer schriftlicher Wutausbruch, vor einer Woche morgens im kalten Wohnzimmer, noch im Schlafanzug, in einem kleinen Anfall manischer Besessenheit verfaßt (und mit einer netten Zerrung im Nacken belohnt), hat recht weite Kreise gezogen, und ich muß noch einmal betonen: Mein Impuls war nicht Vernichtung und Gehässigkeit, sondern enttäuschte Liebe (man geht doch jedesmal in einen Film und hofft, sich zu verlieben) sowie Wut auf ein System, daß statt der Originalität die Verfestigung von ästhetischen Moden befördert. Im Revolver-Blog hat Franz Müller eine lange und differenzierte Replik verfaßt, ich habe ihm fürchterlich lang geantwortet, aber wenn man redlich argumentieren und auf den anderen eingehen will, passiert das halt. Aber jetzt ist auch mal Schluß, was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt, dieses Blog wird sich ab sofort wieder sporadischen Belanglosigkeiten widmen und meistens ruhen, während ich irgendwelche Filme mache, die dann irgendwo laufen und vielleicht irgendwelchen Leuten gefallen.

NACHTRAG
Jetzt fiel mir noch dieses Bild in die Hände. Das muß ich mal eben noch anhängen. Vielleicht läßt sich damit endlich diese dämliche Frage klären, wer oder was die Berliner Schule überhaupt ist, ob der Begriff berechtigt ist und was sie überhaupt macht.
berliner schule graffiti

Fahr zur Hölle, Berliner Schule

Gekünstelte Dialoge. Reglose Gesichter. Ausführliche Rückenansichten von Leuten. Zäh zerdehnte Zeit. Willkommen in der Welt des künstlerisch hochwertigen Kinos, willkommen in einer Welt aus quälender Langeweile und bohrender Pein. Muß man das eigentlich einfach so über sich ergehen lassen und fraglos akzeptieren, daß es anscheinend anders nicht geht? Ich liebe das Kino in wirklich zahlreichen Facetten, aber lasse mich ungern verarschen. Wir hatten in Deutschland schon mal eine Zeit, in der Autorenfilmer ihr Publikum erst gequält und dann verjagt haben, danach kam eine Zeit, in der es nur bodenlosen Unterhaltungsmüll gab, und jetzt? Hurra, jetzt haben wir beides gleichzeitig. Als ich also gestern Thomas Arslans „Gold“ absaß und mein Geist so unterbeschäftigt war, daß ich permanent gegen den Drang ankämpfen mußte, niveaulose Zwischenrufe zu machen, hatte ich auf einmal einfach keine Lust mehr. Daß der Schweiger-Schweighöfer-Schrott Schrott ist, auch wenn Millionen Fliegen sich nicht irren können, das ist allgemeiner Konsens, dazu muß ich mich nicht auch noch äußern, aber wieso beschwert sich eigentlich niemand mal über die sogenannte Berliner Schule? Wieso sitzen da alle drin wie Schafe und sagen hinterher: Na ja, ich wußte ja, was mich erwartet? Kann mir bitte mal einer erklären, was daran toll ist, wenn hölzerne Schauspieler hölzerne Dialoge hölzern aufsagen, das ganze in 80er-Jahre-Fernsehfilm-Ästhetik, gelegentlich kommt eine Abblende, und man freut sich auf die Werbung, aber dann geht das gestelzte Elend weiter? Wenn ein Film mir zwei Stunden lang den Rücken zukehrt? Wenn Nina Hoss, die bestimmt eine wunderbare Schauspielerin ist, fünf Filme lang herumlaufen muß wie ein abgeschalteter Roboter? Wenn ich mit keiner Frage, keinem Gefühl, keiner neuen Erkenntnis, keinem Dilemma aus dem Kino komme, sondern nur mit der Ahnung, dem Tod mal wieder zwei Stunden nähergerückt zu sein, und dem dringenden Impuls, mich irgendwo zu betrinken? Was sind das für Regisseure, die die ganze Filmgeschichte gefressen haben, sich einen prätentiösen Titel nach dem anderen ausdenken, aber nicht in der Lage sind, eine einziges echtes Gefühl auszulösen? Geschweige denn irgendwie glaubhaft von der Liebe zu erzählen? Wo genau liegt eigentlich die künstlerische Individualität, wenn hundert Filme alle gleich aussehen? Und was ist das überhaupt für eine dämliche Kultur, in der man diese Simulation von Kino gut finden muß, weil es ansonsten ja nur noch den gräßlichen Mainstream gibt? Die Leute, die kluge Unterhaltung konnten, die haben wir ja vor 80 Jahren alle rausgeschmissen, und aus ihren Arbeiten besteht die interessanteste Sektion dieser Berlinale. Aber sind inzwischen keine nachgewachsen? Oder konnten sie sich nicht entfalten und haben irgendwann frustriert aufgehört, weil in Deutschland ja alles entweder todernst und tonnenschwer sein muß oder halt vor lauter Dämlichkeit stinken? Und weil sowieso niemand als Eremit Filme macht, sondern es eine Kultur braucht, in der man aufwächst? Fahr gefälligst zur Hölle, Berliner Schule, auch wenn das Feuilleton dir weiterhin zu Füßen liegt, und weil das bürgerliche Publikum auf Autoritäten hört, meinen dann ab und zu auch einige Leute, sie hätten was gutes gesehen, aber noch viel mehr hört das Publikum in der Summe auf sein Herz (durchaus auch auf millionenschwere PR-Kampagnen und am Ende doch auf sein Herz), und davon habe ich bei euch noch selten oder nie etwas gesehen. Von anderen Organen ganz zu schweigen. Es gibt nur den Kopf, der ist riesengroß, hat alles gesehen und nichts verstanden, und auch der läuft nur auf einer Gehirnhälfte. Seit 15 oder wieviel Jahren schaue ich mir das an, und ich will einfach nicht mehr. Fahr zur Hölle, Berliner-Schule-Berlinale-Wettbewerbs-Kino, fahr endlich in den Abgrund, ruhe in Frieden und mach Platz für was neues.

EDIT
Danke für den Zuspruch. Ein kleiner Haßmonolog in diese Richtung war anscheinend mal fällig. Bevor jetzt aber das ausbricht, was Politiker immer als „Pogromstimmung“ bezeichnen, möchte ich mal ein bißchen diversifizieren. Oder noch in ein paar mehr Richtungen austeilen. Ich will nämlich nicht am Ende noch Applaus bekommen von irgendwelchen entmenschten Münchner Großproduzenten, die alles eliminieren wollen, was sie nicht kapieren.
Es wird gefragt: Kann man das so alles über einen Kamm scheren? Na klar kann man. Ich fand „Die innere Sicherheit“ toll, ich verehre „Der Wald vor lauter Bäumen“, ich fand „Sie haben Knut“ grandios, und „Der Räuber“ des von mir auch persönlich sehr geschätzten Benjamin Heisenberg war auch ein umwerfender Film (auch wenn er das mit der Liebe genausowenig hingekriegt hat wie alle anderen) (Filme). Ist das dann überhaupt noch Berliner Schule? Mir doch egal. Und solche persönlichen Geschmacksdinger sind letzten Endes auch egal. Es geht um eine Kultur, die zu einer Monokultur geworden ist. Und zwar nicht nur bei uns. Jedes europäische Land produziert einerseits fürchterlich spaßbefreite Kunstfilme und andererseits wahnsinnig plattes Unterhaltungskino. Dazwischen gibt es dann noch so wohlmeinendes Wellness-Arthouse für Brigitte-Leserinnen, denen man öfter mal mitteilen muß, daß das Leben bezaubernd ist. Und das ist alles gleichermaßen beschissen. Es sei denn, es ist zur Abwechslung mal gut, und das ist es selten, denn all diese Filme entstehen und laufen im Rahmen eines Systems, das nur das Format sieht und für Qualität völlig blind ist.
Aber was wollen Sie denn dann, Herr Brüggemann, wenn Sie all das nicht wollen?
Ganz einfach. Ich will nicht, daß das Kunstkino aufhört. Ich will, daß es besser wird. Es ist völlig legitim, daß es innerhalb einer Kunstform einen Zweig gibt, der sich nur an die Eingeweihten richtet. Daß es Filme gibt, die nur von Leuten geguckt werden, die sich selber professionell mit Film befassen. Es gibt für diese Filme nur eine einzige Regel: Sie sollen bitte etwas machen, das noch kein anderer gemacht hat. Sie sollen bitte ihr eigenes Rad erfinden und daran drehen. Ein solcher Filmemacher, den ich beispielsweise auf Knien verehre, ist der Schwede Roy Andersson, den hierzulande bezeichnenderweise wieder keine Sau kennt. Solche Filme laufen, wenn überhaupt, dann in Cannes. In Berlin allenfalls mal aus Versehen.
Denn was das Kunstkino dann doch noch vom Mainstream unterscheidet: Mainstream darf formatiert sein. Es ist okay, wenn die Filme sich hier ähneln. Auch das kuschelige Pseudo-Arthouse, ohnehin das gräßlichste aller Genres, darf meinetwegen gern formatiert sein. Aber in den Wettbewerben der großen Festivals erwarte ich mehr. Dieses Segment, die Speerspitze unserer Kunst, hat seine Existenzberechtigung komplett verloren, wenn es zum Genre verkommt. Wenn es reicht, mit einem Film ein paar Klischees zu bedienen, um als „Kunst“ durchgereicht zu werden. Entsprechend wütend werde ich, wenn ich mir von Jahr zu Jahr anschauen muß, wie genau das passiert. Wie man jedes Jahr einen Film nach dem anderen anschaut und sich fragt: Waren das wirklich die besten Filme dieses Jahrgangs? Oder haben sie die besseren abgelehnt? Die, die in kein Raster paßten? Die mit einer eigenen, individuellen Stimme sprechen? Über die Jahre kriegt man dann mit: Letzteres ist der Fall. Es gibt sie, die wahnsinnigen, genialischen Filme, die große Aufmerksamkeit verdient hätten, selbst wenn sie nicht rund und perfekt sind. Hier ein paar Worte von Rüdiger Suchsland über einen dieser Filme, der in Oberhausen lief und dann nirgends mehr. Stattdessen sieht man an den Filmhochschulen und in den Nachwuchssektionen der Festivals hunderte von Langweilern, die gern Christian Petzold wären.
Wird sich in den Köpfen der Verantwortlichn von selber etwas ändern? Nicht, solange niemand an die Tür hämmert und laut schreit. Und sowas passiert tendenziell nur als Gruppenaktivität. Die Leute, die den wirklich spannenden Kram machen, neigen nun leider nicht dazu, sich zu irgendwelchen „Schulen“ zusammenzuschließen, weil sie nämlich jeweils ihren eigenen Kopf haben. Aus demselben Grund kommt auch kein Journalist auf die Idee, da eine „Bewegung“ herbeizuschreiben. Daher haben sie keine Lobby und gehen irgendwann frustriert zugrunde oder ins Fernsehen. Dabei gibt es sie, die Leute, die hierzulande in der Lage sind, aufregendes, böses, prächtiges, unverschämtes Kino herzustellen. Einige rotten sich gerade in meinem Freundeskreis zusammen, vielleicht schreiben wir demnächst ein Manifest oder nageln ein paar Thesen irgendwohin. Vielleicht ist dieser Text auch schon unser Gründungsmanifest.
Ende der Durchsage.

 

Filmmusik

„Drei Zimmer Küche Bad“ ist einigermaßen erfolgreich im Kino gestartet. Alle freuen sich. Viele fragen nach dem Soundtrack. Hier wäre er, spaßeshalber mit ein paar Links garniert:

1. (Vorspann und Trailer) Fyfe Dangerfield – Faster Than The Setting Sun
2. (Philipp fährt nach Freiburg) Fyfe Dangerfield – Don’t be Shy
3. (Montage Herbst) Fyfe Dangerfield – So Brand New
4. (Montage Weihnachten) Guillemots – If The World Ends
5. (Montage Winter) Guillemots – The Rising Tide
6. (Fotostudio) Guillemots – Get Over It
7. (Maria fährt nach Hannover) Guillemots – Inside
8. (Montage Frühjahr) Fyfe Dangerfield – High On The Tide
9. (Swantje wird sauer) Guillemots – Yesterday Is Dead
10. (Schlußontage) Die Sterne – Nichts wie wir’s kennen
11. (Abspann) Indelicates – We Hate The Kids

Fyfe und die Guillemots ist fast dasselbe, letzteres ist seine Band, ersteres ist er allein.

Americanorama

Panoramafotografie bedeutet meist: Beeindruckende Landschaftsaufnahmen. Dagegen ist nichts zu sagen, aber ich finde aber Panoramabilder mit Leuten drin oft noch interessanter. Da ich mich momentan in Los Angeles befinde und hier so viele interessant aussehende Leute herumlaufen, habe ich diese Website in die Welt gesetzt und versammle darauf Bilder von Leuten und Orten in Amerika. Viel Vergnügen.

Würden Sie diesem Mann einen Gebrauchtwagen abkaufen?

Der moderne Mensch kauft sich ein Navigationssystem, der postmoderne kauft sich keins, sondern lädt es sich aufs Handy und landet dann unter den Betonschlangen eines Autobahnkreuzes, wo eigentlich ein mexikanisches Schnellrestaurant sein sollte. Dann kehrt er um, fährt noch zweimal mit Vollgas an seinem Ziel vorbei und findet dann die richtige Einfädelstelle.

Ich befinde mich in Los Angeles als Gast der „Villa Aurora“ und penne in Lion Feuchtwangers Schlafzimmer. Darf man in Feuchtwangers Schlafzimmer überhaupt „pennen“? Oder sollte man umgekehrt diesen Ausdruck zum Zwecke der Kontrastverstärkung ganz bewußt verwenden? Ist das Gefälle zwischen Feuchtwanger und mir, ein Dreivierteljahrhundert samt Erfolg und Exil, nicht umfassend beschrieben, wenn ich sage, daß ich in seinem Schlafzimmer penne? Egal, als Radfahrer gewinnt man hier keinen Blumentopf, also muß ein Auto her. Mein alter Freund Todd, der surrealistische Theaterstücke schreibt, Schlagzeug spielt wie ein Tier und sonst eher nachdenklich ist, schrieb mir zu diesem Thema:

„Believe it or not, pre-World War II LA had the largest public transportation system in the world, but it was bought out and dismantled by the auto industry – that’s Capitalism for ya!“

Also, Autofahren im Kapitalismus. Man könnte auch eins mieten, das kostet ca 2400 Euro, die Kohle ist dann auf alle Fälle weg. Oder man kauft eins, das geht genauso ins Geld, verspricht aber Risiko und Abenteuer, und hinterher kann man es vielleicht wieder verkaufen. Bleibt nur noch die Frage: Zuverlässiger Langweiler oder geile Karre? Die Vernunft spricht sehr für einen zuverlässigen Mazda oder Toyota oder Golf. Man will ja nicht mitten in der Wüste oder in South Central liegenbleiben. Klarer Fall. Also Vernunft beiseite und her mit den geilen Karren. An Autos läßt sich nämlich die merkwürdige Alchemie der Wertschöpfung beschreiben: Erst sind sie neu und wertvoll und künden von hohem Status. Irgendwann werden sie alt und schrottig und Unterschicht. Wenn sie aber alt genug und einigermaßen gut erhalten sind, werden sie wieder wertvoll und prestigereich. Die Kunst im Umgang mit geilen Karren ist nun eben, genau an der Schnittstelle aus „schrottig“ und „schon wieder toll“ zuzuschlagen. Ob ich diese Kunst beherrsche, wird sich jetzt zeigen.

Also lande ich vor dem Restaurant, das eher ein Imbiß ist, und treffe auf Richard. Richard ist um die sechzig, wirkt vage lateinamerikanisch, spricht schwer verständlichen Akzent und lädt mich erstmal zum Essen ein. Dabei erzählt er mir, daß er in der Gegend mehrere 24-hour-restaurants betreibt und zahlreiche ältere Autos hat, die er nachts vor seinen Lokalen abstellt, damit es so aussieht, als wäre Kundschaft da. Sinn der Übung ist weniger die Ankurblung des Geschäfts, sondern Vermeidung von Raubüberfällen. Von diesen Autos will er jetzt eins verkaufen. Ich kann es mir aussuchen. Es sind zwei Mercedes, beide an die 30 Jahre alt. Aber Diesel, die gehen ja quasi nie kaputt. Was hingegen kaputtgeht, sind sämtliche Weichteile. Türgummis, Sitze, Teppiche, Armaturenbrett – alles in Auflösung. Schaltung und Kupplung scheinen auch in Auflösung zu sein. Was soll‘s, er fährt. Wir fahren zweimal um die Ecke und fädeln uns in den Stau auf dem Highway ein. Ein Sportagenfahrer winkt uns generös rein. Ein Sportwagen? Nein! Es ist ein DeLorean! Die Zeitmaschine aus „Back to the future!“ Das Zeitmaschinenauto, das aussieht wie ein plattgedrückter Golf! Was geht!

Was nicht geht: Der Mercedes. Zumindest nicht für 2000 Dollar. Richard ist wirklich nett, aber ich fahre erstmal weiter zum nächsten. Die Navi-App setzt mich vor Hausnummer 5730 ab und behauptet ungerührt, das sei die 8250. Kein Problem, man muß einfach die Straße weiter runterfahren. Wo allerdings alle 50 Meter ein Stoppschild steht. 25 Blocks, das macht 25 Stoppschilder. Irgendwann stehe ich vor einem Haus mit Wohnungen und ohne Klingelschilder. Ich rufe an. Keiner geht ran. Ich gehe erstmal einkaufen und rufe dann nochmal an. Keiner geht ran. Ich hänge ein bißchen herum und rufe nochmal an und fahre dann weiter. Und dann kommt mir ein Gedanke. Aus irgendeinem Grund schreiben viele Leute unter den Anzeigen ihre Nummer ungefähr so: 3-one-1-eight-2-2-zero-seven-7. Sollte mir da ein Fehler unterlaufen sein? Tatsächlich, da ist mir ein Fehler unterlaufen. Irgendjemand wildfremdes hat jetzt ein paar Nachrichten zum Thema Autokauf von mir auf der Mailbox.

Der Wagen steht in einer Tiefgarage und ist ein gelber alter Porsche 944. Leider ohne Türgriffe und mit leicht eingedrückter Stoßstange. Der Besitzer ist Türke, etwas jünger als ich, und wirkt recht nett. Wir sitzen nebeneinander in seinem Auto, fahren ein wenig durch die Straßen und reden so über dies und das. Dabei kommt raus: Er hat die letzten vier Jahre in Los Angeles Film studiert. Hat aber irgendwie nicht so hingehauen. Er geht jetzt zurück in die Türkei. Sein Wohnsitz wirkt recht feudal, der Porsche ist anscheinend sein Zweitwagen. Möglicherweise reiche Eltern, die jetzt den Geldhahn zudrehen? Die eingedrückte Stoßstange, das war seine Freundin, sagt er. Frauen am Steuer. Freunde am Steuer, sage ich, das geht auch mit Männern. Irgendwie ist er mir sympathisch. Er ist einer von diesen vielen Leuten, die aus ihren Heimatländern nach Amerika gehen, dort für sehr viel Geld Film studieren, dann aber hier doch nicht so richtig Fuß fassen und dann halt zurück nach Hause gehen, wo sie dann in der lokalen Branche auch nicht so richtig einen Fuß in der Tür haben und dann irgendwas anderes machen. Durch die Welt zieht ein großes Heer aus vielen tausend jungen Filmemachern, deren Namen nie jemand kennen wird, sie gehen an die NYU und die UCLA und die USC und die NYFA, manche landen auch aus Israel oder Venezuela oder Schweden in Deutschland an der HFF oder DFFB, sie versuchen es jahrelang hartnäckig und verlieren dann doch irgendwann die Energie, während neue junge hungrige Menschen nachwachsen und an sich glauben und fest überzeugt sind, daß sie etwas zu erzählen haben und die Welt sie hören wird. Und manchmal schafft es einer. Warum eigentlich? Und warum schaffen es die anderen nicht? Aber immerhin war man mal vier Jahre in Los Angeles und ist in einem gelben alten Porsche durch die Hügel gekurvt. Oder auch nur drei Monate. Ich finde das auch völlig in Ordnung. Wenn am Ende ohnehin nichts bleibt, dann bleibt immerhin diese Erinnerung. Wir steigen aus, er raucht noch eine. Der Wagen wirkt okay. Hat aber aus irgendeinem Grund keinen „Clean Title“, sondern einen „Salvaged Title“. Das passiert, wenn die Versicherung irgendwann ein Auto mal abgeschrieben hat. Angeblich kann man es damit so gut wie gar nicht verkaufen. Man muß sich das alles aus dem Netz zusammensuchen und weiß dann doch nicht, was stimmt.

Als nächstes ist ein weißer Mercedes 190 an der Reihe, irgendwo in Culver City, wo die Häuser aussehen wie Villen, aber vielleicht sind es auch einfach Häuser. Ich halte in der angegebenen Straße und sehe, wie der Wagen soeben einige Meter neben mir einparkt. Ein junger Schwarzer steigt aus. Ich nähere mich ihm und sage: Nettes Auto. Wollen Sie es verkaufen?
Er so: Nö.
Ich so: Aber genau der stand im Internet. Ich erkenne ihn an diesen glänzenden Felgen. Sieht krass gangstermäßig aus. Letzteres sage ich nicht, sondern denke es nur.
Er sagt, sein Bruder hätte auch so einen. Aber sein Bruder will eventuell auch diesen verkaufen. Er ruft seinen Bruder an. Sein Bruder sagt anscheinend ja. Er schlurft in Zeitlupentempo zurück zu dem Auto. Wir steigen ein und fahren. Der Wagen ist wie neu. Alles drin, alles dran. Allerdings für einen Mercedes erstaunlich eng. Mein Hut stößt an den Himmel, denn das, was quasi die Zimmerdecke ist, heißt im Auto ja „Himmel“. Der Wagen fährt, die Service-Belege hören vor 100 000 Meilen auf, er soll 1900$ kosten, der würde doch auch für 2500 gehen, warum so wenig? Irgendwas stimmt nicht. Oder ist das nur so ein dummes Gefühl? Alltagsrassismus meinerseits, genährt von zahlreichen Hollywoodfilmen, in denen die Gauner genauso aussehen wie der Phlegmatiker neben mir?

Weiter zum nächsten. In der Abenddämmerung lande ich in einer Gegend namens Hawthorne, direkt neben der Autobahn, wo die Häuser etwas kleiner und die Leute etwas ärmer sind. Es geht um einen Porsche 924, diesmal Baujahr 1977. Mike, der Besitzer, steht schon vor dem Haus und erwartet mich. Sein Gesicht sieht aus wie ein verwitterter Lederhandschuh, sein Porsche ist eins von zahlreichen Autos, im Hof stehen alle möglichen abenteuerlichen Gefährte herum, der Mann schraubt natürlich alles selber auseinander und zusammen. Mikes linkes Bein besteht aus Stahlteilen, was aber zwischen den vielen Autos gar nicht so sehr auffällt. Ich verstehe ihn kaum, aber er ist wahnsinnig leutselig, erzählt, daß sein Vater damals den Porsche neu gekauft hat und ihn über die Jahre sehr gepflegt hat, bis er 1996 starb. Und seitdem muß der Zahn der Zeit wirklich krass reingehauen haben. Das Auto sieht aus wie eine komplette Ruine. Als hätte ein Szenenbildner es für einen Film zurechtgemacht, in dem es die einzige Heimstatt eines mobilen Penners darstellen soll, aber dann sagt der Regisseur: Nee, das ist echt übertrieben, das glaubt uns keiner, ich mag das nicht, wenn es in Filmen so krass nach Szenenbild aussieht. Im Armaturenbrett klaffen fingerbreite Risse, alles hat sich aufgelöst, der Tüv würde in Ohnmacht fallen, aber Tüv gibt es hier ja keinen.

Mike sagt, daß er den Wagen loswerden will, weil er mit seinem Bein das Kupplungspedal nicht so recht bedienen kann. Nachdem er das Bein schon mehrmals erwähnt hat, entscheide ich mich, die Regel zu ignorieren, nach der man Behinderte nicht gleich nach der Behinderung fragt. Das war ein Motorradunfall im Jahr 1982, sagt Mike, und irgendwie ist das auch die einzig mögliche Antwort bei jemandem, desse Leben so motorgetrieben ist. Wir drehen eine Runde. Es fühlt sich an, als würde man auf einer sehr großen Teigrührmaschine fahren, und beim Schalten fühlt es sich an, als würde man im Teig rühren. So langsam fahre ich nie damit, sagt Mike, du mußt Gas geben und darfst erst schalten, wenn er bei 5000 Umdrehungen heult. 1500 Dollar, sagt Mike, denn soviel bekommt er auch als Abwrackprämie von Vater Staat, die wollen diese alten Möhren nämlich auch von den Straßen weg haben. Als ich wegfahre, dreht Mike nochmal spaßeshalber eine kleine Runde im Porsche und fährt mit dröhnendem Motor davon, das echte Bein auf dem Gaspedal, das Stahlbein auf der Kupplung.

Der nächste Kandidat wäre wieder ein Porsche, aber das Handy des Besitzers ist aus, und diesmal stimmt die Nummer. Am nächsten Tag geht es weiter mit einem Deja-Vu. Es ist wieder ein 30 Jahre alter Mercedes mit unzerstörbarem Dieselmotor und zerstörtem Interieur. Der Besitzer ist ein älterer Herr. Ich erzähle, daß ich quasi neben der Mercedes-Fabrik zur Schule gegangen bin, und er sagt:
Sin-del-fingen?
Ja! Gevatter, woher wißt Ihr das?
Er war da mal und hat sich ein Auto abgeholt. Er ist immer nur Mercedes gefahren. Diesen hier verkauft er jetzt für seinen Stiefsohn. Wir machen eine Probefahrt und kriechen im Schneckentempo auf die Autobahn. It won‘t win races, but it‘s good transportation, sagt der Mann, und ich ziehe Zwischenbilanz: Diese Leute! Sie sind alle wirklich sympathisch! Ich würde jedem sofort einen Gebrauchtwagen abkaufen, wenn es nur um den Verkäufer ginge und nicht um den Wagen.

Der nächste Termin ist in Venice, direkt am Strand, wo die Surfer surfen, die Skater skaten und die Hipster, ja, was machen die eigentlich. Der Verkäufer ist mal wieder sehr nett, etwas jünger als ich, hat diverse Texte auf den Arm tätowiert, ein klassischer Venice-Hipster, schlank und nicht übermäßig durchtrainiert, wirkt aber auf unaufdringliche Art selbstsicher, hat leichte Geheimratsecken und lange Koteletten. So genau schaue ich ihn mir erst an, nachdem er mir gesagt hat, was er von Beruf macht. Er ist nämlich Dating-Coach. Er bringt Frauen bei, wie man Männer anmacht. Das ist natürlich Quatsch, es ist umgekehrt, Joshua bringt den Mann an die Frau. Auf seiner Website heißt das „attraction expert“. Interessant, sage ich, ich bin Filmemacher, das behandelt im Grunde ein ähnliches Gebiet. Joshua hat seine Geschichte auch schon irgendwie an den Produzenten von American Pie verkauft. Aber vor allem hat da eine kleine Firma aufgezogen und gibt Anmachseminare. Diese Firma verlagert er jetzt allerdings nach Denver, Colorado, weil seine Freundin die Berge liebt und er durch diesen Umzug so viel spart, daß er oft genug nach Kalifornien fahren kann. Der Wagen ist eine dekadent fette S-Klasse, Baujahr 1982. Joshua hat ihn von der Erstbesitzerin gekauft, im Handschuhfach liegt ein dicker Stapel Reparaturrechnungen. Ich fahre ein bißchen, öffne die Motorhaube und tue so, als würde ich mich auskennen. Danach habe ich schwarze Finger und frage ihn, ob ich mir in seiner Wohnung kurz die Hände waschen kann. Wie ein echter Gentleman geht er voran und fragt erst kurz seine Freundin, ob ein Fremder mit schmutzigen Händen reinkommen darf. Die Wohnung ist für Venice Beach erstaunlich unglamourös. Oller Teppich, Zeug liegt rum, Jalousien hängen schief.

Das war‘s erstmal. Was nehmen wir jetzt? Der Typ aus Hawthorne, der gestern nicht ranging, hat geschrieben, daß sein Akku leer war. Fahre ich da jetzt nochmal hin? Oder nehme ich den weißen Gangsta-Mercedes? Oder den von Hitch, dem Date-Doktor? Ich entscheide mich erst für den weißen Gangsta-Mercedes, dann entscheide ich mich um und nehme die dekadent fette S-Klasse. Lisa, die Praktikantin aus der Villa, fährt mich netterweise hin, ich leere auf dem Weg einen Geldautomaten, dann machen wir Übergabe in der Tiefgarage. Die Freundin vom Date-Doktor ist auch da und ist Pilates-Lehrerin und ist total nett und fängt gleich mit Lisa ein so ausführliches Gespräch an, daß Lisa ihren Plan vergißt, Joshua nach seinem Beruf zu fragen. Joshua und ich zählen Geld, dann fahren wir los und beschließen, noch ins Meer zu springen, dazu parken wir Lisas Auto, sie steigt in meins ein und wir suchen einen zweiten Parkplatz, und als Lisa ins Auto steigt, sagt sie: Hier riecht‘s nach Gras.
Echt?
Stimmt.
Krass.
Oder riecht es doch einfach nur nach altem Auto?

Ich fahre jetzt also den 1982er Mercedes 300SD von Dating-Coach Joshua Pellicer, hier wäre dann auch mal seine Website, der da drin möglicherweise mal den einen oder anderen Joint geraucht hat. Am nächsten Morgen mache ich eine kleine Ausfahrt am Pazifik entlang, auf einmal ist der Tank leer, dann ist er plötzlich wieder genauso voll wie vorher, dann tanke ich ein wenig, und daraufhin ist er wieder ein wenig leerer als vorher, aber voller als leer. Das kann ja heiter werden. Wenn er mir zuviel verbraucht, stelle ich ihn einfach wieder bei Craigslist rein und gucke mir die zahlreichen Typen an, die mir möglicherweise einen Gebrauchtwagen abkaufen wollen.

Raus mit der Sprache

Vor drei Wochen war ich in der Jury des „Festival im Stadthafen“, abgekürzt FiSH, in Rostock. Es ist ein Nachwuchsfestival, was bedeutet, daß man dort gestandene Hochschulfilme genau wie hoffnungsvolle No-Budget-Fingerübungen zu sehen bekommt, zwischendrin aber gern auch mal psychedelische Barbiepuppen-Animationen von achtjährigen Mädchen. Die Atmosphäre war grandios, wir hatten zwei Tage lang einen Bombenspaß, was an dem ausgesprochen gut ausgesuchten Filmprogramm lag, aber auch an der Art, wie die Vorführungen organisiert sind. Pro Block laufen nur vier bis sechs Filme, die Macher sind fast alle anwesend, nach jedem Film gibt es ein ausführliches Gespräch mit dem Gast. Und was dann kommt, ist einzigartig und toll: Nach jedem Block setzt die Jury sich auf die Bühne und diskutiert über die Filme. Live und vor versammelter Menge. Man hat dafür nicht ewig Zeit, aber man nimmt sich die Zeit, die man braucht, um auf jeden Film einzugehen. Man ist automatisch nicht so fies, wie man im privaten Kreis doch oft über Filme spricht, man ist aber auch nicht so nett, wie man es unter vier Augen mit Filmemachern ist. Man findet ganz von selbst den richtigen Ton. Man reißt sich zusammen und kommt auf den Punkt. Man hantiert auch mal mit widerstreitenden Meinungen, ohne daß die Kommunikation abreißt. Ich halte dieses Vorgehen für schlichtweg großartig, meinetwegen könnte es sich auch in der restlichen Festivalwelt verbreiten, denn auf einmal merkt man, wie aufgeblasen eigentlich das übliche Prozedere mit der hochkarätig besetzten Fachjury ist, die sich zur Beratung zurückzieht und dann ihren Ratschluß vom Himmel flattern läßt.

Denn, um es mal umgekehrt zu denken: Was spricht denn eigentlich dafür, die Beratung einer Jury nicht öffentlich zu machen? Was sollte daran geheim sein? Warum und wieso? Geheimhaltung weckt immer den Verdacht, daß jemand etwas zu verbergen hat. Das ist aber bei Jurysitzungen nicht der Fall, oder wenn doch jemand etwas zu verbergen hat, beispielsweise eine persönliche Ab- oder Zuneigung zu irgendeinem Wettbewerbsteilnehmer, dann tut er besser daran, es auch in einer geschlossenen Jurysitzung zu verbergen. Ich war schon in allerhand Jurys, man diskutiert dort immer sehr ernsthaft und sorgfältig, aber ich habe bisher in keiner Jury etwas erlebt, das nicht auch öffentlich hätte stattfinden können. Und andererseits ist es ja ein bekanntes Phänomen, daß Jurys oft entweder wahnsinnig vorhersagbare Urteile fällen (indem beispielsweise in Ludwigshafen derjenige Berliner-Schule-Film gewinnt, der in Berlin nichts gekriegt hat) oder aber solche, die wirklich kein Schwein nachvollziehen kann. Wer weiß, ob sich das bei öffentlicher Diskussion ändern würde, aber ich fände es wirklich rasend interessant, mitzuerleben, wie solche Entscheidungen entstehen. Natürlich hätte jedes Jurymitglied Bammel, am Ende öffentlich gegen Leute zu stimmen, die man persönlich kennt und vielleicht sogar mag – aber es würde zwangsläufig passieren, und das würde dann nach einer Weile zu einem Sportsgeist führen, der unserem Metier mit seinen zahlreichen großformatigen Egos mal ganz gut zu Gesicht stünde.

Daher fordere ich hiermit: Schafft ein, zwei, viele Rostock! Macht öffentliche Jurysitzungen! Von Biberach bis Toronto, von San Sebastian bis Cannes! Die Idee ist natürlich total utopisch, aber das Durchdenken von utopischen Szenarien gehört ja zum Berufsbild des Filmemachers. Was würde passieren? Es gäbe wütende Proteste, alle möglichen Mahner und Bedenkenträger und Wächter der Kunst würden ihre mahnende Stimme erheben, aber ich werde den Verdacht nicht los, daß es am Ende gut wäre.

Hier wäre dann noch der Trailer für einen wirklich umwerfenden Animationsfilm, den es in Rostock zu sehen gab.

Hier werden einige Konzepte völlig neu gedacht.

Urheberrecht, oh yeah. Mein kürzlich hier geschriebener Text (eigentlich  war es nur eine etwas längere Ausführung des alten Sprichworts „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird“) fand überraschend große Aufmerksamkeit, in den letzten Wochen wurde überall fröhlich weiter apelliert, manifestiert, urgehoben und erstunterzeichnet, ich habe dazu eigentlich nichts mehr zu sagen, sondern nur eine kurze Frage.

Ich sympathisiere ja durchaus mit zahlreichen Positionen der sogenannten Netzgemeinde, aber wenn man dann konkret wissen will, wie es gehen soll, wenn es nicht mehr so geht, wie es bisher ging, dann fällt die Antwort oft etwas schwammig aus. Und das manchmal herangezogene Argument, kreatives Schaffen basiere überwiegend auf der Vorleistung anderer, halte ich für ein wenig dämlich. Malte Welding sieht das anscheinend ähnlich. In einem Kommentar zu seinem Text schreibt dann jemand etwas über Patentfristen und sagt: „Hier werden einige Konzepte völlig neu gedacht.“

Und das würde ich gern genauer wissen. Das alte Modell „ich tue Musik auf einen Tonträger, Leute kaufen den dann“ war bestechend simpel, es ließ sich in einem Satz beschreiben, und ich habe das Gefühl, daß ein neues Modell ähnlich simpel sein müßte, um zu funktionieren. Wo ist es? Wer hat es? Wer kann es in SMS-Länge beschreiben? Das ist keine sarkastische Zeig’s-mir-doch-ätsch-Frage, sondern ehrliches Interesse. Ich würde es einfach gern wissen. Her damit.

Ideen, die man mir dringend mal klauen sollte

Anläßlich der Verleihung des deutschen Filmpreises, die heute abend über die Bühne geht, fragte man mich, ob ich fürs Programmheft ein paar Filmideen beisteuern könnte. Und zwar Ideen, die ich mir gern klauen lassen würde. Nichts leichter als das. Hier also auch für alle Nichtfilmpreisbesucher: Sechs deutsche Filme, die ich niemals machen werde.

SCHNAPPDIRDENLACHS
Marvin (39) hat ein Problem: Sämtliche Frauen sind verrückt nach ihm. Nur nicht die bildhübsche Köchin Sonja. Um ihr Herz zu erobern, muß er sich durch sämtliche kalten Buffets der Hauptstadt fressen und ihr beweisen, daß er Geschmack hat. Doch dabei wird er sehr dick, und seine zahlreichen Verehrerinnen stehen nicht mehr auf ihn. Marvin muß sich entscheiden…

GISELA
Die schweigsame Tierarzthelferin Gisela (43) führt ein Doppelleben: Tagsüber schläfert sie mit zärtlicher Hand todkranke Tiere ein, nachts hat sie eiskalt distanzierten Sex mit wildfremden Männern, Frauen und Pferden. Bis eines Tages der Hengst Nebukadnezar (13) in ihrer Praxis auftaucht, mit dem sie vor Jahren eine Affäre hatte…

ZANDER MIT ERDBEEREN
Der alte Krabbenfischer Knut (89) ist verbittert, seit seine einzige Tochter durch eine defekte Nähmaschine zu Tode kam. Alles, was daran erinnert, hat er aus seinem Leben verbannt. Er trägt seitdem nur noch Strickkleidung. Doch dann steht eines Tages sein kleiner Enkelsohn vor der Tür. Das unschuldige Kind bringt den weichen Kern hinter der rauhen Schale des alten Mannes zum Vorschein – doch eines Tages findet der Junge eine Nähmaschine auf dem Speicher und ist sofort begeistert…

RAMBOW

Für Ronny (16) und seine Clique besteht der Tag aus Rumhängen, Saufen und gelegentlichen sinnlosen Gewaltexzessen. Bis sie eines Tages eine durchreisende Geschäftsfrau zu Tode prügeln. Danach stellt sich heraus: Die Frau war Ronnys Mutter. Auf der verzweifelten Flucht vor seinem Schmerz stürzt Ronny sich in einen weiteren sinnlosen Gewaltexzess, bei dem er sich versehentlich selbst totschlägt.

PLEITEGEIER UND ANDERES FEDERVIEH
Die Arbeiter in der Steuerkanzlei Platkowski&Co in Dortmund sind echte Kumpels, wie es sie nur im Pott gibt: Rauh, aber herzlich. Doch die Zeiten sind hart. Immer mehr Menschen machen ihre Steuererklärung selber. Eines Tages kauft eine chinesische Investorengruppe den Betrieb auf. Die Arbeiter sollen entlassen werden, die Maschinen demontiert und nach China verschifft. Doch die neuen Chefs haben nicht mit den Kumpels von Platkowski&Co gerechnet…

VIROLOGIE FÜR ANFÄNGER
Ein brillanter Wissenschaftler (60) und seine brillante Studentin (20) verlieben sich. Doch dann erkrankt er schwer – an genau der Krankheit, die er seit Jahrzehnten erforscht. Er läßt sich einfrieren, sie forscht weiter, 40 Jahre später hat sie die Therapie gefunden, taut ihn wieder auf und heilt ihn. Sie sind jetzt beide 60 und könnten glücklich werden. Doch dann verläßt er sie wegen einer Jüngeren.

SCHWEIGER
Der Angestellte Norbert (39) verläßt jeden Tag seine Familie und geht zur Arbeit. Behauptet er. In Wahrheit setzt er sich in eine leerstehende Wohnung und schweigt den ganzen Tag. Als seine Frau dahinterkommt, schweigt sie ebenfalls.

Great Baby Grand.

Nachdem ich vor zwei Wochen hier einfach mal so behauptet habe, Musik würde sich durch Mundpropaganda und Liebe am besten verbreiten, man würde singend durch einen dunklen Wald marschieren etcetera, unterziehe ich mich hiermit selbst der Probe aufs Exempel und marschiere klavierspielend in einen dunklen Wald.

Ein Konzertflügel ist bis zu 3 Meter lang. Ein kleiner Flügel, der nur etwa halb so lang ist, also quasi gestutzt wurde, heißt folgerichtig Stutzflügel. Noch niedlicher ist der englische Ausdruck hierfür, da heißt der Stutzflügel „Baby Grand“. Die englische Vorsilbe für für Urgroßeltern, -onkels oder -tanten lautet bekanntlich „great grand“, und da mein Flügel auch schon im Urgroßelternalter ist, habe ich die ganze Sache auf den englischen Projektkosenamen „Great Baby Grand“ getauft. Der Flügel ist nicht im allerbesten Zustand, die Mechanik verrichtet ihre Arbeit mit hörbarem Eifer, aber ansonsten leben wir in topmodernen Zeiten, deswegen wäre dann hier mal der Social-Media-Rundumschlag: Man kann sich die Musik bei Bandcamp anhören und herunterladen, und wer Bandcamp irgendwie nicht mag, findet uns auch bei Soundcloud. Zu vielen Stücken gibt es außerdem minimalistische Videos bei Vimeo, und wenn etwas neues entsteht, erfährt man davon bei Facebook oder Tumblr. Die Musik steht unter CC-Lizenzen, herunterladen ist bei Bandcamp bis zu 200mal im Monat kostenlos, man kann aber auch was dafür bezahlen. Wenn das tatsächlich ein paar Leute tun, werden irgendwann bessere Mikrofone angeschafft. Falls es irrsinnig viele Leute tun, wird ein neuer Flügel angeschafft.

Ansonsten gibt es nur ein paar Spielregeln:

-Die Musik ist mehr oder weniger improvisiert.
-Auf dem Flügel steht eine Sanduhr. Wenn sie nach fünf Minuten durchgelaufen ist, ist das Stück vorbei.
-Verspieler, also Tasten, die ich eigentlich in diesem Moment nicht unbedingt anschlagen wolllte, bleiben drin.
-Das ganze ist eine Art musikalisches Tagebuch bzw. Notizbuch. Ideen, die hier auftauchen, können anderswo in anderer Gestalt wiederkehren.

Viel Freude.

Mein Plattenladen heißt Herunterladen

Achtung, dieser Text ist lang.

Sven Regener schimpft und wird beschimpft. 51 Tatort-Drehbuchautoren sind sauer und werden gescholten. Der Chaos Computer Club antwortet und kriegt eins auf die Mütze. Alle kloppen sich. Und zwar wegen Urheberrechten sowie einer Partei, die die Piraterie im Namen trägt. Piraten und Netzaktivisten befürchten eine Welt, in der Firmen wie Disney und Bertelsmann auf jedes geschriebene Wort, jede gepfiffene Melodie und jede Zeile Programmcode sofort ihren Copyright-Stempel draufknallen, dem Urheber dafür anderthalb Cent hinwerfen, das Werk die nächsten 180 Jahre in den Kerker sperren und nur für horrende Summen herauslassen. Die Musiker, Schriftsteller und Filmemacher hingegen befürchten eine Entwicklung, bei der ihre gesamte Arbeit von gierigen, bleichen Computerkindern ins Netz gestellt wird und sie bzw. wir alle verhungern. (Bildende Künstler haben sich übrigens noch nicht beschwert, aber die haben ja auch ein krisensicheres Geschäftsmodell – sie fertigen Einzelstücke und verkaufen sie zu horrenden Preisen an Einzelpersonen. Wobei den eigentlichen Reibach ja angeblich meist der Zwischenhändler macht.)

Es gibt zwei Dinge, die mich daran stören.

Zum einen die Hysterie. In den beiden oben geschilderten Szenarien steckt der gleiche Denkfehler wie in den bunten Zukunftsbildern aus den 50er Jahren, auf denen wir im Jahr 2000 in atombetriebenen Flugautos herumkurven. Man beobachtet eine Entwicklung, verlängert sie in die Zukunft und gerät in in Panik. Das ist so, als säße ich auf dem Beifahrersitz eines Autos, das an der Ampel losfährt, würde den Tacho beobachten und sagen: Verdammt, jetzt haben wir schon in sieben Sekunden von null auf fünfzig beschleunigt, wenn das so weitergeht, werden wir demnächst die Schallmauer durchbrechen, da sollte ich jetzt besser mal dem Fahrer laut schreiend ins Steuer greifen und den Wagen gegen die nächste Wand lenken.

Und zum anderen: Alle reden immer nur von den anderen. Niemand redet von sich selber. Aber wenn man herausfinden will, wie Menschen funktionieren, ist es meistens genau die richtige Strategie, von sich auf andere zu schließen. Diese Lücke würde ich also gern schließen und ein wenig von mir selber reden. Ich werde dann zur Antwort bekommen: Du bist da aber ein Ausnahme. Und ich werde erwidern: Nein, ich bin keine Ausnahme.
Hier also mein Leben als Produzent und Konsument urheberrechtlich geschützter Werke. Ich gehe davon aus, daß es den meisten anderen ungefähr ähnlich geht. Und hinterher will ich wissen, was von der Hysterie übrig bleibt.

Bis zum zwanzigsten Geburtstag las ich eigentlich nur Bücher. Die meisten davon aus öffentlichen Bibliotheken. Ab und zu holte man sich einen Film aus der Videothek. Alle paar Monate kaufte man bei Drogerie Müller eine CD aus dem „Independent“-Regal.

Die Jahre zwischen 20 und 24 verbrachte ich dann mit untergeordneten Tätigkeiten am Filmset sowie der Arbeit an einem Musikprojekt, das nie an die Öffentlichkeit gelangte. Ich hatte diverse Gedichte von Michael Ende vertont, die Lieder finde ich bis heute recht schön, öffentliche Aufführungen waren aber aufgrund der Textrechte immer nicht ganz einfach, und als irgendwann die eine oder andere Plattenfirma sich dafür interessierte, wurde es richtig kompliziert und verlief dann irgendwie im Sande.

Später, als ich dann auf der Filmhochschule war, arbeitete ich eine Zeit lang nebenher für eine Musikvideofirma. Wir bekamen von den großen Plattenfirmen neue Songs, das meiste war schlimmer Kaugummiplastikpop und stammte von Bands oder „Projekten“, von denen man noch nie gehört hatte und von denen man auch nie wieder hören sollte. In Jargon der Plattenfirmen waren das aber „Newcomer“, in die man jetzt erheblichen finanziellen Aufwand steckte, ihnen ein Video für damals noch durchschnittlich 20-40.000€ drehte, das dann auf „MTViva“ laufen sollte, damit die „Kids“ das gut finden und die dazugehörige Single und am besten auch das Album erwerben konnten. Nur wenige der gedrehten Videos wurden dann auch wirklich gesendet, aber schon vorher wurden jeweils nur wenige Videoideen von den Plattenfirmen zur Verfilmung ausgewählt – ich schrieb im Lauf der Jahre an die zweihundert davon, verfilmt wurden nur zwei, die ich dann aber aufgrund meiner eigenen Position als Newcomer nicht selbst verfilmen durfte, sondern in „Co-Regie“ mit einer erfahrenen Kraft, was bedeutete, daß ich danebenstand, während jemand anders die Ansagen machte. Die Konzepteschreiberei war natürlich unbezahlt. Ich war in dieser Zeit irgendwie nicht so gut auf die Musikindustrie zu sprechen und kaufte kaum Musik. Über unseren langsamen ISDN-Anschluß lud ich aber auf Verdacht allerhand herunter, das meiste war nicht so interessant, einiges haute mich um und führte zum Erwerb einer CD sowie darauffolgendem Konzertbesuch.

Die erste Musikvideofirma ging Ende 2002 pleite, aus den Trümmern formierte sich eine neue, dort arbeitete ich eine Zeitlang als Regieassistent. Die Videos sahen typischerweise so aus, daß die Band in einer coolen Industrieumgebung spielte, während parallel dazu ein gutaussehendes Mädchen diverse Abenteuer erlebte. Ich lernte dabei eine ganze Menge, kam an erstaunliche Orte und hörte irgendwann auf, als ich keine Lust mehr hatte, mich am Set anschnauzen zu lassen und außerdem klar war, daß die Firma wirklich keinerlei Interesse an hauseigenem Regienachwuchs hatte.

2006 lernte ich ein Mädchen kennen, das Platten auflegte und nichts als Musik im Kopf hatte. Ich betrat eine neue Welt. Auf einmal war alles voller Bands, die kein Schwein kannte und die wundervolle Musik machten, aus Blogs, auf denen man jede neue Platte herunterladen konnte, und daß man sie sich bei Gefallen dann auch kaufte, war eh klar. Mein Musikkonsum schnellte in die Höhe, ich lud mehr herunter, als ich anhören konnte, kaufte Tonträger, hatte auf einmal zahlreiche neue Lieblingsbands, ging auf Konzerte, legte mir einen Plattenspieler zu, wühlte in Plattenläden herum, wir gründeten mit einem dritten Freund eine Musikzeitschrift, die nur eine Ausgabe erlebte, und veranstalteten gemeinsame DJ-Abende, auf denen wir nur Sachen spielten, die wir selber toll fanden – und erstaunlicherweise fanden sämtliche Anwesenden, vom Schüler bis zum Professor, unsere Musik auch toll.

Im selben Zeitraum arbeitete ich am Drehbuch für meinen zweiten Langfilm. Den ersten hatte ich mit sehr wenig Geld an der Hochschule gemacht, er wurde dann später für einen fünfstelligen Betrag ans Fernsehen verkauft. Das Geld ging komplett an die Hochschule und an die Koproduktionsfirma. Bei den Schauspielern und dem Team landete nichts. Beim zweiten Film hatte ich einen besseren Deal erwischt und konnte es nicht fassen: Ich wurde zum ersten Mal im Leben nennenswert bezahlt. Wenn man sein Glück nicht fassen kann, daß man für das, was man da tut, auch noch Geld kriegt, ist man ja angeblich im richtigen Job gelandet. Wobei andererseits das Schreiben von Drehbüchern mit dem Begriff „Arbeit“ ja durchaus ganz gut beschrieben ist. Ein Spaziergang ist es nämlich nicht.

Was beim Filmemachen aber immer wieder wahnsinnig nervt, ist das Copyright, das auf jedem Furz drauf ist. Ständig muß man virtuelle Zeitungen, Zigaretten- und Biermarken erfinden (okay, das liegt eher an der Angst der deutschen Sender vor Product-Placement-Vorwürfen), Klingeltöne sind vermintes Gelände, jedes Bild, das irgendwo an der Wand hängt, ist ein potentielles Problem, man darf nicht „Happy Birthday“ singen, das Radio muß um Gottes Willen aus sein. Ich habe insgesamt schon den Eindruck, daß die Alltagswelt, in der wir leben und die wir ja im Film verdammtnochmal zeigen wollen, immer mehr aus urheberrechtlich geschützten Dingen besteht.

Über all die Jahre habe ich übrigens kaum Filme gekauft. Auf DVD nicht, weil die Auflösung im Vergleich zu Kino immer noch ein Witz ist. Auf Bluray auch nicht, weil ich keinen Sinn darin sehe, einen Film, den ich mir höchstwahrscheinlich nur einmal ansehe, mir für Jahrzehnte ins Regal zu stellen. Ich besitze also nur einige wenige heißgeliebte Lieblingsfilme. Bei Büchern ist es übrigens ähnlich. Zu Studienzeiten holte man sich Filme ohnehin aus der HFF-Bibliothek, einige davon habe ich auch kopiert, was mit einigem Aufwand verbunden war, von den kopierten und gebrannten Filmen von damals schlummert aber sicherlich die Hälfte immer noch ungesehen in irgendwelchen Schachteln. Filme schaue ich mir am liebsten im Kino an. Auf der Berlinale früher gern auch fünf am Tag, heute nicht mehr so sehr, die Kapazität für betont sperriges Kunstkino hat im Lauf der Jahre angesichts mangelnder Überraschungen etwas nachgelassen, ach Quatsch, ich fand langweilige Filme noch nie toll. Musik lade ich weiterhin gern herunter, bei iTunes und Amazon und von den Künstlern direkt, aber auch von irgendwelchen Blogs. Platten werden auch weiter gekauft. Bücher ebenso. Es gibt ein Buch, das ich im Lauf des letzten halben Jahres mindestens zehnmal verschenkt habe. Zur Videothek gehe ich fast nie. Zu umständlich, wenn man abends um 22h30 beschließt, noch einen Film zu gucken, und dann muß irgendjemand das Ding auch noch zurückbringen. Gäbe es einen gut sortierten Video-On-Demand-Streamingdienst, ich wäre mit Begeisterung dabei. Ach, den gibt es schon? Stimmt, iTunes. Kürzlich kamen wir auf die Idee, man könnte sich den Klassiker „Täglich grüßt das Murmeltier“ ansehen. Den gibt es bei iTunes – zum Kaufen, für 7,99€. Ich glaube, das kann man noch besser machen.

Seit gut einem Jahr drehe ich auch wieder Musikvideos. Fast alle für eine kleine, sympathische Plattenfirma in Hamburg. Viel Geld ist da nie im Spiel, aber man hat mit extrem angenehmen Menschen zu tun, alle lieben ihren Job, es macht Spaß, und ich bin der Überzeugung, daß es am Ende für irgendwas gut ist. Meinen Lebensunterhalt bestreite ich mit Drehbüchern und Regie für Spielfilme. Reich bin ich dadurch bisher nicht geworden, aber das war auch nicht das Ziel, wobei ich andererseits überhaupt nichts gegen Reichtum einzuwenden hätte, falls er sich mal einstellen sollte.

So weit also mein summarischer Kulturlebenslauf. Was lernen wir daraus?

-Hätte Michael Ende seine Gedichte unter einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht, dann hätten wir unsere Lieder damals ungestört überall aufführen können, auf dieser Basis hätten wir uns eine gewisse Bekanntheit erarbeitet, dann hätten wir eine Platte gemacht und für selbige natürlich ganz klassisch die Rechte geklärt. Niemandem wäre etwas weggenommen worden, die Welt wäre immerhin um eine (vermutlich folgenlose) CD reicher.

-Das System aus Majorlabels und ihren gecasteten Horrorgestaltenbands, die dann an die Wand geworfen wurden und meistens geräuschlos herunterfielen, soll meinetwegen zur Hölle fahren. MTViva sind ja schon dort, die Majorlabels sind für mein subjektives Gefühl auch immer egaler geworden. Mittlerweile scheint ihnen aber selber aufgefallen zu sein, daß man auch mit Substanz Platten verkaufen kann, und sie versuchen wieder etwas seriöser zu wirken. 

-Wenn ich meinen Konsumenten-Lebenslauf anschaue, dann habe ich über die Jahre schon einiges für kulturelle Produkte ausgegeben, aber keine Unsummen. Wohnung, Essen und Kleinkram waren teurer. Selbst mein Freund Ralph, der ca. vier Tonnen Schallplatten in seiner Wohnung hortet, gibt schätzungsweise immer noch mehr für die Krankenkasse aus als für Vinyl.

-Der Schlüssel zum Habenwollen ist, schlicht und ergreifend: Liebe. Auf dem Haldern Pop Festival hörte ich 2006 eine Band namens Guillemots. Noch nie vorher hatte ich solche Musik gehört. Gegen ihre Songs klang alles andere wie einfallsloses Gedudel. Ich kaufte, kopierte, überspielte, bestellte, holte mir alles, was ich von ihnen kriegen konnte. (Für meinen neuen Film habe ich fast nur Musik von dieser Band verwendet – von Produktionsseite fließt da jetzt Geld, aber das kriegt leider nur die Plattenfirma, weil die Band denen noch was schuldet). Wenn ein Buch, ein Film oder ein Lied mich wirklich berührt, dann berührt es eine ganz andere Abteilung in meinem Kopf als die Finanzverwaltung. Und das ist auch das Geschäftsmodell der Indie-Labels, deren Musik ja das vergangene Jahrzehnt maßgeblich geprägt hat. Die machen Musik, die von Leuten wirklich geliebt wird. Das bewegt sich finanziell immer auf dünnem Eis, aber irgendwie funktioniert es dann doch. Ich empfinde die Musiklandschaft jedenfalls heute als deutlich reichhaltiger und interessanter als vor zehn oder zwanzig Jahren.

Und um hiermit die eingangs geäußerte Behauptung zu wiederholen: Ich behaupte, daß die meisten Menschen da ziemlich ähnlich funktionieren wie ich. Wenn wir etwas lieben, wollen wir es haben – oder noch besser: Daran teilhaben. Indem wir ins Kino gehen oder ein Konzert besuchen oder ein Buch überallhin mitschleppen. Der ganze Rest ist Hintergrundrauschen, läuft im Radio, steht zufällig im Regal, liegt auf irgendeiner Festplatte herum. Und jetzt kommt bitte nicht an und erzählt mir: Da bist du aber eine Ausnahme, irgendwelche pickligen Jugendlichen laden nämlich längst schon alles herunter und furzen ihrer Lieblingsband dann noch hohnlachend ins Gesicht. Klar, es gibt alles, irgendwie, irgendwo. Aber Extreme sind Extreme, normal ist normal, und ich bin keine Ausnahme.

Denn das ist doch der Unterschied zwischen unserer Arbeit und dem Herstellen eines Tisches. Der Tischler steckt garantiert genausoviel Liebe in seinen Tisch wie ich in ein Drehbuch – aber der Kunde liebt ein Lied mehr als einen Tisch. Deswegen wollen ja so viele Leute was mit Medien machen. Dafür gibt es andererseits eher wenig Geld für verdammt viel Arbeit. Und – Achtung, Knackpunkt – niemand garantiert dir, daß die Liebe, die du in deine Arbeit steckst, am Ende vom Publikum erwidert wird. Du kannst all dein Herzblut in deine Arbeit gießen, und am Ende kann trotzdem Schrott herauskommen. Das ist dein Risiko als Künstler. Augen auf bei der Berufswahl. Du gehst allein in einen dunklen Wald, du singst dabei lauthals ein Lied, und du kannst nur hoffen, daß in dem dunklen Wald Leute wohnen, die dein Lied lieben werden. Und dabei kann auch ein Download ein Liebesbeweis sein. Es gibt nämlich zwei Sorten von illegalen Kopien. Die Liebeskopie, die oft später in einen Kaufakt mündet, und die mir-doch-egal-Kopie, die zu Datenleichen auf der Festplatte führt. Erstere kann ein wirtschaftlicher Schaden für den Künstler sein, kann sich auf lange Sicht aber auch lohnen. Letztere ist kein Schaden, denn der Kopist hätte das Werk ja so oder so nicht gekauft.

Wenn die Piratenpartei nun Schutzfristen verkürzen will – meinetwegen. Ich fände es völlig okay, wenn meine Werke mit meinem Tod ans Universum zurückfallen würden. Da habe ich sie ja schließlich auch her. Es sei denn, ich hätte Frau und Kinder und würde mit 40 den Löffel abgeben, dann könnte man ja den 80. Geburtstag oder sowas nehmen. Die Argumentation, daß man bei jeglichem Schaffen ja ohnehin in erheblichem Maß auf vorbestehendes Material zurückgreifen würde und deswegen das Urheberrecht Blödsinn ist, die ist allerdings, das muß auch mal gesagt werden, tolldreister Quatsch. Genausogut könnte ich einen Architekten nicht bezahlen, weil sein Haus aussieht wie ein Haus. Ein Einfall ist immer ein irrationales, irgendwie gnädiges Ereignis, deswegen heißt er ja Einfall, aber vor und nach dem Einfall liegt ein Ding namens Arbeit.

Wenn ich mich ansonsten in der tobenden Schlacht positionieren soll, dann würde ich erstmal sagen: Regt euch ab, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Filesharing ist mittlerweile eine riskante Sportart, Kino.to und Megaupload sind tot, andere werden folgen. Künstler haben eine lebhafte Phantasie, und Nerds neigen ohnehin zur Paranoia, daher die Hysterie auf beiden Seiten der Debatte. Chillt mal drauf. Kommt runter. Und dann würde ich mir erneut meine gesammelte Lebenserfahrung nochmal angucken und dabei relativ schnell feststellen, daß ich mit vielen Leuten, Firmen und Instanzen zu tun hatte, einige waren cool, andere uncool, aber nur die große Musikindustrie hat Verhaltensweisen an den Tag gelegt, wie ich sie eher von einem betrunkenen Dreijährigen erwarten würde. Menschen verhalten sich meistens ähnlich, nämlich menschlich, also ungefähr so wie ich. Firmen verhalten sich jedoch gern auch mal wie Psychopathen. Ich habe also den leisen Verdacht, daß es für Kunst und Kultur gut sein könnte, wenn einige Dinge sich ganz vorsichtig ein wenig in die Richtung verschieben, wie sie von Netzaktivisten gefordert wird – kürzere Fristen, mehr Freiheiten. Und dabei geht es nicht um die unrealistischen Maximalforderungen, die man in die Debatte hinaustrompetet, sondern um kleine, vorsichtige Schritte. Und dann könnte ich vielleicht in meinem nächsten Film auch ein Nokia-Handy mit dem Nokia-Ton klingeln lassen.

Malte Welding sieht das ähnlich, hat sich aber kürzer gefaßt als ich.

Das Schlußwort möchte ich zwei mit mir befreundeten Drehbuchautoren überlassen, die auch hin und wieder mal Tatorte schreiben und deren Namen ich in der Unterzeichnerliste des offenen Briefs nicht fand. Ich schrieb ihnen und fragte sie, warum sie da nicht stehen. Der eine schrieb zurück:

Ich stehe schon deshalb nicht auf der Liste, weil ich nicht gefragt wurde. Ich hätte mich aber auch schwer getan, ausgerechnet als Tatort-Autor, der von Gebühren bezahlt wird, die auch von Menschen entrichtet werden müssen, die gar keinen Tatort gucken wollen, in diesem Ton zu lamentieren.

Der andere gab kurz und bündig zur Antwort:

bin kein tatort autor.

(Nachtrag:  Gratuliere, Sie haben bis zum Ende gelesen und festgestellt, was ich hiermit selber zugebe – der Titel dieses Textes ist zu 73% irreführend. Aber er ist provokant, ich verspreche mir davon  Aufmerksamkeit und vielleicht die eine oder andere autorisierte oder unautorisierte Kopie. So läuft’s Business. Und wenn ich dann so bekannt bin, daß das Publikum denkt: Der hat genug verdient, dem seinen Kram darf man sich aus dem Netz saugen, dann kann ich immer noch überlegen, wie ich meinen Bekanntheitsgrad wieder reduziere.)

(Nachtrag 2: Ich folge hiermit dem Hinweis eines Kommentators und verleihe diesem Text feierlich eine Creative Commons Lizenz namens CC-BY 3.0. Jeder darf damit machen, was er will, sofern er auf das dahinterstehende Originalgenie, also mich, verweist. Gern geschehen.)

(Nachtrag 3: Danke für die zahlreichen Kommentare, die überwiegende Zustimmung und vor allem für den zivilisierten Tonfall, in dem sämtliche Ansichten geäußert wurden. Schön zu sehen, daß man freundlich in den Wald hineinrufen kann und es freundlich zurückschallt, das habe ich in den Kommentaren schon so ähnlich gesagt und wiederhole es hiermit. Eine gekürzte und leicht geänderte Version dieses Textes wird am Samstag 7.4. im Tagesspiegel erscheinen, darin habe ich auch versucht, auf einige Dinge einzugehen, die sich in den Kommentaren ergeben haben, was aber nicht ganz einfach ist, wenn man aus 17000 Zeichen 8000 machen muß. Ich werde Samstag nicht in der Stadt sein, vielleicht mag mir ja jemand ein Exemplar sichern.)

 

Die freudlose Masse.

Verehrtes Publikum!
Haben Sie eigentlich schon den zahlreich oscarnominierten Film „The Artist“ gesehen?
Wenn ja: Wußten Sie, daß die innovative Form dieses Films, schwarzweiß und keine Dialoge, keineswegs neu ist, sondern im Gegenteil sehr alt?
Wenn ja: Fühlen Sie sich von dieser Frage ein wenig auf den Arm genommen und für dumm verkauft?
Wenn ja: Finden Sie auch, daß die da oben uns alle auf den Arm nehmen und für dumm verkaufen?
Wenn ja: Wußten Sie, daß es schon mal eine Zeit gab, in der es vielen Menschen genauso ging?
Wenn ja: Ist Ihnen schon mal aufgefallen, daß die Wiederkehr der Wirtschaftskrise mit der Wiederkehr des Stummfilms einhergeht?
Ja?
Okay.
Und jetzt wollen Sie wissen, was das alles miteinander zu tun hat?
Wissen wir auch nicht.
Aber wir wollen es gemeinsam herausfinden und laden daher ein:
DIE FREUDLOSE MASSE.
Der Stummfilmabend zur großen Krise. Nächsten Donnerstag, 1.3.2012, 21h im Deutschen Theater, Berlin.

Echo

Mein Super-8-Video für Thees Uhlmann ist doch tatsächlich für den ECHO nominiert. Wer hätte das gedacht. Hier kann man abstimmen.

Krisenbiographie.

Ich wurde 1976 geboren. Ich war gerade drei Monate alt, da passierte in Seveso die Dioxin-Katastrophe. Sie wurde zum Symbol für das vorherrschende Lebensgefühl dieser Zeit: Angst. Man hatte hauptsächlich Angst vor zwei Dingen, nämlich vor Umweltzerstörung und vor Atomwaffen. In dieser Stimmung wuchs ich auf. Meine Eltern waren weder besonders umwelt- noch irgendwie friedensbewegt, trotzdem war klar, daß bald alles zu Ende sein würde. Je nachdem, ob man eher rechts oder eher links stand, waren es die Amerikaner oder die Russen, die uns demnächst die Lichter ausblasen würden, und falls das wider Erwarten doch nicht passieren sollte, waren Konservative und Progressive sich einig, daß der Mensch stirbt, wenn der Wald stirbt, und der Wald starb ja zweifellos.

So vergingen die Achtziger. Mit Challenger und Tschernobyl gab es im Westen und im Osten jeweils einen großen Knall, der uns eindringlich vor Augen führte, daß der Weltuntergang eigentlich schon so gut wie da war. Schuld war einerseits die Blindheit der Menschheit, die lieber ins All fliegt, als zuhause ihre Probleme zu lösen, andererseits die haarsträubende Schlamperei des Russen in seinem maroden Atomkraftwerk.

Dann ging ich eines Montagmorgens zur Schule und las an den Zeitungsläden die Bild-Schlagzeile: Guten Morgen, Deutschland! Es war ein schönes Wochenende. Die Mauer war weg, alle freuten sich, allerdings nicht sehr lang, denn schnell war klar, daß unser Staat drauf und dran war, eine bankrotte Bananenrepublik aufzukaufen, und daß das nicht gutgehen konnte, war genauso klar. Bevor man darüber so richtig depressiv werden konnte, kam der erste Irakkrieg, Saddam Hussein war nach allgemeiner Auffassung der zweite Hitler, in Washington regierte der erste George Bush, und wir standen an der Schwelle des dritten Weltkrieges. Wenn vielleicht doch nicht im Irak, dann würde er halt in Jugoslawien seinen Ausgang nehmen. Der Jugoslawienkrieg zog sich wie ein diffuses Grundrauschen durch die ganzen 90er Jahre. Man verstand nie genau, was da eigentlich schief ging, aber es ging katastrophal schief, zehn Jahre lang, direkt vor unserer Haustür. Völker, die jahrzehntelang friedlich nebeneinander gelebt hatten, gingen plötzlich aufeinander los. War das keine Warnung für uns, die wir in unseren neuerdings 16 Bundesländern so friedlich nebeneinander lebten? Na klar, es ging ja schon los, in Hoyerswerda und Solingen und Mölln und Rostock. Also gingen wir auf die Straße und formierten uns zu Lichterketten, falls wir uns die Lichter noch leisten konnten, denn 1993/94 ging ein trübes Schreckgespenst namens Rezession durch Deutschland. Mit der Wirtschaft ging es bergab. Daimler machte Kurzarbeit. Das war der Anfang vom Ende. Hätte man sich aber denken können nach den Lasten der Wiedervereinigung. Schon bald würden wir in Lumpen durch die Straßen ziehen, nach essbaren Abfällen suchen und Ratten jagen, um sie zu schlachten und zu braten.

Die Rezession verschwand irgendwie wieder aus den Nachrichten, danach muß es so eine Art Aufschwung gegeben haben, aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß mir irgendjemand etwas davon gesagt hätte. In den Nachrichten kamen immer nur schlechte Nachrichten. Der Anarcho-Chaot von Frankfurt wurde Außenminister, das war für die letzten drei überlebenden Wertkonservativen der Moment der endgültigen Verbitterung, und dann war seine erste Amtshandlung der Kosovokrieg, woraufhin die altgedienten Alternativen sich ebenfalls verbitterten. Ein Ding namens Dotcom-Blase platzte, zum Glück hatte ich mein Geld da nicht angelegt, ich hatte gar kein Geld, weil ja ständig Krise war. Und als dann die Flugzeuge in die Hochhäuser flogen, brach das ganze 20. Jahrhundert mit Getöse in sich zusammen, Nordturm und Südturm und Westblock und Ostblock, alles kaputt. Und das war etwas Neues. Es war nicht einfach die übliche Dauerkrise ˗ diesmal war es wirklich der Anfang vom Ende. Die ganzen nächsten Jahre wurde nur noch gejammert. Die Leute hatten graue Gesichter, sprachen nur im Flüsterton von der Zukunft, gingen gebückt und kraftlos ihrem Tagwerk nach und zitterten vor Angst. Der Krieg in Afghanistan und im Irak war da auch nur ein Symptom. Es war schrecklich. Wir würden alle sterben.

Nebenbei geschah noch etwas anderes, Erstaunliches: Die Umweltzerstörung, Hauptkrise meiner Kindheit, feierte ein Comeback. Was mir und jedem aufgeklärten Greenpeace-Magazin-Leser schon immer total klar gewesen war ˗ das Abschmelzen der Polkappen, Treibhauseffekt, Ozonloch ˗ all das war plötzlich wieder da, mehr noch, es war plötzlich Mainstream, so wie eine coole Band aus der Jugend, die sich irgendwann aufgelöst hat und jetzt plötzlich wieder da ist und mit neuem Bassisten wieder auf Tour geht und auf einmal die ganz großen Massen begeistert. Die Erderwärmung machte ungefähr so eine Karriere wie die Ärzte.

Wenigstens die wirtschaftliche Düsternis lichtete sich allmählich. Zum ersten Mal in meinem Leben standen positive, freundliche Dinge in der Zeitung: Aufschwung. Wachstum. Aber mir war klar, daß das nicht lange halten würde. Die Krise würde wiederkommen.

Na klar. Sie ist wieder da. Und sie ist wie immer schlimmer als je zuvor. Diesmal wird die Welt zusammenbrechen. Die Anfänge werden wir noch aus den Nachrichten erfahren, dann werden die Bildschirme dunkel bleiben, bald darauf wird der Strom ausfallen, allgemeines Chaos wird ausbrechen. Wer eine Wohnung mit Ofenheizung hat, wird sich glücklich schätzen, denn uns steht ein langer, harter Winter bevor. Wir werden in Lumpensammlerkolonnen durch die Straßen ziehen, wie schon damals in der Rezession von 93/94. Am Himmel werden seltsame Zeichen erscheinen, ab und zu wird irgendwo eine unserer überzüchteten Maschinen mangels Wartung explodieren, zum Beispiel eins der vielen aufgelasssenen Atomkraftwerke. Wer sich nicht anpassen kann, wird zugrunde gehen, und unsere Kinder werden in einer Welt aufwachsen, in der unsere technische Zivilisation nur noch eine ferne Erinnerung ist. Sie werden Büffel jagen und neue Götter anbeten.

Es gibt eine sogenannte Weltuntergangsuhr, auf der Wissenschaftler darstellten, wie nah die Menschheit am Abgrund steht. Manchmal stand diese Uhr auf 11:53, aber dann bauten beispielsweise die Pakistanis ein neues Atomkraftwerk, woraufhin die Uhr auf 11:57 vorgestellt wurde, und wenn das pakistanische Atomkraftwerk eine Zeit lang nicht in die Luft gegangen war, wurde die Weltuntergangsuhr wieder zurückgestellt auf 11:55. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch war es also meistens fünf vor zwölf. Und trotzdem wurde es nie Mitternacht.
Klar, daß mir die Uhr irgendwann egal war.

Daß man gegenüber permanenter Panik schnell abstumpft, ist nachvollziehbar ˗ aber ist es auch richtig? Sind wir tatsächlich wie der Mann, der aus einem Hochhaus fällt und sich bei jedem Stockwerk sagt: Bis hierher ging ja alles gut? Ist unsere Zivilisation so aufgebläht, daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie platzt? Oder ist das ganze Leben ein freier Fall, und der Aufprall erfolgt nicht kollektiv, sondern nur individuell, zum Zeitpunkt des jeweiligen Ablebens?

Seit ich mich erinnern kann, ist Krise. Sie war schon immer da. Sie wird uns nie verlassen.
Das Leben geht bekanntlich weiter, aber das bedeutet nur, daß auch die Krise weitergeht. Wir werden immer am Abgrund leben, wir werden nie hineinfallen, aber falls wir eines Tages doch hineinfallen, werden wir alle zugleich ausrufen, daß wir genau wußten, daß es bald so kommen würde.

Dieser Text entstand Ende 2008, am Anfang der großen Krise, und wird hier zweitverwertet, weil immer noch Krise ist, wovon der Text ja schließlich auch handelt.

Bisher

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